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Unterwegs in der Hölle

Das Muster ist altbekannt, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wiederholt es sich unablässig, zu jeder Minute an jedem Ort der Welt. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, leben miteinander, kommunizieren – und mißverstehen sich. Denn die Eigenart des Mannes will es, daß er Sätze spricht, deren simple Botschaft an der Oberfläche der Worte siedelt, die Eigenart der Frau, daß sie dieser Oberfläche mißtraut. Wo steckt der ihr zugewandte Gefühlsanteil der Äußerung, wenn nicht irgendwo unterhalb des fast technischen, jedenfalls ungeheuer pragmatischen Alltagscodes? Wenn man sich liebt, miteinander schläft und ohne Worte alles versteht – wieso kann man sich dann auf eine Mitteilungsebene beschränken, die das Wichtigste vernachlässigt, nämlich die zuverlässige Mitteilung des emotionalen Pegelstands? Tja, würde der Mann antworten, käme es zu einer so gearteten Debatte, das Wichtigste ist, daß wir jetzt etwas zu essen bekommen, ein schönes Hotelzimmer auftun, und daß die sexuelle Anziehung niemals endige. Weil er das mit Bestimmtheit sagt, verformen sich die unausgesprochenen Worte der Frau zum inneren Monolog, und der Mann betrachtet den Sachverhalt als geklärt.

Florian Felix Weyh |
    Genauso verhält es sich mit Nina und Leo. Schon die Tatsache, daß sie diesmal alleine nach Paris fliegen soll, er ihr das Ticket in einem Umschlag zusteckt, obwohl sonst er die Reiseunterlagen aufbewahrt, läßt Schlimmstes vermuten. Wochenlang wagt sie es nicht, ihn überhaupt zu fragen, ob er mitkäme auf eine Reise, die ohne ihn keinen Sinn macht, weil sie die Annehmlichkeiten ihres Berufs nur als Teil eines geübten Pärchen genießen kann. Nina und Leo testen Hotels und Gaststätten für ein amerikanisches Reiseblatt, dessen Chefredakteur Leo ist. Doch diesmal sieht es ganz anders aus, nichts mit rauschenden Liebesnächten in Pariser Luxushotels, sondern das schwarze Loch der Einsamkeit in einer fremden Stadt. Wohin man geht, was man besichtigt, wo man gut speist – all dies hat zuvor Leo organisiert, und Nina kostet den bitteren Geschmack der Selbstbestimmung. Unaufhörlich kreist in ihrem Kopf der Gedanke, dieses Solo-Ticket bedeute das Ende ihrer Liebe, Leo habe sie abgeschoben, ein Wink mit dem Zaunpfahl, sie solle sein Leben verlassen. Bis er, zwei Tage später, vollkommen verständnislos über ihre Aufgeregtheit, an die Tür des Hotelzimmers klopft. Ninas verfrühter Einzel-Trip verdankt sich der Tatsache, daß sonst ihre Bonusmeilen verfielen, eine geldwerte Überlegung, kein Anzeichen von Arglist.

    Überdetermination ist es, was die amerikanische Autorin Francine Prose ihre Heldin unentwegt betreiben läßt. Jedes Zeichen, jedes Signal aus der Umwelt wird auf die eigenen Situation angewandt, als umfasse das Band zwischen Leo und Nina ein morphogenetisches Feld, in dem jedes Detail zum Symbolkomplex ihrer Liebe gehört. In der Psychologie nennt man solche Persönlichkeiten neurotisch gestört, und Nina ist ein wahres Musterexemplar einer Stadtneurotikerin. Leider ein besonders nervtötendes, alle männlichen Vorurteile über weibliche Hinterfragungslust bestätigendes, und mit keinem Gran Selbstironie begabt. Nie war Woody Allen ferner als in dieser Erzählung einer New Yorkerin, die ihre Heldin im Befindlichkeitsrausch so furchtbar ernst nimmt, daß man dahinter ein ästhetisches Programm vermutet. In der Tat: Was Francine Prose ihre Figur machen läßt, betreibt sie als Autorin selber: gnadenlose Überdetermination. Um das Fahrwasser der amerikanischen Well-done-Prosa erst gar nicht zu kreuzen, hängt sie sich an die zeitgenössische europäische Literatur, in der vergrübelte Existenzen ja nicht gerade selten sind. Schwer erträglich wird das durch die ständige Einflechtung literarischen Referenzen, durch den aufdringlichen Symbolgehalt jeder zweiten Szene.

    Die andere, wesentlich kürzere Erzählung des Bandes, in der ein vom Durchfall geplagter amerikanischer Dramatiker auf einem tschechischen Kafka-Kongreß an die Grenzen seines Selbstwertgefühls geführt wird, stellt dieses literarische Verfahren noch unverhohlener aus. Hier will, und das ist schon ungewöhnlich für amerikanische Prosa, sich jemand in den europäischen Kanon einschreiben, doch Mimikry führt selten zu guter Literatur. Zu künstlich das Hantieren mit altbekannten Versatzstücken – von Kafka über Theresienstadt bis zum KZ-Überlebenden, der aus seinem Leid eine Profession gemacht hat –, zu kunstlos das Spiel mit Zitaten und Verweisen. Immer wieder drängen sich die Bildungsbelege der Autorin in den Vordergrund, müssen sich Figuren zu Büchern bekennen, um ihre Belesenheit zu dokumentieren. Geschichten dieser Art gibt es in der deutschen Literatur zuhauf, das muß man nicht aus Amerika re-importieren. Eines freilich stellt die Erzählung klar: Neurotische Selbstzerfleischung ist kein weibliches Privileg. Der Dramatiker Landau frönt ihr mit gleicher Intensität und ähnlichem Ergebnis wie Nina in Paris. Aber er ist ja auch von derselben Autorin erfunden worden.