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Unterwegs - eine poetische Rede über Europa

Zsuzsanna Gahse ist in Budapest geboren und lebt in der Schweiz. Ihr "Südsudelbuch" versammelt literarische Erkundungen des Reisens. Sie beschreibt Menschen, Orte, Sprachen, Erfahrungen und taucht ein in unterschiedliche Räume und Zeiten.

Von Sabine Peters | 21.01.2013
    "Alle sind unterwegs", sagt die Erzählerin im neuen Buch von Zsuzsanna Gahse, und dieses "alle" kann man sich gar nicht umfassend genug vorstellen: Jeder einzelne Mensch befindet sich auf seiner Reise durch das Leben; aber auch Sprachen und Gebräuche wandern, Wolken und Tiere sowieso, und natürlich sind auch Sagen und Geschichten ständig unterwegs.

    Zsuzsanna Gahses Ich-Erzählerin ist eine Reisephilosophin, und in ihrer neuen Arbeit, dem "Südsudelbuch", reihen sich Erfahrungen und Reflexionen in leichter, assoziativer Folge aneinander. So schaut sie von der Schweiz aus über eine "Inflation von Bergen" hinüber in den Süden; der Blick reicht mühelos von Spanien bis nach Griechenland. Sie empfängt bei sich zu Hause Gäste aus verschiedenen Ländern, auch aus verschiedenen Jahrhunderten. Dann ist sie wieder selbst unterwegs und beobachtet alltägliche Phänomene der Gegenwart: Kleine, auf den ersten Blick oft unscheinbare Partikel, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt. Aber was ist schon "wirklich", "echt", gar "original"? Die Erzählerin und ein Freund, der aus Serbien kommende Reisefotograf Tokoll, sehen sich ihre Zeitgenossen gründlich an. Bei vielen wirken Mimik und Gesten seltsam künstlich und theatralisch – denn auch die Gesten wandern: Das bedeutsame Gefuchtel mit den Händen oder das "Die-Zähne-Zeigen" wird aus der Welt der Schauspieler im Fernseher in das alltägliche Leben übernommen.

    Alles ist unterwegs, alle sind unterwegs: Flugzeuge, Fliegen, Außenminister, Schmuggler, Geschäftsreisende, Wanderarbeiter, Urlauber, Flüchtlinge. Zsuzsanna Gahse selbst wurde 1946 in Budapest geboren; zehn Jahre später floh die Familie aus Ungarn nach Westen. Es folgten Jahre in Wien, Kassel und Stuttgart; in Luzern und Müllheim in der Schweiz.

    Schon in früheren Büchern zeigte sich die Autorin als hellhörige, spielerische und dabei formbewusste Sprachakrobatin, die mit konventionellen Storys wenig im Sinn hat. In Gahses Texten kann buchstäblich alles zum Material werden. Aber "Material", das ist bei ihr nicht gleichzusetzen mit Objekten, die man beliebig formen und herumschubsen kann. Die Lebewesen, Dinge und Phänomene haben ihr Eigenleben, das es zu achten gilt. Daher ist selbst die Sprache nicht lediglich Objekt, sondern bekommt die Würde des Subjekts zugesprochen: So trugen beispielsweise die Poetikvorlesungen von Zsuzsanna Gahse den freundlich-fragenden Titel "Wie geht es dem Text?" Es interessiert sie wenig, eine in sich geschlossene Handlung herzustellen. Das Schreiben selbst ist eine unabgeschlossene Bewegung; man könnte bei ihren Büchern vielleicht von einem "Durchgehen" sprechen, in der doppelten Bedeutung: Die Texte wollen zur anderen Seite, zu einem anderen Aspekt einer Person oder einer Sache gehen, aber sie wollen immer auch durchbrennen, fort, ungezügelt weiter. Alle sind unterwegs, sind flüchtig, schwer zu fassen.

    Der schwingende Titel des neuen Buchs "Südsudelbuch" weist auf den offenen, prozessualen Charakter von Gahses Arbeit hin: Hier geht es nicht darum, letzte heilige Schriften unverrückbar in Stein zu meißeln. Sudelbücher bieten viel mehr Platz für flüchtige Entwürfe. Und wer sudelt, schmiert herum, pfuscht und probiert. Dabei verrät es ein sympathisches Understatement, wenn Gahse ihre neue Arbeit mit diesem Ausdruck umschreibt. Denn was hier so beiläufig und wie aus dem Stegreif formuliert daherkommt, hat eine Präzision, eine Intensität und einen poetischen Schwung, der den Leser entzückt, und vielleicht auch ver-rückt.

    Alle sind unterwegs: Die Erzählerin wird in ihrer Funktion als schreibende "Berufsausländerin" zu diversen Lesungen eingeladen und fragt sich aufsässig, warum Ausländer als "Ohnelandleute", als "Keinländer" recht unbeliebt sind, während die schöne Literatur doch gern vom exotischen Fremden handeln soll. Gahse spöttelt über die "Einländer", von denen viele sich an ihren Stammbäumen festkrampfen, während andere, wie der Freund Tokoll, den eigenen Stammbaum lieber zersägen wollten, um nicht ständig als "Serbienplatzhalter" instrumentalisiert zu werden. Die Erzählerin streunt herum, sie lässt ihren Assoziationen freien Lauf. Im spanischen Toledo wurden zur Zeit der Antike die römischen Truppen mit Waffen versorgt; jahrhundertelang waren dort viele Sprachen zu Hause: Süd- und Nordspanisch, Arabisch, Hebräisch. Heute ist die Stadt ein "Mikrowellenort", und der auf Spanisch bestellte Kaffee wird auf Englisch serviert – die Sprachen wandern aus. Und das nicht nur in Spanien. Dabei werden natürlich auch überall neue Wörter gebräuchlich. Man nimmt sie in den Mund, probiert sie aus, horcht ihrem Klang nach, ihren Hebungen und Senkungen. Wer Sprache und Sprachen liebt, wie die Erzählerin, hat immer wieder Grund, sich aufzuregen über unser alltägliches Sprechen, über unsere Oberflächlichkeit. Was soll das, eine Lesung als "musikalisch" zu bezeichnen? Wo wären denn die Gemeinsamkeiten zwischen Jazz, Rap und etwa einem Seemannslied? Kurz darauf heißt es: "Wie viel Abneigung und Ungeduld in einem steckt."

    Und doch ist das "Südsudelbuch" alles andere als ein kulturpessimistisches Lamento. Dafür hat die Autorin auch zu viele Freunde unter den Schriftstellern aller Jahrhunderte, ob das nun Horaz, Miguel de Cervantes, Anton Tschechow oder Nathalie Sarraute sind, die durch ihr Buch geistern.

    Alle sind unterwegs: Das Südsudelbuch ist eine vielstimmige, poetische Rede über Europa, so wie es heute ist - und wie es noch viel besser sein könnte.

    Zsuzsanna Gahse: Südsudelbuch.
    Edition Korrespondenzen, 174 Seiten, 21 Euro