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Unterwegs in Tibet

Vor 60 Jahren marschierten die chinesischen Truppen in Tibet ein, in der kommenden Woche ist der Jahrestag. Und mit dem Einmarsch der Truppen endete die Unabhängigkeit Tibets, die immerhin de facto seit 1913 - seit dem Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreiches - bestand.

Von Frank Hollmann | 02.10.2010
    Der Einmarsch der Chinesen: Die einen sprechen von brutaler Besetzung, die anderen von Befreiung einer theokratischen Herrschaft. Es ist schwer sich ein Bild zu machen, doch Frank Hollmann hat es auf einer politischen Reise versucht. Interviews verboten, Gucken erlaubt:


    Die Anweisung unserer Reiseleiterin ist unmissverständlich: Den Bahnhof dürfen Sie fotografieren, die Wachposten auf keinen Fall. Gerade ist die Tibetbahn in Lhasa eingefahren. Hunderte Reisende, zumeist Chinesen, strömen auf den weitläufigen Vorplatz, aber auch einige Tibeter und westliche Touristen wie meine Reisegefährten und ich, eine Gruppe des Deutschen Alpenvereins. Wir gehen vorbei an roten chinesischen Fahnen, uniformierten Kontrolleuren und unter ihren Helmen grimmig drein blickenden Soldaten. Alle paar Meter ein Doppelposten, die Waffe im Anschlag. So hatte sich Herger Fleischer unsere Ankunft nicht vorgestellt:

    "Diese massive Militärpräsenz, in diesem Maße hatte ich nicht erwartet. Wenn die plötzlich zu sechst über den Platz marschieren, mit Maschinenpistolen, im Gleichschritt. Das ist aus meiner Sicht reine Unterdrückungspolitik."

    Das Militär ist in Lhasa überall, an allen Ausfallstraßen, an allen Zufahrten zum Potala-Palast und rund um den Jokhang-Tempel, dort, wo im Vorfrühling der Olympischen Spiele 2008 die letzten tödlichen Unruhen ausbrachen. Was den Patrouillen im Trubel der Gassen entgeht, erspähen die Posten auf den Dächern oder die unzähligen Überwachungskameras.

    Gemeinsam mit zig anderen Gruppen drängen wir uns über die steilen Treppen des Potala, bestaunen die Räume der Dalai Lamas. Alle paar Meter murmelt ein rot gewandter Mönch ein Gebet. Echte Frömmigkeit oder nur Kulisse für uns zahlende Touristen?

    Vor dem Jokhang-Tempel stauen sich die Besucher an den Souvenirständen. Der Tourismus in Tibet blüht. Letztes Jahr bereisten mehr als fünfeinhalb Millionen das Hochplateau, zumeist Chinesen. Der Fremdenverkehr spielt in Pekings Entwicklungsplan eine zentrale Rolle. Premierminister Wen Jiabao zum Abschluss des letzten Volkskongresses im Frühjahr 2010:

    "Die Lage in Tibet ist friedlich und stabil. Die chinesische Verfassung und Tibets Gesetze garantieren Freiheit und Menschenrechte, insbesondere die Glaubensfreiheit. Der Staat hat große Anstrengungen unternommen, um die wirtschaftliche Entwicklung der Region zu beschleunigen und die Lebensbedingungen der Bauern und Nomaden zu verbessern. Der Frieden, die Stabilität und die Entwicklung in Tibet zeigen, dass unsere Politik richtig ist."

    Dafür investiert Peking Milliarden in die unwegsame Region – und kann dabei auf wirkliche Erfolge verweisen. Elend, Hunger, zerlumpte unterernährte Kinder, all das kann ich in Tibet nicht beobachten. Stattdessen haben selbst entlegene Dörfer winterfeste Häuser, Krankenstationen, Strom, Handynetz.

    Ein Beispiel: die Kleinstadt Nagchu. Auch sie wird von der Tibetbahn angefahren. In einer Senke am Horizont sind die Dächer der Kleinstadt zu erahnen – inmitten einer scheinbar menschenfeindlichen Hochebene, umrahmt von schneebedeckten Fünftausendern. Die Regierung hat offenbar Großes vor mit Nagchu. Ein Gleis führt zu zwei riesigen Containerkränen, daneben sind bereits die beleuchteten Straßen für ein Gewerbegebiet asphaltiert. Ein Trupp Bauarbeiter betoniert einen Bahnsteig.

    Noch wird kein Container verladen, noch ist keine Lagerhalle hochgezogen – noch nicht. Doch Peking entwickelt Tibet mit Macht, selbst in den letzten Winkeln.
    So auch in Zhangmu - ganz im Süden Tibets, Grenze zu Nepal.

    Für eine gute Infrastruktur ist bereits gesorgt. Eine kurvenreiche, aber perfekt asphaltierte Straße führt wagemutig vom tibetischen Hochland durch einen engen Canyon subtropischen Dschungels hinunter zur Zollstation. Auf einem Parkplatz warten rund 50 LKW-Fahrer auf Ladung, Kleidung, Schuhe, Elektrogeräte, Haushaltswaren – alles Made in China. Die Straße ist die Lebensader der Region, erzählt mir der nepalesische Fremdenführer Santosh Giri:

    "Es ist sehr wichtig. Es ist die einzige Straße nach Tibet. Wir haben auch gute Beziehungen zu Tibet, Geschäfte, Handel. Viele Touristen gehen über diese Straße nach Tibet."

    Zhangmu ist eine durch und durch chinesische Stadt, der Heldenfriedhof ehrt die kommunistischen Pioniere, die die Siedlung dem Dschungel abtrotzten. Tibeter sind hier eine Minderheit. Die wirtschaftliche Entwicklung gehe an den Ureinwohnern vorbei, kritisieren Tibetaktivisten in aller Welt, profitieren würden in erster Linie zugewanderte Hanchinesen. Wer nur tibetisch spreche, habe keine Chance auf einen vernünftig bezahlten Job. Zudem würde über die Köpfe der Tibeter hinweg entschieden.

    Seit Beginn der Öffnungspolitik Anfang der 80er-Jahre fördert Peking den Zuzug von Chinesen in den "Wilden Westen" der Volksrepublik. Lhasa und Shigatse, Tibets zwei größte Städte, haben längst ein chinesisches Gesicht. Ich spaziere vorbei an Einkaufszentren, Restaurants und Karaokebars, wie ich sie in jeder größeren Stadt der Volksrepublik schon gesehen habe. Lhasas Altstadt ist kaum noch auszumachen, restauriert wurden nur wenige ausgewählte Klöster und Burgen.

    In den tibetischen Klöstern, so erscheint es uns Reisenden, gibt es wieder tiefe Spiritualität. Vergessen scheinen die Schrecken der Kulturrevolution, als chinesische Soldaten Ende der 60er-Jahre tibetische Mönche wie Vieh durch die Klöster hetzten, Tempel verwüsteten, Kunstschätze verhökerten. Heute scheint die Vergangenheit überwunden, in manchen Klöstern leben mehrere Hundert Mönche, selbst Minderjährige dürfen wieder die rote Kutte tragen. Das sei phasenweise verboten gewesen, sagen Tibetaktivisten. Also alles harmonisch, wie von Peking verkündet? Vorsichtig frage ich einen Buddhisten in einem abgelegenen Kloster: "Wie viele Mönche leben hier?"

    Die Zahl nennt er mir noch, auf die Frage nach seinem Tagesablauf nur Schweigen. Stimmt es doch – wie mir Exiltibeter später in Kathmandu versichern – dass in allen Klöstern Spitzel sitzen? Verkleidet als Mönche? Klösterliches Leben nur ein potemkisches Dorf, errichtet für zahlende Touristen auf der Suche nach Shangri La, der friedlich-buddhistischen Idylle in einer der entlegensten Regionen der Welt?

    "Das alte Tibet verschwindet", sagt Lobsang. Ich treffe ihn in seinem kleinen Möbelladen an der großen Stupa, dem buddhistischen Heiligtum in Kathmandu, einem Zentrum der Exiltibeter in Nepal.

    In Tibet Einheimische zu interviewen, wäre zu riskant. Weniger für mich, sondern für meine Gesprächspartner. Lobsangs Vater kämpfte noch als junger Soldat in der Truppe des Dalai Lama 1959 gegen die einmarschierende Volksbefreiungsarmee, dann rettete er sich über die Grenze nach Nepal. Lobsangs Augen leuchten, als er erzählt. Er trägt ein T-Shirt, darauf ein Slogan, eine Aufforderung an Chinas Staats- und Parteichef: Mister Hu Jintao, sprechen Sie mit dem Dalai Lama. Dieses T-Shirt konnte Lobsang nicht tragen, als er 2008 Verwandte in der chinesischen Provinz Yunnan besuchte, einer Region im Südwesten Chinas, die einst zu Tibet gehörte:

    "Sie haben keine Freiheit, sie dürfen nicht frei sprechen. Ich war im Dorf meiner Tante, in jedem Haus hing ein Bild von Mao. Ich fragte, 'Warum?' Sie sagten: 'Weil wir heute unter chinesischer Herrschaft leben.' Sie dürfen kein Bild des Dalai Lama aufhängen. Wenn man es findet, werden sie bestraft. Ich habe meiner Tante und ihrer Familie immer wieder gesagt, 'Ihr dürft nie Tibet vergessen. Wir waren einmal ein unabhängiges Land, aber die Chinesen haben uns erobert und vertrieben. Vergesst nicht unser Land Tibet.' Meine Tante hat mich dann immer ermahnt. Sie sagte: 'Wir können über solche Dinge zuhause reden, aber niemals auf der Straße, hörst Du? Wenn Du das tust, wirst Du große Schwierigkeiten bekommen.'"