Sonntag, 28. April 2024

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Uraufführung von "Aus Staub"
Alle in einer Wohnung

Aus den Trümmern der Vergangenheit hat man nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadt Frankfurt wiederaufgebaut. Jan Neumann erzählt in seinem Auftragsstück "Aus Staub" vom Leben der Menschen in einer so wieder aufgebauten Wohnung. Nun wurde das Werk an den Frankfurter Kammerspielen uraufgeführt.

Von Cornelie Ueding | 02.10.2018
    Friederike Ott wischt dynamisch staub im Theaterstück "Aus Staub" am Schauspiel Frankfurt
    Friederike Ott im Theaterstück "Aus Staub" am Schauspiel Frankfurt (Schauspiel Frankfurt / Felix Grünschloß)
    Aus Staub bist du und zu Staub wirst du zurückkehren - der Titel von Jan Neumanns Frankfurter Projekt weckt düstere biblische Assoziationen und lässt tiefgründig Metaphysisches erwarten. Doch, erstmal jedenfalls, geht es "nur" um Hausstaub. Genauer: um den Staub, aus dem die Frankfurter Trümmerverwertungsgesellschaft TVG nach dem Zweiten Weltkrieg Material für den Wiederaufbau der Stadt gewann. 13 Millionen Tonnen Trümmer wurden systematisch geschreddert, vermischt und zu Pressziegeln wiederaufbereitet. Vor allem natürlich, um Baumaterial zu sparen, aber auch, um das neue Frankfurt aus dem Stoff zu bauen, der einmal die alte Stadt Frankfurt am Main gewesen ist.
    So auch in der Wohnung Schubertstrasse 45, 2. Stock links, die 1950 aus Ruinen auferstanden war und deren Schicksal bis zu ihrem Abriss 68 Jahre später wir in den folgenden zwei Stunden gedankenschnellen, leichtfüßigen Theaters näher kennen lernen. Genauer gesagt: das ihrer Bewohner, die dort ein paar Jahre, Jahrzehnte oder auch nur Tage verbringen werden.
    Ein italienischer Gastarbeiterjunge der ersten Generation mausert sich in diesem virtuosen Spiel mit Klischees – und ohne dass die Figuren denunziert würden - vom "nix verstehn"-Migranten zur Persönlichkeit. Eine propere, wie der Persil-Werbung der 50er Jahre entsprungene, stets heiter tirilierende blonde junge Frau mit ihrem kleinen Söhnchen taucht auf. Später kommt ein international tätiger Unternehmensberater, der sich wegen einer neuen Freundin in die kleinbürgerliche Schubertstraße verirrt und dort nach drei Monaten Schlaflosigkeit zum Therapiefall wird. Aus seinem routinierten "alles wunderbar", "alles super", Alles-im-Griff-Gehabe werden jämmerlich mechanische Lachsalven, die im Wimmern enden.
    Durch jeden Wohnungswechsel stirbt etwas
    Aufbauphase, Wirtschaftswunderoptimismus, die anarchistisch-theoriedurchsetzten 68er Jahre, quirlig-quasselnder Feminismus, Wende-Euphorie mit einem Schuss Ressentiment, Neoliberalismus - im Schnelldurchlauf erleben wir, wie sich zwischen den bescheidenen vier Wänden aus hohlen Pressziegeln neue Denkweisen, Trends, Ideologien aufbauen - und wieder zu Schutt und in Staub zerfallen.
    Also doch ein verdecktes "zu Staub werdet ihr"-Menetekel? Mit dem Tod, der hinter der Wohnungstür lauert? In der Tat, mit jedem Wohnungswechsel stirbt etwas, geht ein Leben, eine Idee, eine Hoffnung, ein kleines Stück gelebter Wirklichkeit verloren. Aber irgendwie hält diese Wohnung all ihre Bewohner auch zusammen. Der Sohn der alleinerziehenden "Hupfdohle" wächst heran, schaut ab und an bei seiner Mutter vorbei und lässt sich mit Kuchen das kritisch nach seinem Vater und der Nazizeit nachfragende Maul stopfen. Verschanzt zwischen Spitzengardinen wehrt sie die Wirklichkeit ab. Fast bis zum bitteren Ende. Aber da hört ihr der seinerseits in die Jahre gekommene Sohn längst nicht mehr zu.
    Nicht ein einziger Moment der Leere
    Gegen Ende, nach all den erlebten, durchlebten Episoden wird die Wohnung – alt. Und dämmert dem Abriss entgegen. Und die einstigen Bewohner geistern gedankenleer und verloren durch die Zimmer ihrer nicht mehr taufrischen Erinnerungen – werden abgeholt oder ziehen aus – verschwinden. Was bleibt? Staub, Spuren. In jeder Ritze klebt ein Rest von uns, selbst wenn wir längst gegangen sein sollten.
    Die theatralischen Bewohner der Schubertstraße bewältigen die verschiedenen Rollen im Tür-auf-, Tür-zu-Modus so virtuos und schwerelos, dass man förmlich spüren kann: Dies ist ihr Projekt, eine von ihnen mitentwickelte, mit erarbeitete, tragfähige Form, bei der ein Stücktext erst während der Proben entsteht. Die besondere Qualität dieses Abends besteht darin, dass die Rollenspieler den anrührenden Schwebe- und Spannungszustand zwischen Komik, Sentimentalität und tragischen Momenten so perfekt ausbalancieren, dass nicht ein Moment der Leere, des Desinteresses oder der Langeweile aufkommt.