Wo Murakami versucht, den physischen Untergrund der japanischen Gesellschaft aufzudecken, da fragt die Dresdner Bühnenfassung weiter nach den allgemeinen, weltweiten Gründen und Auswirkungen von Terror. In die Erinnerungen an den Giftgasanschlag mischen sich Reflexionen über den Anschlag des 11.September, über die tschetschenische Geiselnahme in einem russischen Theater und über den Irak-Krieg. Immer geht es um den urplötzlichen Einbruch von Gewalt und ungeheurem Schrecken in den Alltag. So Wenn die Gasopfer beschreiben, wie ihnen durch das Sarin urplötzlich und unerklärlicherweise schwarz vor Augen wurde, so ist dies ein Bild für den von Menschen erfahrenen Fall aus der scheinbar sicheren Klarheit ihres bisherigen Lebens.
Da spielt es keine Rolle, ob das Unheil von islamischen Fundamentalisten, russischen oder amerikanischen Soldaten oder von der Aum-Sekte kommt. Aber auch der alltägliche Kleinkrieg zwischen Menschen kommt ins Bild, wenn diese von ihren Erfahrungen berichten und über ihre posttraumatischen Erinnerungen reden. Das tun sie in Monologen, einzeln, gegen- und miteinander, immer wieder aber auch chorisch. Denn hier verdichten sich individuelle Erfahrungen zu gesellschaftlichen. Dabei kommen Konkurrenz, Aggression und kleine Nickligkeiten selbst in schockhaftesten Erinnerungssituationen vor.
Die Aufführung ist eine spielerische Untersuchung, die ihre Antworten locker nebeneinander in den Raum streut. Hier sind wieder Pathos noch Ironie im Spiel. Aber viel Ernst und Witz. Gegliedert wird die Aufführung durch 5 Teepausen und 5 Karaokesessions. Während in letzteren zu Liedern von Nena oder Ideal, Element of Crime oder Ulla Meinecke immer ein Darsteller nach dem richtigen im falschen Leben fragt, spielen die anderen Reise nach Jerusalem. Jeder muß auch mal im doppelten Wortsinn, buchstäblich wie übertragen, die Hosen runterlassen: wenn er erklärende Interviewpassagen nach zu spielen hat. Solche Situationen werden mit flapsigen Kommentaren als szenisches Vorspiel unter Kollegen markiert: geh ruhig mal auf Inhalt, ruft da einer. Oder das Publikum wird gefragt: "Ist das jetzt echt oder gemacht?" Oder grundsätzlicher: "Glauben Sie, daß Kunst noch irgend jemandem Asyl bieten kann?"
Das ganze: ein selbstreflexives, ernsthaft unterhaltsames Spiel und ein theatraler Bastelkasten. Munter wird zwischen allen diskursiven Ebenen hin und her gesurft. Es wird mit den Antworten der Aum-Attentätern nach den Gründen von Terrorismus und Selbstaufopferung gefragt. Und nach dem Sinn, der darin liegen könnte, für eine Sache zu sterben. Die Inszenierung schwankt zielsicher zwischen plakativer Deutlichkeit und stiller Unsicherheit: Mal tobt man mit einem Basketball mit Coca-Cola-Logo herum, dann wieder sitzten die Schauspieler mit ihren ins Innere ihrer Figuren, aber auch ans Publikum gerichteten Fragen einfach nur am Bühnenrand. Antworten gibt es keine, Antworten gibt es viele.
In Dresden zeigt ein Theater seinen Arbeitsprozess so intelligent wie spielerisch vor. Das ist vielleicht nicht gleich hohe Schauspielkunst, aber in fast jedem Augenblick auf der Höhe der Zeit und ganz bei den Fragen seines Publikums. Das anderthalb Stunden mitging und dranblieb bei diesem unprätentiösen politischen Gegenwartstheater.
Link: mehr ...
1228.html