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Unterwelt

"Der Ball war tiefsepiabraun, hatte eine Patina von Schmutz und Gras und dem Schweiß von Generationen – er war alt, aufgequollen, verdellt und tabakbespritzt und befleckt von natürlichen Prozessen und den Lebensläufen dahinter, er war wetterbesudelt und hatte Charakter wie ein Haus an der See. Und am Firmenlogo von Spalding war er grün verschmiert, trug noch immer eine kleine grüne Wunde, wo er, wie seine Geschichte besagte, gegen eine Säule geknallt war – abgeblätterte Farbe vom Bolzen eines Stützpfeilers auf den Tribünen am linken Außenfeld, Farbe, die sich in die Oberfläche des Balls eingegraben hatte. Vierunddreißigtausendfünfhundert Dollar."

Florian Felix Weyh |
    Eine teure Reliquie, die Nick Shay ohne tieferen Grund bei einem Baseball-Memorabiliensammler ersteht. Seine Zeiten als praktizierender Fan liegen weit zurück, fast in einem anderen Leben, als er – Jugendlicher in der italienischen Bronx – sich nicht mal träumen ließ, je im gutsituierten Managermilieu von Phoenix, Arizona, zu landen. Vierunddreißigtausendfünfhundert Dollar sind selbst für einen Aufsteiger kein Pappenstil, zumal für einen Gegenstand, dessen Nutzwert gen Null tendiert und dessen auratische Aufladung eines festen Glaubens bedarf: Daß es sich nämlich bei ihm um den Baseball handelt, den gesuchten, einmaligen, historischen Ball, dessen ballistische Kurve von der Presse hymnisch als "Schuß, der um die Welt zu hören war" bejubelt wurde, an jenem 3. Oktober 1951, beim Spiel der New York Giants gegen die Brooklyn Dodgers. Der Ball landete im Seitenaus ... und hier beginnt die Legendenbildung. Cotter heißt bei Don DeLillo der Junge, der ihn findet, ihn aber nur bis zum Abend behält, als ihm sein Vater die Beute entwindet, um auf eigene Rechnung ein Geschäft daraus zu machen. Zweiunddreißig Dollar und ein paar Cents erlöst er am Tag nach dem Spiel für die gesuchte Trophäe – weit unter seinen Vorstellungen, aber immerhin mehr, als er für den Diebstahl zweier Schneeschippen bekommen hätte.

    So tritt die kleine Lederkugel, statt in den Müllbeuteln der Putzkolonnen zu verschwinden, erneut in den Warenkreislauf ein. "Mehrwertschöpfung" nennt sich das, was in den folgenden vierzig Jahren mit ihr geschieht: eine Vertausendfachung des Preises. Denn Handel schert sich nicht um Nutzen, es muß nur Nachfrage bestehen. Der Wert einer Sache hat mit dem Preis nichts zu tun, ja sogar eine unwerte Sache, ein Unding, kann unter bestimmten Konstellationen erfreuliche Profite abwerfen. Um es philosophisch auszudrücken: die Negation des Falls ist der Abfall, und Nick Shay handelt in seinem Managerleben mit Müll, dem einzigen Rohstoff, der sich in den nächsten Jahrhunderten nicht erschöpfen wird:
    "Die Jesuiten haben mir beigebracht,die Dinge auf Doppelbedeutungen und tiefere Zusammenhänge hin zu untersuchen. Dachten sie dabei an Müll? Wir waren Müllmanager, Müllriesen, wir verarbeiteten Universalmüll. Müll hat heute eine Aura des Feierlichen, einen Aspekt der Unberührbarkeit. Weiße Behälter mit Plutoniummüll, darauf gelbe Warnetiketten. Vorsicht! Selbst der schlichteste Hausmüll wird aufmerksam geprüft. Die Menschen betrachten ihren Abfall heute anders, sehen jede Flasche und jeden zerdrückten Karton im globalen Kontext."

    Natürlich: daß sich ein Müllmanager eines müllverwandten Gegenstand wie des verbrauchten Baseballs annimmt, folgt der Logik seiner Geschäfte, zunächst der ökonomischen, der Umwandlung von Abfall in Wertstoffe. Aber der religiöse Aspekt ist ungleich stärker: Was durch die Metamorphose des Gebrauchs gegangen ist, ohne dadurch zu verschwinden, beweist einen göttlichen Willen. Wir Menschen vermögen die Dinge, die uns umgeben, einfach nicht zu unterwerfen. Während Shay eines milden Müll-Skeptizismus huldigt, kommt sein Kollege Detwiler aus der Abfall-Guerilla der sechziger Jahre, die den Kapitalismus von seiner schwächsten Flanke her angriff, indem sie den Unrat prominenter Zeitgenossen sezierte und öffentlich ausstellte. Folgerichtig ist er ein flammender Prophet der Sichtbarkeit:

    "Die Szenerie der Zukunft. Irgendwann die einzige, die übrig ist. Je giftiger der Müll, desto größer Mühe und Kosten, die ein Tourist auf sich nehmen wird, um den Ort besichtigen zu können. Nur finde ich nicht, daß man diese Orte isolieren sollte. Den giftigsten Müll isolieren, das ja. Dadurch wird er großartiger, bedeutungsvoller, magischer. Aber gewöhnlicher Hausmüll sollte in den Städten, wo er entsteht, gelagert werden. Bringt den Müll an die Öffentlickeit. Die Leute sollen ihn sehen und respektieren. Versteckt eure Müllanlagen nicht. Baut eine Architektur des Mülls. Entwerft traumhafte Gebäude, um Müll zu recyceln, ladet die Leute ein, ihre eigenen Abfälle zu sammeln und an die Preßrampen und Förderbänder zu bringen. Lerne deinen Müll kennen. Und das heiße Zeug, die chemischen, die atomaren Abfälle werden zu einer fernen Landschaft der Nostalgie. Bustouren und Postkarten, jede Wette."

    Willkommen in Amerika, dem Land des schillernden Konsums, das noch immer für jeden Bewohner der zweiten und dritten Welt das schiere Paradies verkörpert. Alles ist herstellbar, alles käuflich, kein Bedürfnis, sei es noch so banal, das sich nicht in einer entsprechenden Ware niederschlüge: "Meine Wohnungsschlüssel trug ich in einem Fußtäschchen mit Klettverschluß. Ich lief nicht gerne mit klingelnden Schlüsseln in der Hosentasche. Das Fußtäschchen erfüllte einen Bedarf. Es richtete sich direkt an ein persönliches Anliegen. Es gab mir das Gefühl, als existierten in der Welt der Produktentwicklung und Vermarktung und Geschenkkatalogisierung Menschen, die das Wesen meiner kleinen, bohrenden Bedürfnisse verstanden."

    Nick Shay ist ein typischer Don-DeLillo-Held, ein unvergrübelter Selbstreflektierer, dessen Gedanken glasklar ausfallen, manchmal derart luzide, daß es der Begründung einer jesuitischen Schulung tatsächlich bedarf, die der pubertierende Nick nach einem Schußwaffenunfall in einer Besserungsanstalt erfuhr. Doch je tiefer man sich in Don DeLillos "Unterwelt" hineinliest, desto häufiger tauchen diese luziden Gedankenfiguren unabhängig vom Protagonisten auf. Das gesamte, weitgefächerte Personal ist intelligent. Menschen, die nichts unbedacht lassen, auch wenn sie sich auf ganz unterschiedlichen intellektuellen Ebenen bewegen; Don DeLillo hat die Position des auktorialen Erzählers auf eine brillante Weise modernisiert. Auf jeder Ebene des fast tausendseitigen Romans spielen sich solch beiläufige Schnappschüsse ab, etwa im Vortrag eines drittklassigen Südstaaten-Komikers auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise:

    "Gestern hat die Navy ein Schiff an der Quarantänelinie geentert. Das allererste geenterte Schiff. Bewaffneter Trupp an Bord gegangen. Wetten, das war heikel, Baby. Stellt sich raus, das Schiff hat keine Raketen dabei. Bloß Lkw Teile und Klopapier. Da ist es wieder, das Alltagsleben, das sich durchsetzen will. Das ist der geheime Sinn dieser Woche. Die geheime Geschichte, die niemals in den geschriebenen Berichten der Zeit oder den öffentlichen Verlautbarungen der Machthaber auftaucht." Da haben wir den roten Faden dieses nicht unkomplizierten Romans: Das Alltagsleben setzt sich gegen die Geschichte durch. Damit zäumt DeLillo das Pferd von hinten auf. Wo konventionelle Erzählmodelle auf biographische Methoden zurückgreifen, historische Ereignisse in individuelle Lebensläufe einmontieren, setzt dieser Autor sein Opus magnum aus Daten und Dingen zusammen – am liebsten natürlich aus Dingen, die Daten verkörpern. Jener kleine, ins Aus geschlagene Baseball markiert nicht nur die Niederlage der Dodgers gegen die Giants, sondern auch den Beginn des kalten Krieges. Exakt am 3. Oktober 1951 zündete die Sowjetunion ihre zweite Atombombe, und der "Schuß, der um die Welt zu hören war" bekam eine Doppelbedeutung.

    DeLillo treibt die Analogie noch weiter: "Marvin sagte: ‘Weil was an der ganzen Sache nämlich interessant ist, wenn eine Atombombe hergestellt wird, jetzt kommt's, dann ist der radioaktive Kern exakt genauso groß wie ein Baseball.’ ‘Ich dachte immer, wie eine Grapefruit.’ ‘Wie ein vorschriftsmäßiger Oberliga-Baseball, nicht unter dreiundzwanzig Zentimetern Umfang, so steht es in den Regeln.’" Vorstufe zur Verschwörungstheorie könnte man das nennen, ein Spezifikum aller Don-DeLillo-Romane: Das Undurchschaubare der amerikanischen Gesellschaft, ihre verborgenen politischen und ideologischen Kraftlinien, verleiten seine Figuren immer wieder zu grotesken Mutmaßungen. Doch damit befindet sich der Autor in guter literarischer Gesellschaft, denn Amerika zu erzählen, das Zivilsationskonstrukt, das die USA zusammenhält, auf seine Adhäsionskräfte hin zu untersuchen, heißt immer auch, seinen Anteil an religiöser und politischer Paranoia zu berücksichtigen. Für diesen im puritanischen Geist erschaffenen Staat ist die Annahme eines äußeren oder inneren Feindes lebenswichtig; das erklärt die Monica-Lewinsky-Hysterie ebenso wie den Golfkrieg. Und so basiert das mächtige "Unterwelt"-Epos auf einem dichotomen Prinzip: nie eins ohne das andere denken. Konsum nicht ohne Müll, Müll nicht ohne Handel. Die USA nicht ohne die Sowjetunion, J.Edgar Hoover – den FBI-Chef – nicht ohne linke Demonstranten. Nick Shay nicht ohne seinen Bruder Matthew, und dessen friedliche Begabung zum Schachspiel nicht ohne Umwidmung auf ein militärisches Projekt. Selbst die Kunst braucht den Krieg, denn ohne die ausrangierten B-52-Bomber in der Wüste von Arizona fehlten der Konzeptkünstlerin Klara Sax die entsprechenden, symbolisch aufgeladenen Objekte für ihr Bemalungswerk. Im Gegensatz zu zivilem Müll ist militärischer Schrott ein historischer Bedeutungsträger per se; ziviler Müll wird das erst nach Jahrhunderten, wenn sich die Archäologen darum streiten.

    In diesem Sinne wächst dem Roman eine philosophische Dimension zu, denn er verweist in jedem Moment auf die gegenseitige Bedingtheit von Menschen und Gegenständen, verweigert sich der Setzung absoluter Biographien, raubt aber damit zugleich den Lebensentwürfen des weitgefächerten Personals die Sicherheit des festen Bodens. Desorientiert sind sie alle, um so stärker, je klarer der Untergang des alten Feindes die eigene Identität ins Wanken bringt, und DeLillos diskontinuierliche Erzählweise verstärkt diesen Eindruck noch. Bereits in den frühen fünfziger Jahren weiß das Amerika dieses Autors nicht mehr so recht, wer es eigentlich ist, seine gesellschaftlichen Repräsentanten sind im äußeren Glauben fest, im Inneren aber tief verunsichert. Folgt man dem Subtext des Romans, so endeten am 3. Oktober 1951 jene Vereinigten Staaten, die aus dem Pioniergeist des 18. und 19. Jahrhunderts entstanden waren. Der Kalte Krieg mit seiner Abhängigkeit vom spiegelbildlichen Gegenüber bedeutete bereits den Verlust der Selbständigkeit, der in der elektronischen Globalisierung unserer Tage endgültig geworden ist. Daß der lautstärkste Hurra-Patriot dieses Jahrhunderts, Ronald Reagan, aus dem Reich des Fiktionalen kam, wundert an dieser Stelle schon nicht mehr, doch DeLillos Held hat noch Hoffnungen auf ein Leben jenseits des Scheins:

    "Ich war überzeugt, daß wir herausfinden konnten, was mit uns geschah. Wir wurden nicht von unserem eigenen Leben ausgeschlossen. Das ist nicht mein Kopf auf dem Körper eines anderen, auf dem Foto, das als Beweisstück vorgelegt wird. Ich glaubte nicht daran, daß Staaten im großen Maßstab Theater spielten. Ich lebte in der Wirklichkeit." Wenn es einen Autor gibt, der seit dreißig Jahren kontinuierlich Medien-Romane schreibt, so ist dies Don DeLillo; Romane also, in denen sich die Figuren nicht mehr an den psychologischen Vorgaben des 19. Jahrhunderts abarbeiten, sondern von medialen Impulsen verwirrt und gesteuert werden. Vielleicht liegt darin der Grund für ihren außerordentlich hohen Reflektionsgrad: Dinge, die etwas versenden, ausstrahlen, bebildern, sind eben keine bloßen Gegenstände, die sich bruchlos ins psychologische Weltbild einbinden lassen. Sie fordern emotionale wie intellektuelle Antworten. In der "Unterwelt" (der Titel paraphrasiert einen Gangsterfilm) kommt den Medien eine besondere Bedeutung zu. Wo das Skelett des Romans aus Dingen und Daten besteht, verkörpern Medien die ideale Synthese von beidem: Dinge, die Daten produzieren. Etwa ein Videoband:

    "Du kennst das ja, Familien und ihre Videokameras. Du weißt, wie sich Kinder begeistern, weil ihnen die Kamera zeigt, daß jeder Gegenstand potentiell aufgeladen ist, eine Million Dinge, die sie niemals mit bloßem Auge sehen würden. Sie erforschen die Bedeutung unbelebter Objekte und stummer Haustiere, und sie stochern in der familiären Intimsphäre herum. (...) Du weißt, wie Kinder mit Kameras lernen, die entlarvenden Momente zu benutzen, die die ganze Familie charakterisieren. Sie brechen jedwedes Vertrauen, spionieren den ungeschützten Raum aus, erwischen Mama, wie sie gerade in ihrem unförmigen Morgenmantel und mit Handtuchturban aus dem Badezimmer kommt und blutleer und gerupft aussieht. Das ist kein Scherz. Die halten auch drauf, wenn du auf dem Topf sitzt – bei der nächsten günstigen Gelegenheit."

    Auf dem zunehmend schmaleren Grat zwischen Intimität und Öffentlichkeit stirbt das, was die alte Demokratie ausgezeichnet hat. Sie, die aus der Emanzipation des Individuums entstand, verflüchtigt sich gewissermaßen in der omnipräsenten Medientechnik unserer Tage. In Don DeLillos Roman wird aus einem zufälligen Kindervideo, das den Vater beim Autofahren zeigt, die Endlosschleife einer brutalen Hinrichtung. Vor den Augen des Kindes, respektive der Kamera, erschießt der "Texas Highway Killer" sein zufälliges Opfer – und hinterläßt damit einen Beweis wie ein Produkt:

    "Du sitzt da und fragst dich, ob diese Art von Verbrechen wahrscheinlicher geworden ist, seit die technischen Mittel, ein Geschehen aufzuzeichnen und sofort danach, ohne neutrales Intervall, ohne räumlichen und zeitlichen Ausgleich abzuspielen, allgemein zugänglich sind. Filmen und abspielen, das intensiviert und verdichtet das Ereignis. Es schafft das Bedürfnis, es wieder zu tun. Du sitzt da und denkst, der Serienmord hat sein Medium gefunden, oder umgekehrt – ein Akt der Schattentechnologie, der verdichteten Zeit und wiederholten Bilder, streng und glatt und unspektakulär."

    Es ist zu dem literarischen Topos der neunziger Jahre geworden, zwischen Welt und Schein-Welt nicht mehr unterscheiden zu können – eine überzogene Behauptung, denn jede Scheinwelt hat ihren Abschaltknopf. DeLillo ist zu intelligent, sich dieser Mode zu unterwerfen, seine Anatomie der Zivilisation beobachtet genauer, wo die Grenzen zwischen Natur und Kunst, Kunst und Künstlichkeit verlaufen. Analog zur Ansicht der Gesellschaft von ihrer Müllseite her hat das Buch eine skatologische Dimension: Wo gelebt wird, wird auch ausgeschieden; die Produkte dieses Vorgangs sind tabu. Was macht man, wenn man sie trotzdem benötigt?

    "In Dallas werden synthetische Exkremente hergestellt. Sie haben eine Form simulierter menschlicher Fäkalien perfektioniert, um Windeln und andere Schutzkleidung zu testen. Das Präparat wird als anzurührendes Pulver aus Stärke, Fasern, Harzen, Gelatine und Polyvinylverbindungen verkauft. Man fügt Wasser hinzu, um die gewünschte Konsistenz zu erzielen. Die Farbe ist für gewöhnlich braun."

    Echter Kot verrät etwas. Ganz abgesehen von seinem Geruch, würde ihn niemand der Öffentlichkeit preisgeben. Schon Freud ahnte, daß darin die eigentliche Demütigung der Sauberkeitserziehung lag. "Marvins Verdauung schien sich allmählich zu verändern, in grimmigen Etappen, während er und Eleanor Europa ostwärts durchquerten. Der Geruch wurde schlimmer, tiefer, nahm eine gewisse Dichte an, reifte und alterte, und inzwischen schauderte ihm vor dem tagtäglichen Augenblick nach dem Frühstück, wenn es Zeit für ihn wurde, sich auf die Toilette zu schleppen. (...) Ihm war klar, daß es vermutlich zu jeder jungen Ehe gehörte, den Geruch des anderen zu riechen, daß man es ein für allemal hinter sich bringen mußte, damit man mit seinem Leben vorankam, Kinder kriegen, ein Häuschen kaufen, an jedermanns Geburtstag denken, einen Ausflug über den Blue Ridge Parkway machen, krank werden und sterben. Doch in diesem Fall mußte der Ehemann äußerste Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, denn diese Ausdünstungen waren schimpflich, intensiv und zutiefst intim, und sie schienen etwas Furchtbares über ihren Träger auszusagen. Sein Geruch war ein Geheimnis, das er vor seiner Frau bewahren mußte."

    Hier schließt sich der Bogen zu J.Edgar Hoovers FBI in den fünfziger Jahren. Als die Mikroelektronik noch ziemlich groß und sichtbar war, bedeutete Spionage Dreckarbeit. Man wühlte in den Rückständen verdächtiger Subjekte, eben weil es nichts Intimeres als Ausscheidungsprodukte gibt, Daseinsrückstände, Signaturen des gelebten Ichs. Müll und Kot werden erst dann als Informanten uninteressant, wenn die Überwachungs-Technologien einen Grad erreicht haben, an dem man nichts mehr aus Rückständen rekonstruieren muß, sondern beim Geschehen live dabei ist; allzulange wird dies freilich nicht mehr dauern.

    In diesem Sinne ist "Unterwelt" ein gigantischer Transformations-Epos. Es beschreibt – wuchtig und ausladend, verästelt und verflochten – das Ende des geläufigen "American way of life", den Abgesang auf hemdsärmlige Macht- und Markttechniken à la Rockefeller und Hoover. Ironischerweise – die Ironie ist traurig – endet das Buch in Semipalatinsk, jener verwahrlosten russischen Nuklearzentrale, in die der nachkommunistische Brachialkapitalismus Einzug gehalten hat. Doch Trauer – Trauer umflort die ganzen tausend Seiten des Romans. Es ist der Sound DeLillos, ein schwerer, dichter Nebel aus Melancholie und Abschiedsstimmung. Die Bronx etwa, ein Mahnmal für fehlgeschlagene gesellschaftliche Entwicklungen, taugt kaum zur Heroisierung der eigenen Jugend, und Nick Shay kann seinem Sohn kein Bild mehr davon vermitteln: "Jeff ist scheu, wenn es um die Bronx geht, scheu und schuldbewußt. Er glaubt, sie gehört zum amerikanischen Gulag, ein Ort, seiner eigenen Erfahrung so fern, daß bestimmt keiner, der dort herkommt, mit ihm in einem Zimmer sein will." Schon die provokative Wortwahl "Gulag" zeigt, für wie fortgeschritten Don DeLillo die gegenseitige Transformation der Kalten-Kriegs-Gegner hält. Worte bedeuten viel bei diesem Autor, selbst angesichts ihrer unermeßlichen Zahl. Fast dreimal so dick wie seine Vorgänger, ist "Unterwelt" ein großes Werk, und die schiere Größe verlangt ihren Preis. Wer versucht, die Lektüre auf Wochen zu verteilen, wird an der Konstruktion scheitern. Sie fordert unbedingte Aufmerksamkeit, ja nachgerade Scharfsinn. Ihr Schichtenmodell, das den konventionellen Erzählfluß ersetzt, ist nicht gerade gedächtnisfreundlich, doch um die raffinierte Personenführung mit ihrem filigranen Beziehungsnetz genießen zu können, muß man Figuren und Details über hunderte von Seiten in Erinnerung behalten. Lektüre für fortgeschrittene, zumindest für engagierte Leser.

    Oft hat die Kritik diesem Autor Musikalität bescheinigt; doch Don DeLillos Sprache ist keineswegs melodisch, seine Romantektonik nicht symphonisch, sondern der Cluster-Technik der neuen Musik verpflichtet. Tatsächlich hat "Unterwelt" – wie all seine Romane – einen eigenen Rhythmus, einen Binnenrhythmus in der Syntax, der manchmal etwas verstiegen und verbaut wirkt, andererseits an schroffe Jazz-Harmonien erinnert, und einen Basisrhythmus im Erzählton. Beide transportiert die Übersetzung Frank Heiberts vorzüglich, die in ihrer Bildhaftigkeit vielleicht dazu beiträgt, die erste lange Durststrecke für deutsche Leser erträglich zu machen. Siebzig Seiten lang dauert das penibel geschilderte Baseballspiel vom Oktober 1951. Wer über diese Klippe in den Roman hineingleitet, hat es geschafft. Als Lohn winkt ein Amerika-Bild, dem sich auch europäische Intellektuelle schwerlich entziehen können.