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"Unverantwortliche Vorschläge"

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, kritisiert die Steuerpolitik der schwarz-gelben Regierung. Diese versuche, die Zeit bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen "irgendwie zu überstehen". Heimlich werde jedoch schon über Maßnahmen wie die "Anhebung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung" oder "die Streichung der Steuerfreiheit für Nacht- und Schichtarbeitszuschläge" diskutiert.

Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Frank Capellan | 31.01.2010
    Frank Capellan: Also es gibt viel Angriffsfläche für eine Opposition. Was ist Ihr persönliches Ziel für die kommenden dreieinhalb Jahre?

    Frank-Walter Steinmeier: Wir werden den Finger in die Wunde legen. Wir werden darauf hinweisen, dass diese Regierung neben unverantwortlichen Vorschlägen in der Steuerpolitik vor allen Dingen eine verhängnisvolle Entwicklung zur Entsolidarisierung dieser Gesellschaft vorbereitet. Und das sehe ich angelegt in den Vorschlägen, wie sie Herr Rösler offensichtlich im Kopf hat zur Reform im Gesundheitswesen, alles untauglich, wie ich finde, um das hohe Niveau unserer Gesundheitsversorgung zu halten. Wer so anfängt, noch bevor der erste Schritt getan ist, und als Erstes den Stopp der Arbeitgeberbeiträge zu den Gesundheitskosten ankündigt, wer darüber hinaus ankündigt, dass der Gesundheitsfonds in Frage gestellt werden muss, der nimmt doch in Kauf, dass das Verhältnis, das wir inzwischen einigermaßen wieder in den Griff bekommen haben zwischen den reicheren und den ärmeren Regionen in Deutschland, dass das alles wieder in Frage gestellt wird und vor allen Dingen die Ostkrankenkassen dann wieder dem Ruin entgegen geführt werden


    Frank Capellan: Frank-Walter Steinmeier, seit etwa 100 Tagen sind Sie nun nicht mehr Außenminister. Wie macht sich denn Ihr Nachfolger als Außenminister - Guido Westerwelle?

    Frank-Walter Steinmeier: Also, erst mal sind die 100 Tage noch nicht um, zweitens werden wir nach 100 Tagen kritisieren an dieser Bundesregierung, was zu kritisieren ist. Was den Nachfolger angeht, sollte sich der Vorgänger vielleicht etwas zurückhalten, weil ich natürlich weiß, wie meine ersten 100 Tage im Amt waren und dass die ersten 100 Tage vollgefüllt sind mit Antrittsbesuchen in allen Hauptstädten. Ich habe nicht gesehen, dass viel Porzellan dabei zerschlagen worden ist, insofern müssen wir jetzt abwarten, was aus der konkreten Außenpolitik wird.

    Capellan: Die Beharrlichkeit zum Beispiel, mit der er an die Personalie Erika Steinbach herangeht, imponiert Ihnen das?

    Steinmeier: Ich finde natürlich gut, dass er meine und unsere Linie dabei übernimmt, und es ist die richtige Linie. Wir haben viel getan in den letzten Jahren, um ein nicht ganz einfaches, durch die Geschichte belastetes deutsch-polnisches Verhältnis in Ordnung zu bringen. Ich habe mich daran beteiligt auch mit langen, langen Gesprächen mit meinem polnischen Amtskollegen. Wir sind da gut vorangekommen, ich weiß aus eigener Erfahrung, dass durch falsche Entscheidungen bei dem ohnehin nicht ganz einfachen Thema Zentrum und Stiftung, Flucht, Vertreibung und Versöhnung -, dass uns hier falsche Entscheidungen zurückwerfen würden. Das kann ein Außenminister nicht zulassen. Auch der neue Außenminister Herr Westerwelle nicht.

    Capellan: Er macht das also ganz gut, was diesen Punkt angeht. Das zentrale Thema des Außenministers ist natürlich in der vergangenen Woche gewesen die Zukunft Afghanistans, also die internationale Konferenz in London, die Haltung der Bundesregierung.

    Ich habe mir das Papier mal rausgesucht, das Sie als Kanzlerkandidat im vergangenen September verfasst haben: "Zehn Schritte für Afghanistan". Da haben Sie gefordert eine verbindliche Roadmap für das internationale Engagement in Afghanistan. Sie haben gesagt, die Polizeiausbildung muss beschleunigt werden, die afghanische Armee muss gestärkt werden, dann müssen Mitläufer der Taliban reintegriert werden. Das findet sich jetzt eigentlich alles wieder im Konzept der Bundesregierung, also da können Sie doch zufrieden sein.

    Steinmeier: Ja, natürlich bin ich nicht unzufrieden darüber, dass sich vieles davon im Konzept der Bundesregierung wiederfindet. Dies war auch nicht so sehr ein Papier des Kanzlerkandidaten, sondern das Papier des Außenministers, der natürlich sich selbst Rechenschaft darüber abgelegt hat, nach vier Jahren Verantwortung als Außenminister in Deutschland und nach insgesamt acht Jahren Engagement in Afghanistan.

    Das ist natürlich ein Punkt, an dem wir nicht nur uns selbst, sondern auch der deutschen Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen, wie weit wir gekommen sind und Rechenschaft ablegen müssen, wie lange unser Engagement in Afghanistan noch dauert.

    Capellan: Sie setzen ein Abzugsdatum, warum sagen Sie konkret: 2015 müssen wir raus sein?

    Steinmeier: Na, ich habe gesagt: Wenn wir jetzt acht Jahre drin sind in Afghanistan und wir feststellen können, dass wir in vielen Bereichen vorangekommen sind - ich will das nicht alles wiederholen -, aber bei den Schulen etwa, auch der Tatsache, dass Mädchen inzwischen in Afghanistan zur Schule gehen können, dass wir bei der Wasserversorgung, bei der Elektrizitätsversorgung im Norden des Landes gut vorangekommen sind.

    So ist dennoch ebenso sicher, dass die Sicherheitslage sich in Afghanistan ausgesprochen unbefriedigend, auch schlecht entwickelt hat, auch die Gefährdungen für deutsche Soldaten größer geworden sind. Deshalb ist es ein Punkt, bei dem ich letztes Jahr gesagt habe: Wir müssen jetzt noch mal genau kontrollieren, was eigentlich jetzt noch zu tun ist für uns. Und zu tun ist vor allen Dingen etwas in dem Bereich, wo wir die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage versetzen müssen, ihre Aufgaben nach und nach selbst zu übernehmen.

    Capellan: Warum haben Sie sich im September gegen ein konkretes Abzugsdatum gewehrt? Sie haben gesagt, eine konkrete Jahreszahl könnte in Afghanistan von den Falschen als Ermutigung verstanden werden. Gerhard Schröder hat damals gesagt: Wir müssen ein Datum nennen, 2015 sollten wir raus. Sie waren dagegen, warum?

    Steinmeier: Das ist der Grund, weshalb ich gesagt habe: Wir müssen hier einen Korridor finden, und der Korridor, den ich genannt habe, gründet sich auf Umstände, die wir letztes Jahr im September noch nicht wissen konnten. Das Erste ist die berühmte Rede in West Point von Präsident Obama, der gesagt hat: Wir werden die amerikanischen Soldaten jetzt noch mal aufstocken, aber 2011 uns nach und nach schrittweise aus Afghanistan zurückziehen.

    Da sage ich: Das ist ein Datum, das können wir nicht einfach übergehen. Ich werde, und auch der neue Außenminister, dem deutschen Volk ja nicht erklären können, dass wir, wenn die Amerikaner ihren Abzug beginnen, wir länger drin bleiben als die Amerikaner. Insofern ist das Datum 2011 als Beginn des Rückzuges in dieses Papier als unser Vorschlag hineingekommen.

    Und zweitens habe ich gesagt: Wir können ja auch nicht übergehen, dass wir in Afghanistan eine umstrittene Wahl hatten, aber einen Präsidenten, der am Ende in sein Amt eingeführt worden ist und in seiner Amtseinführungsrede selbst gesagt hat: Er sieht sich verpflichtet, in drei Jahren die militärischen Operationen in Afghanistan selbst mit afghanischen Sicherheitskräften zu führen und in fünf Jahren - dann wären wir etwa bei 2014 - solche militärischen Operationen ohne ausländische Beteiligung zu übernehmen.

    Capellan: Was erwarten Sie denn jetzt von der Bundesregierung?

    Steinmeier: So, jetzt sind wir doch als deutscher Staat diejenigen, die seit acht Jahren auch Truppen stellen in Afghanistan - neben dem zivilen Wiederaufbau, den wir leisten -, jetzt sind wir doch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das, was die Afghanen selber tun wollen, auch selber tun können. Und deshalb unsere Erwartung an die Bundesregierung: Alles das, was möglich ist, zu tun, um in den verbleibenden Jahren, die jetzt noch vor uns stehen werden, dafür zu sorgen, dass afghanische Sicherheitskräfte so weit ausgebildet werden, afghanische Polizisten so weit ausgebildet werden, dass sie diese Sicherheitsaufgaben selbst übernehmen können. Ich weiß, dass das …

    Capellan: Entschuldigung, Herr Steinmeier, Sie haben aber in der letzten Woche auch gesagt, es müsste eine Konkretisierung des Abzugsdatums erfolgen seitens der Bundesregierung. Wie stellen Sie sich das vor? Die Bundesregierung sagt ja, möglicherweise eventuell 2014. Was soll konkreter werden, damit Sie auch zustimmen?

    Steinmeier: Das ist ja das, was ich in der Unterrichtung durch die Bundesregierung in dieser Woche und auch in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zufriedenstellend fand, weil es sich auf unsere Position zu bewegt. Auch vonseiten des Außenministers, von Herrn Westerwelle, kam ja der Hinweis darauf, 2011 als Beginn des Rückzugs auch der deutschen Truppen, kann für ihn ein Datum sein, das auch diese Bundesregierung für sich beschließt. Und was den endgültigen Abzug angeht, so habe ich aus den bisherigen Äußerungen, nicht konkret genug, aber auch verstanden, dass auch die Bundesregierung daran denkt, die Weichen jetzt auf eine Beendigung des militärischen Engagements zu stellen, genauer gesagt, die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten in mittlerer Sicht zu beenden. Dann wird die Bundesregierung mit einem Vorschlag auf uns zukommen. Und dann wird man darüber reden müssen, unter welchen Voraussetzungen auch Teile der Opposition diesem Vorschlag zustimmen können oder nicht.

    Capellan: Also das eine war ja die Diskussion über das Abzugsdatum, wo wir gerade drüber gesprochen haben. Das Zweite, worin sich die SPD von der Regierung unterscheidet, war die Truppenaufstockung. Die SPD hat gesagt: Wir brauchen keine zusätzlichen Soldaten. Sie werden es jetzt aber trotzdem wohl mittragen. Warum?

    Steinmeier: Ich habe gesagt und im Papier noch mal geschrieben: Wir erwarten, dass, nachdem wir über mehrere Jahre hinweg das deutsche Truppenkontingent aufgestockt haben, der Verteidigungsminister auch nachschaut, wo Aufgaben möglicherweise auch überflüssig geworden sind, und dass da, wo sie überflüssig geworden sind, Soldaten eingesetzt werden, um zukünftig afghanische Soldaten auszubilden. Das ist der Hauptzweck. Ich kann bisher noch nicht nachvollziehen aus dem, was wir von der Bundesregierung wissen, aus den Vorschlägen, ich kann bisher noch nicht nachprüfen, ob die Bundesregierung genügend Ehrgeiz an den Tag gelegt hat bei der Umstrukturierung der bisherigen Truppenkontingente. Das wird man nachprüfen müssen, und erst dann wird man entscheiden können, ob zusätzliche Soldaten, die für Ausbildungsaufgaben nach Afghanistan entsandt werden, wirklich notwendig sind.

    Capellan: Aber die Zustimmung der Sozialdemokraten ist doch sehr wahrscheinlich?

    Steinmeier: Es geht hier gar nicht um Wahrscheinlichkeit, sondern das, was Sie zugrunde legen können, ist: Wir werden uns wegen eines Wechsels aus der Regierung in die Opposition natürlich nicht in Verantwortungslosigkeit flüchten. Wir vergessen nicht, dass unser Einsatz in Afghanistan einen Grund hatte. Der liegt im Jahre 2001 und der Tatsache, dass aufgrund eines Attentats in New York mehr als 3000 Menschen den Tod gefunden haben und wir hier in der Befürchtung gelebt haben, dass solche Attentate auch in Europa, auch in Deutschland, ereignen könnten.

    Hinzugehen damals und zu versuchen, dafür zu sorgen, dass Afghanistan nicht länger Ausbildungslager für islamistische Terroristen sein wird, das war damals gemeinsame Auffassung von den Allermeisten in Deutschland. Das vergesse ich nicht, und ich vergesse auch nicht, dass wir an diesen Entscheidungen maßgeblich beteiligt waren. Richtig ist es dennoch, das darf ich noch mal betonen: Nach acht Jahren des Einsatzes und nach einer Perspektive, von der ich sage "Sofort raus" ist eine unsinnige Forderung, dann würde alles zusammenbrechen, was wir in Afghanistan in den letzten Jahren dort aufgebaut haben. Aber es ist auch Anlass, jetzt nach acht Jahren darüber nachzudenken, von welcher Dauer unsere Anwesenheit dort noch sein kann.

    Capellan: Raus aus Afghanistan, das war die zentrale Forderung, mit der Die Linke triumphiert hatte auch bei der Bundestagswahl. Jetzt fordern auch Sie, dass die Regierung einen konkreten Abzugsplan entwickelt.

    Steinmeier: Da liegt auch der deutliche Unterschied.

    Capellan: Ja, wo ist der, der Unterschied? Die Sozialdemokraten wollten uns immer Glauben machen, aus Gründen der Außenpolitik könnte man mit den Linken nicht reden. Jetzt sind Sie doch nahe beieinander.

    Steinmeier: Nein, das ist doch der Unterschied, den bitte ich doch auch festzuhalten und jetzt auch nicht journalistisch zu vernebeln, sondern diejenigen, die sagen "Sofort raus aus Afghanistan", nehmen eine Stimmung auf, die ich natürlich kenne und erkenne. Natürlich weiß ich, dass eine Mehrheit der Deutschen inzwischen gegen einen Einsatz in Afghanistan ist.

    Aber zur Politik gehört es ja auch manchmal, dass man dem, was viele wollen, noch einmal entgegen hält, warum wir uns damals schweren Herzens zu diesem Einsatz entschlossen haben. Und deshalb sage ich: "Sofort raus" ist aus meiner Sicht keine verantwortungsvolle Haltung.

    Capellan: Wobei das sicherlich auch keine Mehrheitsmeinung in der Linken ist: "Sofort raus!"

    Steinmeier: Na ja, oft genug geäußert und oft genug aufgeklebt auf Plakaten und hier im Deutschen Bundestag wiederholt von Gysi, Lafontaine und vielen anderen.

    Capellan: Vieles ist vielleicht verhandelbar?

    Steinmeier: Weiß ich nicht. Jedenfalls da unterscheidet sich doch eben unsere Position deutlich von einer populistischen Position, wie sie die Linkspartei in einer, wie ich finde, unverantwortlichen Art und Weise vertritt.

    Capellan: Oskar Lafontaine stand der Annäherung an die Linke seitens der SPD lange Zeit im Wege. Er galt als der Verräter, der ehemalige SPD-Vorsitzende, der dann der Partei in den Rücken gefallen ist. Jetzt ist er weg. Nichts soll sich verändert haben im Verhältnis zwischen SPD und der Linken? Das ist das, was zu hören war.

    Steinmeier: Zunächst mal, Sie ahnen, ich kenne Oskar Lafontaine seit einer Reihe von Jahren. Und deshalb lassen Sie sich einmal vorab sagen: Mit Blick auf seine Krankheit, die ihn zum Rückzug aus den Ämtern bewegt hat, wünsche ich ihm persönlich zunächst mal gute Besserung.

    Auf der anderen Seite, politisch hat sich das sehr auseinander gewickelt. Und natürlich bin ich sauer darauf, dass er auch im Ärger über die Erfolglosigkeit seiner eigenen Politik in der SPD sich die Sache sehr einfach gemacht hat und - wie ich finde - bei der Linkspartei noch mehr Populismus etabliert hat, als dort ohnehin schon vorhanden war. Das hat aber alles Folgen hinterlassen und deshalb bedeutet zunächst einmal der Rückzug von Oskar Lafontaine für das Verhältnis von Linkspartei zur SPD noch nichts. Es bleibt ja dabei, dass es eine Reihe von politischen Feldern gibt, auf denen wir nun deutlich auseinander sind. Über eines haben wir eben miteinander gesprochen, das völlig ungeklärte Verhältnis zu Europa gehört dazu.

    Capellan: Aber es gibt auch viele Schnittmengen, bei der Rente mit 67, beim Mindestlohn.

    Steinmeier: Ja, aber das erledigt sich doch alles nicht durch den Rückzug von Oskar Lafontaine. Also insofern geht der Streit da weiter. Und was ich im Augenblick sehe jetzt an möglichen Koalitionsspekulationen, die im Anschluss an den Rückzug von Oskar Lafontaine angestellt werden - mein Gott, wir sind jetzt immer noch fast vier Jahre von der nächsten Bundestagswahl entfernt, und das halte ich nun wirklich für eine Diskussion zur Unzeit.

    Capellan: Aber es geht ja auch um eine Koalition zum Beispiel in Düsseldorf bei der Landtagswahl im Mai. Warum reichen Sie da den Linken nicht die Hand? Stattdessen schließen Sie Koalitionen bereits wieder aus.

    Steinmeier: Ich weiß gar nicht, ob sie ausgeschlossen werden. Aber Sie müssen doch verstehen, dass Hannelore Kraft in Düsseldorf natürlich ihre Aufgabe darin sieht, in diesem Wahlkampf für eine möglichst starke SPD am Wahltag zu sorgen. Und jetzt ist ja ein bisschen was passiert und wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass in Nordrhein-Westfalen sich die Umfragen seit der Zeit vor Weihnachten erheblich verändert haben.

    Ich kann mich noch erinnern, dass viele Ihrer Kollegen mir vor Weihnachten noch gesagt haben: Keine Chance für die SPD in Düsseldorf. Jetzt schauen Sie sich die Umfragen vier Wochen nach Weihnachten an, das ist ein deutlich anderes Bild. Die FDP hat verloren in diesen Umfragen und insbesondere die Linkspartei hat verloren. Sie ist im Augenblick so round about fünf Prozent.

    Capellan: Sie kalkulieren ähnlich wie damals in Hessen bei Andrea Ypsilanti, dass man die Linken aus dem Landtag heraushalten kann. Besteht nicht die Gefahr, dass das nach hinten losgeht, eine Trotzreaktion bei den Wählern hervorruft?

    Steinmeier: Politik ist nie ohne Risiko, und wer das Risiko scheut, geht nicht in die Politik. Aber vor allen Dingen gilt der alte Grundsatz: Jeder Wahlkampf ist anders. Und da sind doch Debatten, wie sie von manchen gerne herbeigewünscht werden über ein neues Verhältnis zur Linkspartei, Debatten zur Unzeit.

    Capellan: Haben sie keine Angst, dass Ihnen die Grünen davonlaufen zur Union, wenn man ihnen nicht Rot-Rot-Grün als Perspektive anbietet?

    Steinmeier: Was die Haltung der Grünen angeht, so wissen Sie ja auch, dass innerhalb der Grünen gerade in Nordrhein-Westfalen rot-rot-grüne Bündnisse sehr kontrovers diskutiert werden und gerade bei den Grünen eine solche Konstellation nicht als besonders attraktiv empfunden wird.

    Nein, ein bisschen kenne ich mich aus in Nordrhein-Westfalen, ich bin da geboren und weiß auch ein bisschen, wie die Diskussionen dort bei den Grünen verlaufen. Ich verstehe natürlich, dass in einer solchen Situation öffentlich keine festen Koalitionszusagen gegeben werden. Aber ich habe doch den Eindruck, dass die Mehrheit der Grünen, wenn es denn möglich ist, sich Konstellationen und Koalitionen mit den Sozialdemokraten wünscht.

    Capellan: Allerdings haben wir nach dem Debakel, sag ich mal, in Hessen, nach dem Nein zu einer Koalition mit der Linken seitens des Parteivorsitzenden Kurt Beck gehört, eine "Ausschließeritis" können wir nicht gebrauchen. Und jetzt geht es doch in die Richtung, wenn ich Sigmar Gabriel höre, der da doch sagt, wir dürfen auch nicht nur den Anschein erwecken, als könnten wir in Nordrhein-Westfalen in irgendeiner Weise mit den Linken zusammenarbeiten. Das geht doch wieder in Richtung "Beck-Falle", wie es viele nennen.

    Steinmeier: Jetzt machen Sie zum dritten Mal den Versuch, für eine Koalition mit der Linkspartei zu werben. Ich sage es Ihnen noch mal: Es gibt bei uns keine "Ausschließeritis" und es gilt bei uns der Grundsatz, dass die Landesverbände zu entscheiden haben, welche Möglichkeiten für Koalitionen sich aus einem Wahlergebnis ergeben werden.

    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Frank-Walter Steinmeier, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden. Herr Steinmeier, ich habe Sie in der Haushaltsdebatte als ausgesprochen kämpferisch erlebt, angriffslustig. Man hatte den Eindruck, Sie haben Spaß an der neuen Rolle gefunden. Der Diplomat Steinmeier "hat fertig"?

    Steinmeier: Na ja, ich bin nicht als Diplomat geboren worden. Ich war vier Jahre Außenminister. Sie wissen, ich habe mich für ein anderes Amt beworben und nicht für die Rolle des Oppositionsführers. Aber ich glaube, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben die ersten 100 Tage einer Regierung gezeigt, wie wichtig Opposition ist. Und ich habe auch in der Tat festgestellt, natürlich muss man die anders ausüben als in der manchmal etwas diplomatischen Sprache, in der man sich als Außenminister üben muss. Das erwarten Sie, das erwartet die Öffentlichkeit und das verlangt auch eine klare Auseinandersetzung im Parlament. Es ist bewiesen, dass das geht.

    Capellan: Sie waren ja auch 1998 schon dabei, als es mit Rot-Grün losging. Da gab es auch keinen optimalen Start. Da hieß es nachher auch seitens Gerhard Schröder: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Warum ist in Ihren Augen dieser Fehlstart von Schwarz-Gelb doch fataler als das, was damals passiert ist?

    Steinmeier: Na ja, das, was damals stattgefunden hat, wissen Sie, das war grundsätzlich anders. Es gab eine Gesetzgebung zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die in der Tat so, wie sie ins Kabinett gegangen ist, nicht durchzuhalten war. Die haben wir schnellstmöglich korrigiert, was uns dann monatelang noch den Ruf von sogenannten "Nachbesseren" eingebracht hat.
    Immerhin hatten wir den Mut dazu.

    Diese Regierung hat ihn nicht, obwohl dringend bei dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit der Begünstigung von Klientelen mit einer völlig unnützen Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen hier dringend Nachbesserungen angesagt wären. Aber wissen Sie, was hier der entscheidende Unterschied war?

    Der Hauptkonflikt 1998/1999 war nicht ein Gesetzgebungsverfahren über geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, sondern war damals ein fundamentaler gesellschaftlicher Konflikt um die Neuordnung des Staatsbürgerschaftsrechtes. Das war ein fundamentaler gesellschaftlicher Konflikt, die Änderung war immer noch richtig, aber wir haben darüber eine Landtagswahl verloren. Und deshalb ist natürlich der Beginn der damaligen Koalition so in Erinnerung geblieben.

    Der Unterschied heute ist der, dass wir doch feststellen, dass diejenigen, die da als Traumpaar Union und FDP, die sich als Traumpaar der deutschen Politik für diese Regierung beworben haben, auf alles vorbereitet waren, nur nicht aufs Regieren. Das ist der Grund dafür, weshalb so viel schief geht, weshalb so viel ungeklärt ist und weshalb wir seit 100 Tagen eigentlich kaum etwas anderes erleben als Streit der Koalitionspartner untereinander von der Steuerpolitik über die Gesundheitspolitik.

    Capellan: Sie sprechen sogar von Wahlbetrug in der Steuerpolitik. Sie sagen, Steuerentlastungen sind Wahlbetrug mit Ansage. Warum eigentlich? Denn bisher hält sich doch die Koalition an die Versprechen aus dem Wahlkampf, Steuern zu senken.

    Steinmeier: Was ist aber der Sinn, Steuern zu senken? Das haben ja Westerwelle, Frau Merkel und viele andere oft genug gesagt, der Sinn von Steuersenkungen sollte sein für die Bürger, dass am Ende mehr Netto vom Brutto bleibt. Schon jetzt ist ja absehbar, das Ergebnis wird das Gegenteil bewirken. Die Staatsverschuldung ist ohnehin hoch.

    Capellan: Die wäre mit einer Großen Koalition auch ähnlich hoch gewesen.

    Steinmeier: Ja, aber statt diese Folgen zu bewältigen, werden unverantwortliche Steuersenkungen entweder schon verabschiedet oder für das laufende Jahr versprochen, was es unmöglich macht, von diesem hohen Schuldenstand in absehbarer Zeit wieder herunterzukommen. Und was wird die Folge davon sein?

    Jetzt will ich mal gar nicht sagen, was ich sage, sondern was die Frankfurter Oberbürgermeisterin, die ja bekanntlich nicht der SPD angehört, sondern eine CDU-Bürgermeisterin ist. Die sagt, die Steuerpolitik des Bundes, die Steuerpolitik dieser Koalition treibt die Kommunen in den Ruin. Hier geht es nicht nur um kommunale Belange, sondern worum es im eigentlichen ja geht, ist, dass die unmittelbare Folge davon sein wird, dass die kommunalen Gebühren vom Abwasser über den Müll bis hin zu den Schließungen von Schwimmbädern, Bibliotheken und Museen, die in einzelnen Städten schon angekündigt werden, das alles wird sich ja auf den Bürger niederschlagen.

    Und deshalb sage ich, am Ende kommt ja nicht mehr Netto vom Brutto raus, sondern das Gegenteil wird der Fall sein. Das werden die Bürger spüren. Und ich bin mir ziemlich, ziemlich sicher, diese Regierung wird den Unmut der Bürgerinnen und Bürger zu spüren bekommen.

    Capellan: Sie wird sparen müssen. Wo müsste gespart werden, wo könnte gespart werden nach Ansicht der Opposition?

    Steinmeier: Das ist ja Teil des unredlichen Verhaltens, was ich dieser Bundesregierung vorwerfe. Sie startet mit einer nicht verständlichen Steuersenkung für Hotelübernachtungskosten in die öffentliche Debatte, versucht, die Zeit bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen irgendwie zu überstehen, verweigert jede Antwort darauf, was sie eigentlich tun will, um zu einem ordentlichen Staatshaushalt zurückzukehren, und nur heimlich hören wir, was tatsächlich in der Diskussion ist. Und da sage ich Ihnen ganz offen, da ist das Spektrum breit von der Anhebung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, zur Krankenversicherung bis hin zu den Rentenversicherungsbeiträgen, die Streichung der Steuerfreiheit für Nacht- und Schichtarbeitszuschläge.

    Alles das ist gegenwärtig in der Diskussion. Und ich bin mir ziemlich sicher - und die meisten ahnen das ja -, nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen wird uns das alles als Vorschläge dieser Bundesregierung auf dem Tisch liegen.

    Capellan: Also es gibt viel Angriffsfläche für eine Opposition. Was ist Ihr persönliches Ziel für die kommenden dreieinhalb Jahre?

    Steinmeier: Wir werden den Finger in die Wunde legen. Wir werden darauf hinweisen, dass diese Regierung neben unverantwortlichen Vorschlägen in der Steuerpolitik vor allen Dingen eine verhängnisvolle Entwicklung zur Entsolidarisierung dieser Gesellschaft vorbereitet. Und das sehe ich angelegt in den Vorschlägen, wie sie Herr Rösler offensichtlich im Kopf hat zur Reform im Gesundheitswesen, alles untauglich, wie ich finde, um das hohe Niveau unserer Gesundheitsversorgung zu halten. Wer so anfängt, noch bevor der erste Schritt getan ist, und als Erstes den Stopp der Arbeitgeberbeiträge zu den Gesundheitskosten ankündigt, wer darüber hinaus ankündigt, dass der Gesundheitsfonds in Frage gestellt werden muss, der nimmt doch in Kauf, dass das Verhältnis, das wir inzwischen einigermaßen wieder in den Griff bekommen haben zwischen den reicheren und den ärmeren Regionen in Deutschland, dass das alles wieder in Frage gestellt wird und vor allen Dingen die Ostkrankenkassen dann wieder dem Ruin entgegen geführt werden

    Das ist nicht die richtige Politik. Und ich warne dringend davor, dass dieser falsche Weg hin zur Kopfpauschale gegangen wird. Es wird dazu führen, dass die Ungerechtigkeit der Kostenbeteiligung im Gesundheitswesen zunimmt. Und niemand glaubt doch, dass am Ende der versprochene Sozialausgleich kommt. Das, was Herr Rösler verspricht, kostet ungefähr 35 Milliarden. Wo soll das Geld herkommen bei jetzt schon jetzt leeren Staatshaushalten? Nein, es wird große Ungerechtigkeiten und vor allen Dingen schlechtere Qualität für die Versicherten bedeuten.

    Capellan: Um den Gesundheitsfonds noch einmal ins Gespräch zu bringen, der geht ja zurück auf eine Vereinbarung von Schwarz-Rot und beinhaltet auch das Instrument der Zusatzbeiträge bei den Krankenkassen, warum jetzt also diese Kritik seitens der SPD?

    Steinmeier: Na hören Sie mal, das ist doch selbstverständlich. Es ist ja keine Pflicht, die wir dort errichtet haben zur Einführung von Zusatzbeiträgen, sondern selbstverständlich hat jeder Gesundheitsminister, auch dieser Gesundheitsminister die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Möglichkeit von Zusatzbeiträgen nicht in Anspruch genommen wird. Er hat das missverstanden, sondern er tut nichts und dann lässt er es einfach laufen. Und nachdem die Diskussion ihn deshalb kritisiert, habe ich jetzt eine müde Pressemeldung von Herrn Rösler gesehen, in der er sagt, man müsse mal mit den Arzneimittelfirmen über die Kosten bei den Arzneimitteln reden. Spät genug. Ich kann ihm nur dringend raten, das jetzt endlich zu tun.

    Capellan: Frank-Walter Steinmeier, besten Dank für das Gespräch.

    Steinmeier: Gerne.