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Édouard Louis: „Wer hat meinen Vater umgebracht“
Klartext, der wehtut

In seinem gefeierten Debütroman hatte Édouard Louis den Schwulenhass seines Vaters bloßgestellt. In seinem neuen Buch „Wer hat meinen Vater umgebracht“ attackiert er nun das politische System, das seinen Erzeuger zu dem gemacht hat, der er ist. Eine aufwühlende, provozierende Streitschrift.

Von Christoph Vormweg | 06.02.2019
    Der Schriftsteller Edouard Louis und sein Roman "Wer hat meinen Vater umgebracht"
    "Wer hat meinen Vater umgebracht" ist in Edouard Louis' neuem Buch eher eine Feststellung als eine Frage (Buchcover Fischer Verlag / Autorenportrait JOEL SAGET / AFP)
    Die Wutreden des Vaters im Suff, seine Unfähigkeit, die Homosexualität des Sohns zu akzeptieren, sein Unfall in der Fabrik, der ihn zum Sozialfall machte: Das alles kam schon vor in Édouard Louis' autobiografischem Debütroman "Das Ende von Eddy". Warum dann noch ein Vater-Porträt - ohne Gattungsbezeichnung und mit dem provokanten Titel "Wer hat meinen Vater umgebracht"? Kommt jetzt die ganze Wahrheit?
    Zunächst einmal ist Édouard Louis' 77-seitiger Text eine Art Fortsetzung. Er erzählt darin, was geschah, nachdem der heranwachsende Eddy den väterlichen Machtbereich in der verarmten, nordfranzösischen Provinz verlassen hatte. Der Hochbegabte erlebte die große Bildungseuphorie: erst auf dem Gymnasium in Amiens, dann an der Pariser Elitehochschule École Normale Supérieure, wo er Soziologie studierte. Auch für den Vater änderte sich das Leben fundamental: Erst setzte ihn seine Ehefrau vor die Tür, dann zwang ihn der Staat - trotz seines schweren Arbeitsunfalls -, als Straßenfeger zu arbeiten.
    Die Kategorie Menschen, die für einen verfrühten Tod vorgesehen sind
    In der Eingangsszene des Buchs beschreibt Édouard Louis den ersten Besuch bei seinem Vater nach Jahren. Der Vater ist Anfang fünfzig:
    "Als du aufstandst, um zum Klo zu gehen, und dann wieder zurückkamst, da konnte ich es sehen, da brachten diese zehn Meter dich zum Keuchen, du musstest dich hinsetzen, um wieder Atem zu schöpfen. Du entschuldigtest dich. Von dir Entschuldigungen zu hören, das ist neu, daran muss ich mich erst gewöhnen. Du erklärtest, du littest unter einer schweren Form von Diabetes, dazu noch das erhöhte Cholesterin, du könnest jederzeit einen Herzstillstand erleiden."
    Erneut besticht Édouard Louis durch seine literarischen Talente: seine feine Beobachtungsgabe, seine klare, eingängige Sprache, seine die Widersprüche freilegenden Zeitsprünge, seine Verdichtung des Erinnerten zu starken Bildern. Seine soziologischen Analysen sind diesmal aber zugespitzter als in den Romanen, politisch direkter, ja radikaler: Klartext, der wehtut.
    "Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat."
    Opfer seiner Lebensumstände
    Édouard Louis spielt hier die wissenschaftlich geschulte Distanz des sozialen Aufsteigers aus, der heute als freier Pariser Schriftsteller zur Bildungselite gehört. Er lebt auf einem anderen Stern als sein Vater. Und daran lässt er keinen Zweifel:
    "(Ich rede in der Vergangenheitsform von dir, weil ich dich nicht mehr kenne. Das Präsens wäre verlogen.)"
    Zwei harte Sätze, in Klammern gesetzt, in der Mitte des Buchs: Aus ihnen spricht der emotionale Zwiespalt des Édouard Louis. Denn aus sich herausreißen kann er seinen Vater nicht. Auf Erinnerungen an dessen homophobe Hassanfälle folgen Beschreibungen von Momenten der Nähe: so als er alte Fotos seines Vaters findet, die ihn als jungen Mann in Frauenkleidern zeigen. Mit anderen Worten: Das Raubein muss auch verdrängte feminine Seiten haben. Mehr noch: Der verbalen Peitsche stand immer das Zuckerbrot der väterlichen Geschenke gegenüber. Auch er wollte offenbar von seinem Sohn geliebt werden.
    Am Schluss des emotionalen Kontrastprogramms rückt dann immer stärker der Vater als Gesellschaftswesen in den Blickpunkt. Er erscheint als Opfer seiner Lebensumstände, als Opfer der jahrzehntelangen Politik des Sozialabbaus. Der neue Staatspräsident wird als Verkörperung des Neoliberalismus hingestellt:
    Sympathie für die Bewegung der "Gelbwesten"
    "August 2017. Emmanuel Macron nimmt den ärmsten Franzosen fünf Euro pro Monat weg, er behält fünf Euro pro Monat von der Wohnungsbeihilfe ein, die den ärmsten Franzosen hilft, ihre Miete zu zahlen. Am selben Tag oder so gut wie am selben, unwichtig, kündigt er eine Absenkung der Vermögenssteuer für die Reichsten an. Er findet, die Armen haben zu viel, die Reichen zu wenig. Seine Regierung erläutert, fünf Euro seien doch unerheblich. Sie haben keine Ahnung. Sie äußern solche kriminellen Sätze, weil sie keine Ahnung haben. Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller."
    Frei nach Édouard Louis' Devise: "Literatur muss kämpfen – für all jene, die selbst nicht kämpfen können."
    Das Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" ist so aufwühlend wie provozierend. Es gibt sich als Antwort an jene Medien zu erkennen, die Édouard Louis als Nestbeschmutzer hingestellt haben, als Verräter seiner bescheidenen nordfranzösischen Herkunft. Mit seinem Vater-Porträt und seiner erklärten Sympathie für die Bewegung der "Gelbwesten" demonstriert er das Gegenteil. Louis wirft die berechtigte Frage auf, ob politische Großbegriffe wie "die Herrschenden" oder "die Beherrschten" wirklich so verstaubt sind, wie viele behaupten, oder ob sie nicht vielmehr die Tatsachen beim Namen nennen. Den Schlusssatz seines Buchs überlässt er jedenfalls seinem Vater, einem jener "Beherrschten":
    "Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution."
    Édouard Louis: "Wer hat meinen Vater umgebracht"
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 77 Seiten, 16 Euro.