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Uraufführung von "Qui a tué mon père"
Todesopfer des Sozialabbaus

Der junge Autor Édouard Louis, Arbeiterkind und Shootingstar der französischen Literatur, klagt an: Politik und Sozialabbau hätten seinen Vater getötet. Sein Buch "Qui a tué mon père" ist im Januar auf Deutsch erschienen. Stanislas Nordey bringt den Roman nun in Paris auf die Bühne - und spielt selbst.

Von Eberhard Spreng | 13.03.2019
Stanislas Nordey inszeniert am Théâtre de la Colline "Qui a tué mon père" von Édouard Louis
Stanislas Nordey, Intendant am Théâtre de la Colline in Paris, spielt selbst in "Qui a tué mon père" (Théâtre de la Colline / Jean-Louis Fernandez)
Zwei Männer sitzen sich auf leerer, großer Bühne an einem simplen Tisch gegenüber, der eine spricht, der andere hockt da, bewegungslos, leicht in sich gesunken. Es ist eine lebensgroße Silikonpuppe, die hier zum Ansprechpartner wird für eine Reihe von Kindheitserinnerungen. Erinnerungen an die Missachtung des femininen Jungen innerhalb des Arbeiterhaushaltes, Geschichten des Unverständnisses eines Vaters, der im klassischen Rollenbild des proletarischen Mannes gefangen ist. Édouard Louis zeichnet so das Porträt eines Malochers, der einen Arbeitsunfall erlitten hat und mit einer bleibenden Behinderung ein trostloses Dasein fristet:
"Du kannst nicht mehr Auto fahren, keinen Alkohol mehr trinken, du kannst nicht mehr duschen oder arbeiten, ohne ein gewaltiges Risiko einzugehen. Du bist gerade mal 50 Jahre alt. Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat."
Vervielfachte Vaterpuppe
Mit äußerster Klarheit in Wort, Gestus und Bewegung gibt Stanislas Nordey im eindreiviertel Stunden langen Solo den Monolog des Édouard Louis, der bereits in seinem autobiografischen Debütroman "En finir avec Eddy Bellegueule", zu Deutsch: "Das Ende von Eddy" von seinem schwierigen Vaterverhältnis erzählt hatte.
Auch hier mischen sich in die unterschwellige und immer wieder auch handfeste Ablehnung des hoch talentierten Jungen durch den bildungsfernen Vater Momente der Zärtlichkeit und des Verständnisses. Etwa, wenn der Vater seinem Sohn, obwohl er "Titanic" als einen Film für Frauen ablehnt, eine teure Sammleredition schenkt, mit Filmkassette, Fotoalbum und Schiffsmodell.
Immer wieder wird die Bühne für Momente schwarz und wenn das Licht wieder angeht, steht, hockt, liegt eine weitere lebensgroße Vaterpuppe auf der Bühne, allesamt mit weinrotem Hemd und lappiger heller Hose. Immer in Körperhaltungen der Qual, als Zeugnisse eines langen schmerzhaften Prozesses. Jeder neue Aspekt der Erzählung, jede neue Farbe im Porträt des Vaters zeigt sich also in der Entwicklung dieses Gruppenbildes.
Nur einmal, wenn es um eine blutige Schlägerei in der Familie geht, senkt sich ein schwarzer, zerknüllter Plastikvorhang über der Vorderbühne. Der missachtete Sohn macht sich schuldig als Denunziant und löst eine Gewaltorgie aus, der die Mutter beinahe zum Opfer gefallen wäre.
Das Leiden des Körpers als soziale Studie
Édouard Louis’ literarisches Projekt besteht darin, die Gewalt, vor allem aber das Leiden der Beherrschten unter der politischen Klasse als ein Leiden der Körper zu erzählen. Es geht um ein "J’accuse", das den Klassenbegriff aus der Abstraktheit der soziologischen Debatte holt. Die unmittelbare Wirkung von neoliberalem Sozialabbau auf den kranken Körper des Vaters soll beleuchtet werden.
"Im Jahr 2009 ersetzt Nicolas Sarcozys Regierung und dessen Komplize Martin Hirsch das RMI, das Arbeitslosengeld durch das RSA. Jetzt musstest du trotz deines kaputten Rückens als Straßenfeger arbeiten. Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben deinen Rücken ruiniert. "
Erst Chirac, dann Sarkozy, schließlich Hollande und Macron. Nordey lässt die Namen der Politiker am Ende des nunmehr kaum noch anders denn als Anklageschrift zu verstehenden Textes knallen wie Hiebe im großen Saal des Nationaltheaters. Édouard Louis hatte sich als erster französischer Intellektueller mit den Gelbwesten solidarisch erklärt und in seinen Text vom Dezember wiederum von verbrauchten Körpern und Gesichtern gesprochen.
Das Schicksal des vorzeitigen Todes ist das Hauptargument seiner Anklage, "Die Geschichte deines Körpers klagt die politische Geschichte an" heißt es auf dem Klappentext der französischen Ausgabe. Stanislas Nordey, Auftraggeber und nun Interpret von Édouard Louis’ Brandrede, ist von unübertrefflicher Schärfe und Klarheit. Die Silikonpuppen des geschundenen Vaters hat er nun an den Bühnenrändern abgelegt, sie sind jetzt zu Todesopfern der Sozialabbaus geworden.
Der Sohn spricht für den Vater, der Literat für die, die keine Stimme haben. Natürlich hat die Wirklichkeit der Gelbwestenproteste dieses Projekt inzwischen überholt. Das stumme Frankreich hat sich eine Stimme verschafft. Und dennoch: Das subventionierte Theater, dem mitunter die fehlende Solidarität mit der Bewegung der Gilets Jaunes vorgeworfen wird, es kann nicht mehr tun, als solche Bilder zu zeigen und solche Worte zu sprechen.