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Urfischchen
Auf dem Weg zum ersten Biss

Paläontologie. - Die Kiefer der Wirbeltiere haben sich aus Kiemenbögen entwickelt, die sich immer mehr verdickten, bis sie stabil genug waren, um als Kauapparat zu dienen. So lautet die entsprechende Hypothese der Evolutionsbiologen. Bemerkenswert gut erhaltene Fossilien aus dem Kambrium zeigen jetzt, dass diese Hypothese offenbar zutrifft. Sie sind in der aktuellen "Nature" publiziert.

Von Dagmar Röhrlich | 12.06.2014
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    Rekonstruktion der 505 Millionen Jahre alten Metaspriggina walcotti, eines Chordatiers mit verdickten Kiemenbögen. (Nature/Marianne Collins, Simon Conway Morris, Jean-Bernard Caron)
    Der Legende nach soll am 30. August 1909 das Pferd von Helen Walcott in den kanadischen Rocky Mountains über einen Stein gestolpert sein. Ihr Mann war niemand anderes als die Paläontologen-Legende Charles Walcott. Der stieg ab und sah sich diesen Stein genauer an: Das war der Moment, als eine der wichtigsten Fossilfundstätten der Welt entdeckt wurde - die Burgess-Schiefer:
    "Zu den Fossilien, die Charles Walcott damals ins Smithsonian Institute brachte, gehören zwei leider nicht sehr gut erhaltene Exemplare eines Fischs, der 1993 den Namen Metaspriggina walcotti erhielt. 2012 entdeckte dann mein Kollege Jean-Bernard Caron vom Royal Ontario Museum ganz in der Nähe der Burgess-Schiefer eine zweite Lagerstätte, die äußerst reich an Fossilien ist. Von dort brachte er unter anderem Dutzende Exemplare von Metaspriggina mit. Die Arbeit mit diesen Fossilien war wundervoll, und mit jedem Stück, das wir freilegten, entdeckten wir neue, aufregende Details",
    erzählt Simon Conway Morris von der University of Cambridge. Manche der Fossilien waren so sehr gut erhalten, dass die Forscher selbst die Leber erkennen konnten, den Mageninhalt und vor allem den Aufbau der Muskeln.
    "Wenn Sie sich bei einem Fischhändler einen Lachs anschauen, erkennen sie das für Fische typische Zick-Zack-Muster, das aussieht wie ein W. Genau dieses Muster sehen wir auch in diesen Fossilien."
    Die bis zu 40 zickzackförmigen Muskeln legen nahe, dass Metaspriggina zu Lebzeiten wohl eine gute Schwimmerin war. Ein knöchernes Skelett besaß sie noch nicht, dafür gab ein Stab aus Knorpel ihrem schlanken Körper Halt. Am ehesten habe das Tier wohl an eine Sardine erinnert, überlegt Simon Conway Morris - nur dass Metaspriggina am Anfang der langen Entwicklung zu den modernen Fischen steht:
    "Wenn wir Metaspriggina untersuchen, erkennen wir eindeutig sehr große Augen, die wahrscheinlich mit Linsen ausgerüstet und damit für die damalige Zeit modern waren. Ihre gute Sehfähigkeit spricht dafür, dass es sehr aktive Tiere waren. Wir erkennen vorne am Kopf auch so etwas wie eine Nase. Flossen sehen wir nicht. Aber das kann auch daran liegen, dass sie sich nicht erhalten haben. Auf jeden Fall besaß das bis zu sechs Zentimetern lange Fischchen noch keine Kiefer. Es saugte wahrscheinlich Wasser ein, aus dem es kleine Nahrungspartikel filterte. Es würde mich jedoch nicht überraschen, wenn es auch größere Beute eingesogen hätte, aber das wissen wir nicht."
    Allerdings war Metaspriggina wohl eher die Beute für die großen Jäger ihrer Zeit, die Gliederfüßer. Große Augen, guter Geruchssinn und kräftige Muskeln sind auch sehr nützlich, wenn man schnell die Flucht ergreifen muss.
    "Am interessantesten sind jedoch die Kiemen, denn die werden von knorpeligen Kiemenbögen gestützt. Das ist deshalb so aufregend, weil wir wir schon seit langem wissen, dass unsere Kiefer aus dem ersten dieser Kiemenbögen hervorgegangen sind. Metaspriggina besitzt sechs Kiemenbögen. Und die sehen genauso aus, wie wir es seit langem für den idealen Urahnen aller kiefertragenden Wirbeltiere angenommen haben: Wir sehen also unsere Hypothesen in einem wirklichen Fossil bestätigt."
    Der erste Kiemenbogen scheint bei Metaspriggina schon etwas dicker ausgebildet zu sein. Vielleicht, so überlegen die Forscher, war das bereits der erste Schritt zum Zubeißen. Metaspriggina stehe also für einen ganz entscheidende Stufe in der Evolution, erklärt Simon Conway Morris. Selten scheint der kleine Fisch jedenfalls nicht gewesen zu sein. Vielleicht schwamm er sogar wie Sardinen in Schulen - aber das lässt sich nach einer halben Milliarden Jahre nicht mehr beweisen.