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Urahn der facebooker und twitterer

Rolf Hosfeld überrascht uns nach seiner Karl Marx-Biografie "Die Geister, die er rief" nun mit einem facettenreichen Tucholsky-Porträt. Das flüssig geschriebene und unterhaltsam zu lesende Buch widerlegt die Einschätzung, dass doch eigentlich schon alles über den populären Weltbühnen-Autor gesagt sei.

Vorgestellt von Helmut Mörchen | 04.06.2012
    "Max Brod bringt Tucholsky mit Franz Kafka zusammen, der ihn in seinem Tagebuch als einen elegant gekleideten Einundzwanzigjährigen mit schwingendem Spazierstock beschreibt, dem man ansah, dass die Lektüre von Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray offenbar Spuren in ihm hinterlassen hatte. [ ... ] Dem jungen Kafka erschien Tucholsky als ein "ganz einheitlicher Mensch", von dem er zu berichten weiß, dass er einmal Rechtsanwalt werden will, doch an seiner hellen, fast mädchenhaften Stimme zweifelt und vor allem an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die der Advokatenberuf zwingend erfordert."

    Anwalt wurde Tucholsky nicht. Schon während seines 1915 mit einer Promotion abgeschlossenen juristischen Studiums packte ihn die Schreib- und Veröffentlichungslust. Legendär sein Berliner Buch-Bazar mit Schnapsangebot, pfiffig sein Editionsprojekt "Orion", bei dem sich der noch so junge Nobody mit der Bitte um Mitwirkung bei schon berühmten Autoren wie Rilke, Hesse und Thomas Mann bekannt zu machen versuchte. Aber dann begann er seine journalistische Tätigkeit - noch vor dem Einstieg in die "Schaubühne" Siegfried Jacobsohns im Jahr 1913 - als regelmäßiger Beiträger für den sozialdemokratischen "Vorwärts".

    Was dann folgte, war ein publizistisches Feuerwerk ohnegleichen. Man erhält in Hosfelds Buch Einblick in die so verschiedenen Arbeitsfelder und Redaktionsstuben. Da gab es vor und neben der "Weltbühne" den "Vorwärts" und den "Ulk", die satirische Beilage des "Berliner Tageblatts", die "Vossische Zeitung" und last, not least, die links außen zu verortende "Arbeiter-Illustrierte Zeitung" Willi Münzenbergs. Fürwahr ein breites politisches Spektrum, für das er sich die berühmten alternierenden Pseudonyme Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter und Kaspar Hauser zulegte. Für diese so verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, für Kabarett und Varieté entflossen seiner Feder Texte unterschiedlichster Form: Anekdoten, Aphorismen, Aufsätze, Fabeln, Gedichte, Glossen, Märchen, Monologe, Reiseberichte, Rezensionen und Romane. 1932 schrieb er zusammen mit Walter Hasenclever eine erfolgreich in Leipzig aufgeführte Columbus-Komödie. Und für die Diseuse und Schauspielerin Gussy Holl das nie realisierte Filmskript "Seifenblasen". Damit nicht genug: Tucholsky füllte als Redner große Vortragssäle und war als Rezitator ein genialer Zweitverwerter seiner Texte.

    Dem politischen Publizisten Tucholsky wird oft vorgehalten, er und die "Weltbühne" seien wegen destruktiver Kritik mitschuldig am Scheitern der Weimarer Republik. Als Beleg dazu wird immer wieder Tucholskys berühmter Grundsatzartikel "Wir Negativen" aus dem März 1919 strapaziert. Hosfeld betont dagegen das Recht, "Nein" zu sagen. Schriftsteller seien keine Politiker, als Publizisten gehörten sie zur vierten Gewalt.

    Tucholskys Versuche zu Beginn der 20er-Jahre, gleichwohl als Mitglied der USPD etwas in der Sozialdemokratie zu bewegen, hat Hosfeld gründlich recherchiert. Er schildert die missglückte Begegnung in den Tagen des Kapp-Putsches mit Eduard Bernstein, dem großen Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, Kritiker der von der Mehrheitssozialdemokratie gebilligten Kriegskredite und Mitbegründer der USPD. Das Gespräch lief so schief, dass Tucholsky wenig später einen Auftrag Siegfried Jacobsohns, für die "Weltbühne" mit Bernstein ein Gespräch über die politische Lage zu führen, unterlief.

    "Jacobsohn meldet Tucholsky bei Bernstein an; der alte Herr erklärt sich einverstanden. Bernstein war immer für klare Worte in der Kriegsschuldfrage und hielt die Versailler Verträge für weitgehend unvermeidlich. Tucholsky auch. Er sagt zu. Aber er geht nicht hin. Weil er befürchten musste, mit ihm wieder in Streit zu geraten wie nach dem Kapp-Putsch? Vermutlich. Weil er annahm, Bernstein – den er sehr schätzte – werde ihm die Leviten lesen und ihm zu verstehen geben, dass moralischer Purismus und Gesinnungsethik gar nichts bewirkten, wenn sie nicht gleichzeitig den realen politischen Machtverhältnissen Rechnung trugen? Vermutlich auch das."

    Aber Tucholsky hat nach dem Kapp-Putsch 1920 und nach der Ermordung Walter Rathenaus im Juni 1922 für den Erhalt von Republik und Demokratie gekämpft. Höhe- und auch ein Schlusspunkt dieses Engagements war seine bisher wenig gewürdigte Mitwirkung an einer großen Verfassungsfeier im August 1922.

    Gemeinsam mit dem Publizisten und späteren Mitbegründer der Republikanischen Partei Deutschlands, Karl Vetter, hatte Tucholsky das 99-Punkte-Programm "Verlebendigung der bis dahin trockenen Republik von Weimar" entworfen. Und er, Vetter und der berühmte, sich zur Sozialdemokratie bekennende Theaterregisseur Leopold Jessner gestalteten Programm und Ablauf der Verfassungsfeier.

    "Der Geburtstag der Reichsverfassung am 11. August 1922 im Berliner Lustgarten wird tatsächlich ein großer Erfolg. Mehr als 500000 Besucher sind gekommen. 25000 Fackeln leuchten vor dem Stadtschloss, Schauspieler wie Wilhelm Dieterle, Heinrich George, Leo Menter und Martin Wolfgang rezitieren, Reden werden gehalten. Friedrich Ebert und Reichskanzler Joseph Wirth sind anwesend und werden mit minutenlangen Hochrufen empfangen. Am Ende der Veranstaltung singt die Menge, von einer Musikkapelle unterstützt, die dritte Strophe des Deutschlandliedes, deren Text zuvor auf Flugblättern verteilt wurde."

    Dank Leni Riefenstahls Filmen sind Speers nationalsozialistische Masseninszenierungen im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Erinnerung an diese republikanische Feier mehr als ein Jahrzehnt zuvor im Berliner Lustgarten, immerhin die Geburtsstunde unserer heutigen Nationalhymne, aber wurde nie gepflegt.

    Großartig wie unterhaltsam, aber taktvoll, wie Hosfeld die ja auch mit vielen seiner Werke eng verbundenen Liebesgeschichten und Liebesdramen Tucholskys entfaltet. Kitty Frankfurter, Else Weil, Mary Gerold, Lisa Matthias, Gertrude Meyer und Hedwig Müller, grundverschiedene Frauen, mit denen er nacheinander oder auch gleichzeitig lebte. Tucholskys Männerfreundschaften waren haltbar bis zum Tod: Siegfried Jacobsohn ist hier an erster Stelle zu nennen, aber auch die Kameraden aus dem Kriege "Karlchen" und "Jakopp". Frauen konnte er nicht treu sein.

    Tucholsky suchte die Frauen und floh vor ihnen. "Treu" blieb er ihnen nur in unzähligen Briefen. An Mary Gerold, seine zweite Frau, die er zur Alleinerbin einsetzte, schrieb er im ersten Jahr ihrer Liebe über 300 Briefe. Am Ende seines Lebens dann die Briefe an die Schweizer Geliebte Hedwig Müller, denen er Notizen, Aphorismen und kleine Essays beilegte.

    Hosfeld erzählt die Liebesgeschichten Tucholskys entlang der Briefe. Sie erweisen sich aus heutiger Sicht überraschend modern. Die saloppe Mündlichkeit in seinen Briefen frappiert. Das Parlando in seinen Briefen, die sprachliche Verspieltheit, der Spaß an privater Codierung, nehmen manches von dem vorweg, was Vielen heute im facebook und bei twitter selbstverständlich geworden ist.

    Es lohnt sich, Rolf Hosfelds Tucholsky-Biografie zu lesen. Sie bietet überraschende Einblicke in ein ungewöhnliches Leben und weckt Lust auf die Lektüre seiner öffentlichen Texte und privaten Briefe.

    Rolf Hosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben.
    Siedler Verlag, München 2012. 320 Seiten, Euro 21,99