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Ur-Tragödie auf Ur-Freilichtbühne

Ende 2006 inszenierte Dimiter Gottschef schon einmal "Die Perser" von Aischylos. Die älteste überlieferte Tragödie der Weltliteratur durfte Gottschef nun noch einmal inszenieren, diesmal auf der ältesten Theaterbühne der Welt: dem Amphitheater von Epidaurus.

Von Hartmut Krug | 01.08.2009
    Seine Berliner Inszenierung der "Perser" entwickelte Dimiter Gotscheff im geschlossenen Theaterraum stark aus der Sprache. Die fast handlungslose Reflexion über Krieg und Niederlage, menschliche Hybris und Gewaltbereitschaft wurde dabei zu einem anderthalbstündigen, intensiven Klagegesang.

    Das riesige Amphitheater von Epidaurus, bestimmt von Offenheit und Weite, ist aber nicht nur Innen-, sondern auch Außenraum. Herabschauend von einer der 55 Reihen des Theaters, geht der Blick über die offene, 20 Meter breite Bühne, die Orchestra, und den offenen Raum dahinter, denn die einst dort stehende Skene, die Eingangshalle, ist nicht erhalten, weit hinaus ins Freie über die bewaldeten Hügel. Während die Zikaden lärmen und die harten Steinsitze noch die Sonnenwärme des Tages zurückstrahlen, legt sich die Dämmerung über das Theater und die Welt. Es ist eine eigenartige, schwer zu beschreibende, zugleich aufregende wie beruhigende Atmosphäre. Wenn man in Epidaurus auf steilen Rängen inmitten von rund 7000 Zuschauern sitzt, empfindet man, Welttheater erlebend, ein Gefühl für das Theater und die Welt.

    Auf diesen anderen, offenen Raum haben sich Regisseur Dimiter Gotscheff und sein Bühnenbildner Mark Lammert konsequent eingelassen. Zwar verwenden sie Grundelemente ihrer Berliner Inszenierung, aber sie entwickeln mit den griechischen Schauspielern doch eine ganz eigene, neue Inszenierung.

    Zu Beginn betreten der Männerchor der sieben Boten in bunten Sweatshirts und der Klagechor der sieben Frauen in einer Art schwarzer Joggingkleidung durch die Seiteneingänge, die Paradoi, die sandige Bühne, an deren hinterem Rand wie verloren eine hohe Wand aufragt. Lammerts gelbe Wand aus der Berliner Inszenierung ist jetzt blau und steht wie eine Drehtür auf einem Stab in der Erde. Sie kann Klagemauer sein, vor der die Menschen sich niederwerfen, sie kann Zeitschleuse oder Raummetapher sein, sie mag auch hinweisen auf das Meer, auf dem die griechische Flotte vernichtet wurde. Vor allem aber ist sie, indem sie immer wieder gedreht wird und die Figuren hin und her treibt, ein klug genutztes szenisches Bewegungselement für dieses Sprech-Stück.

    Der des Griechischen nicht mächtige Zuschauer, auch wenn er direkt vor der Aufführung noch einmal den Text gelesen hat, vermag allerdings nicht zu sagen, warum gerade diese oder jene Figur gerade an diesem Punkt die Wand dreht.

    Zu Beginn ruft eine Frau, die im Programm als "another person" bezeichnet wird und wie eine Chorführerin oder Erklärerin, vor allem aber als eine Art Bindeglied zwischen den anderen fungiert, einen schwarzem Schal überm weißen Hemd, das eine Bein in der dreiviertellangen Hose nackt, das andere rotbestrumpft, nach dem persischen Heer. Sie untermalt ihre Worte mit zugleich gemessenen wie großen Gesten, sie stampft mit den Füssen auf, sie dreht die Wand hin und her, mit ihr den Raum verschließend, öffnend oder vermessend, und ruft schließlich den Männerchor hervor, der mit heftigen Bein- und Armschwüngen gegen die Wand vordringt.

    Vom ersten Augenblick an fasziniert, wie Gotscheff den weiten, offenen Raum belebt und bespielt. Wie hier die Chöre in den Raum gestellt werden, wie sie ihn füllen, ihn öffnen, wie sie mit kleinen, aber deutlichen Verzweiflungsgesten und -haltungen ihre Texte gliedern, wie sie diese zwischen Flüstern und Schreien erklingen lassen und dabei die innere Anspannung durch konzentrierte Körperspannung ausdrücken, das öffnet den Raum und schließt die Spieler zugleich in ihm ein.

    Wunderbar, wie die Chöre, zugleich vereinheitlicht und individualisiert, in den Raum und die Bedeutungen hinein choreographiert sind. Als keilförmige Marschformation kommen die Boten, um vom Untergang des Heeres zu berichten, entsetzt schwärmen die Frauen aus und finden sich verzweifelt wieder zusammen, wenn sie vom Elend der Niederlage erfahren. Fast magisch der Moment, wenn Königin Atossa, eine schmale, große Frau in schwarzer Hose und Pulli, herabgestiegen aus den obersten Zuschauerreihen auf die Bühne, dort mit ausgebreiteten Armen ihre Angst herausschreit.

    Wer die hohle, pathetische Deklamation von Helen Mirren und ihren Mitspielern vor drei Wochen mit Racines "Phädra" erlitten hat, der kann nur fasziniert staunen über Gotscheffs sensibel spannungsvolles Bedeutungsspiel.

    Die zweistündige, aus Sprache und Bewegung geborene Inszenierung forderte mit ihrem langsamen Rhythmus allerdings das griechische Publikum enorm. Während Xerxes, ein graumelierter Elegant, sich am Schluss das Hemd vom Leibe riss und sich, die Fliege auf nackter Brust, verzweifelt niederkauerte, und während Atossa langsam wieder die Reihen hinaufstieg, kam es zu einem immer stärkeren Abstrom von Zuschauern. Am Schluss dieser wunderbaren Inszenierung, mit der ich zum ersten Mal erlebte, wie das antike Theater in Epidaurus wirklich leben und erlebt werden kann, gab es auch deutliche Unmutsbekundungen.