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Uraufführungsmarathon am Theater Augsburg

Augsburg ist die Stadt, aus der Brecht immer wegwollte. Aber jetzt muss man wieder hinfahren. Denn dort tobt der Regie-Nachwuchs. Der Augsburger Oberspielleiter Holger Schultze ist nämlich ein guter Mensch. Uneigennützig will er junge Talente fördern:

Von Christian Gampert |
    Die Idee kam vom Schauspielensemble und mir, dass wir gesagt haben, wir wollen ein Festival machen, jeder Schauspieler ist in drei Stücken drin. Wir wollten uns auch Stücke leisten, die sonst im Repertoire in Augsburg schwierig sind, und haben zusammen mit Vertretern des Ensembles uns diese Regisseure rausgesucht – das sind Nachwuchsregisseure von der Bayerischen Theaterakademie, von der Frankfurter Regieschule, eine Regieassistentin von Thomas Langhoff ist dabei. Wir haben gesagt, sie haben die Möglichkeit, zusammen mit uns die Stücke auszusuchen und quasi ihre Themen auf die Bühne zu bringen.

    Und es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, für was junge Menschen offen sind: für den Krieg, für den Konflikt der Religionen, für die Probleme der Sozialarbeit und des Klonens, sogar für die Sexualität der Jesuiten (damit beschäftigt sich der Jesuit Dominik Finkelde, der ein Theaterstück geschrieben hat) hegt man großes Interesse.

    Es könnte aber auch sein, dass man sich eigentlich nur für Uraufführungen und Deutsche Erstaufführungen interessiert, völlig egal, wie misslungen die dramatischen Machwerke auch sein mögen. Denn dann kommen Kritiker und gucken junge Regisseure an.

    So also geschah es in Augsburg. Das Publikum wurde durch einen siebenstündigen Marathon gequält. Jeder bekam ein farbiges Armband und jede Gruppe einen Führer, gar mancher wurde zwecks Mitspieltheater auf die Bühne gezerrt, und überall loderte uns Kunst entgegen: in der Kassenhalle, im Pausenfoyer, im Hinterhof, im Keller, im Intendanzbüro, in einem Lastwagen – nur auf den Klos wurde nicht gespielt. Klammer des ganzen Abends ist das "Chasarische Wörterbuch", die Dramatisierung eines Romans des Serben Milorad Pavic:

    Das Chasarische Wörterbuch ist ein Stück, in dem es um die drei Religionen geht, Christentum, Judentum, Islam. Und die Chasaren waren ein Volk, das sich für keine Religion entscheiden konnte – und so ist das eigentlich ein hochaktueller Konflikt, der da verarbeitet wird.

    Die Chasaren, so stellt sich heraus, sind Augsburger Statisten, die man sich von der Uni und den Schulen, aus den Discos und Fitness-Studios geholt hat. Sie sind nur mit einem Lendenschurz bekleidet, der nackte Körper ist mit seltsamen Schriftzeichen versehen. Man hat ihnen beigebracht, unverständliche Laute in einer Phantasiesprache auszustoßen und in halbtierischer Haltung vor uns herumzulungern. Edle Wilde also, oder auch dumme Wilde, auf alle Fälle Leute, die nicht wirklich Theater spielen können.

    Aber sie weisen uns nun den Weg durch den zoologischen Garten der Gegenwartsdramatik – zum Beispiel durch das Stück "Fräulein Danzer" von Marius von Mayenburg, das bislang zurecht nicht uraufgeführt wurde, und in dem eine Sozialarbeiterin auf die Familie Lützke losgelassen wird.

    Dann waren wir natürlich froh, eine Mayenburg-Uraufführung herzubekommen, "Fräulein Danzer". Die Stücke haben sehr unterschiedliche Handschriften, sind auch von den Regiestilen sehr unterschiedlich: Bei "Flatterzunge" ist das mehr ein Stück, das mit Schattenspiel arbeitet, Mayenburg ist ein sehr trashiges Stück, dann haben wir ein Wanderstück im großen Haus, und für uns war es einfach wichtig, dieses Stadttheater aufzubrechen und dadurch neue alte Theaterformen wiederzuentdecken.

    Mayenburgs pubertäres Geschreibe wird von der Regisseurin Ragna Kirck in der Tat mit einem sehr alten Theatermittel in Gang gesetzt: dem der peinlichen Übertreibung. Auch Mayenburgs "Monsterdämmerung" ist bei ihr ein brüllendes Spektakel, zappelnde Schauspieler, die ein bisschen Geschlechtsteile abschneiden, Tampons hochhalten und mit Blut spritzen dürfen. Irgendjemanden wird’s schon aufregen.

    Einen tollen Schauspieler habe ich gesehen. Er heißt Frank Siebenschuh und spielt mit Katharina Quast ein Bürgerkriegs-Stück vom Balkan, der Soldat und das Mädchen, ganz sparsam und vorsichtig.

    Der Rest ist braves Happening, in jedem Winkel des großen Hauses hocken Vertreter der drei Weltreligionen und wollen die Chasaren (und das Publikum) von ihrem Weg des Heils überzeugen, auf der großen Bühne versucht man nachts um elf, das "Chasarische Wörterbuch" zu rekonstruieren, ledernes Demonstrationstheater das alles.

    Aber wir wollen nicht meckern. Wahrscheinlich steckt unter all den jungen Talenten der neue Peter Stein. Er muss nur noch inszenieren lernen.

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