Ein Löffel, ein zweiter, ein dritter und ein vierter… Vier gehäufte Löffel Zucker kippt Hotelbesitzer Sivan in sein winziges Teegläschen, bevor er sorgfältig umrührt. Kurdischer Schwarztee – das ist eher Zucker mit Tee als Tee mit Zucker, erklärt er mit Schweizer Akzent und nimmt einen Schluck. Mehr als zehn Jahre hat der stämmige Sivan in Luzern gelebt, als Türsteher gearbeitet. Jetzt führt er ein kleines Hotel im nordirakischen Suleymaniah, seiner Heimat. Das Geschäft brummt.
"Oh, von überall! Von Amerika, von Deutschland, von Italien, von Spanien, von Russland… Ja, die kommen von überall."
Sivan kippt seinen zuckersüßen Tee hinunter, geht die Liste mit den belegten Zimmern durch. Es sind vor allem junge Touristen, mit Rucksack und kleinem Budget, die bei ihm unterkommen um die zweitgrößte Stadt des Irak zu besichtigen. Und es werden immer mehr.
"Vor fünf Jahren glaube ich, die waren noch nicht so viele hier. Aber jetzt, die kommen regelmäßig. Ich glaube, es kommt noch besser. Weil jetzt die haben angefangen. Und sowieso ist Suleymaniah nicht wie vorher. Es ist groß geworden. Es gibt genug Arbeit und schöne Plätze auch. Für Ferien, Urlaub, Arbeit…"
Nur ein paar Minuten von Sivans Hotel liegt der Basar von Suleymaniah. Hier, im Zentrum, gibt es alles, was man zum Leben braucht: Geräuchertes Fleisch hängt an großen Haken neben glitzernden Abendkleidern; Oliven, Käse und Gewürze türmen sich in weißen Bottichen am Straßenrand; nur ein paar Meter weiter glänzen Vitrinen voller Goldschmuck neben Plastik-Kinderspielzeug und handgewebten Teppichen.
Irgendwo mitten in diesem Gewühl steht der 60-jährige Daren, lächelt freundlich unter seinem Schnauzbart hervor. Seine Waren hat er als mannshohe Pyramide neben sich aufgestapelt: Gläser, Eimer, Pötte und Flaschen voller goldgelbem Honig. Fast liebevoll fährt Daren mit den Fingern über sein Angebot:
"Dieser Honig hier ist weiß, der da eher bräunlich und hier haben wir einen goldgelben… Warum? Weil es da, wo der herkommt, Sonnenblumen gibt. Die Farbe hängt immer vom Herkunftsort ab, an einigen kalten Orten wird der Honig ganz weiß."
Daren greift eine Plastikbox aus dem Regal. Eine handtellergroße Bienenwabe schwimmt darin in einem Bad aus klarem, gelbem Honig. Der hier, sagt er und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch, während er den Deckel vorsichtig abnimmt, ist unser bester.
"Den holen wir aus den Kandilbergen an der Grenze zur Türkei. Warum er besser ist als alle anderen? Wenn die Bienen in den Bergen leben, wird der Honig schmackhafter, weil die Blumen dort vielfältiger und aromatischer sind."
Während seiner letzten Worte kramt Daren eine Handvoll bunte Plastiklöffel hervor. Guten Honig, brummt er, erkennt man sowieso nur am Geschmack. Wenn die Masse langsam auf der Zunge zergeht.
Mit dem süßen Geschmack der nordirakischen Kandil-Berge im Mund geht es weiter durch den Basar. In jeder der kleinen Gassen links und rechts tut sich eine völlig neue Welt auf. Da ist der Goldbasar, in dem kurdische Mütter und Schwiegermütter gleich kiloweise Schmuck für zukünftige Bräute kaufen. Und da ist der Gewürzmarkt, angekündigt durch den strengen Geruch von getrocknetem Kreuzkümmel. Die schmalen Gassen säumen hier hüfthohe Säcke mit Pfeffer, Koriander, Nüssen und Tee.
All die Farben und Gerüche begleitet ein leises Klickern: Ununterbrochen gleiten die Perlen der Gebetsketten durch die Finger der alten Männer, die auf Hockern zwischen ihren Waren sitzen. Um den Kopf – fast wie einen Turban – ein Tuch gebunden, den Körper in einem der traditionellen Gewänder, die es nur hier, in Kurdistan gibt: weite, pludrige Hosen mit tief hängendem Schritt. Dazu ein breiter Stoffgürtel und eine Art Jackett im gleichen Stoff wie die Hose.
Der alte Schneider Abdullah ist spezialisiert auf die traditionelle kurdische Tracht. In seinem dreimal drei Meter großen Laden steht er – selbst mit Pluderhose und Turban – zwischen Bergen aus Stoffresten an einem rostigen Bügeleisen. Stolz hält er ein fertiges Exemplar in die Luft.
"Das hier ist das Oberteil und das die Hose dazu. Das trägt man bei uns seit jeher, tagein tagaus... Im Winter, wenn es kalt ist, tragen wir noch extra etwas Warmes drunter. Es ist die bequemste Kleidung für uns – und vor allem die beste!"
Bei seinen letzten Worten wird Abdullah plötzlich ernst. Seit 60 Jahren arbeitet er in diesem Laden, unzählige solcher Trachten hat er geschneidert, genau wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Jetzt aber ändern sich die Zeiten in Kurdistan.
"Nur noch an Feiertagen tragen alle diese Trachten, auch die Frauen ziehen dann ihre bunten kurdischen Kleider an. Jede und jeder hier hat sie im Schrank. Aber die Jungen ziehen sie immer weniger an! Menschen wie Lehrer usw., die tragen heute einfach Hosen und Jacketts!"
Die kurdische Gesellschaft verändert sich. Satellitenfernsehen, Internet und Globalisierung ziehen auch an dieser wie vergessen wirkenden Region nicht spurlos vorbei. Während ihre Großväter noch in Pluderhosen durch die Straßen von Suleymaniah schlurfen, stolziert die junge Generation in knallengen Jeans, glänzenden Syntetik-Hemden und polierten Schuhen vorbei. Statt Turbanen tragen sie jede Menge Gel auf, statt der klickernden Gebetsketten halten sie Handys in den Händen.
Wer durch den Nordirak reist, der sieht dieses Nebeneinander von Alt und Neu, Tradition und Moderne auf Schritt und Tritt. Sogar wer in Suleymaniah einheimische kurdische Küche sucht – wie den in der ganzen Region verbreiteten Getreidebrei Harissa oder mit Reis gefüllte Weinblätter – muss inzwischen länger suchen, als der, der sich mit Cheeseburger oder Pizza zufriedengibt. Selbst die traditionellen kurdischen Teehäuser sind nur noch Treffpunkt der Alten. Die Jugend von Suleymaniah trifft sich lieber in der Shopping Mall am Stadtrand oder in einem der hippen Cafés, wie dem Café Melodi.
Nicht wegen Latte macchiato oder Cheesecake könnte es einen als Touristen an solche Orte verschlagen. Doch wer nach einem Tag im Basar von Suleymaniah auch das andere Gesicht der Stadt sehen will, das junge Gesicht, der ist im Café Melodi an der richtigen Adresse. Auf roten Ledersesseln sitzen hier kurdische Studenten, träumen von großen Autos, erfolgreichen Karrieren und viel zu oft von einem Leben in Europa oder Amerika. Die fließend englisch sprechende Kellnerin serviert Milchshakes und Sandwich – und winkt irgendwann das eigentliche Highlight des Abends heran: Zardasht Kamal, 22 Jahre alt!
"Vor etwa sieben Jahren habe ich das Klavierspielen entdeckt. Ich habe festgestellt, dass ich Melodien einfach nachspielen konnte und irgendwie ein Talent für Musik habe."
Zardasht, guckt von seinen Fingern auf, dann wieder nach unten. So ganz kann er sich nicht entscheiden, ob er schüchtern oder stolz sein soll, wenn er seine ungewöhnliche Geschichte erzählt.
"Die Situation hier im Nordirak war so, dass es absolut unmöglich war, einen guten Lehrer zu finden. Der, den ich dann zufällig fand, konnte mir wenigstens Notenlesen und ein paar kleine Anfänge zeigen. Danach habe ich Anleitungen im Internet gefunden und immer andere Musiker gefragt."
Zardasht spielte auf billigen Keyboards, auf fremden Klavieren und manchmal auch einfach nur auf der Tischkante. Vor allem aber spielte er heimlich.
"Weil ich ein guter Schüler war, dachte mein Vater, wenn ich Klavier spiele, würde ich mich verschlechtern. Er wollte nicht, dass ich Musik mache – er hatte auch keine Ahnung davon. Also hat er wieder und wieder versucht, es mir zu verbieten. Ich habe trotzdem weiter gemacht, heimlich."
Zardasht dehnt die Finger und setzt sich an das leicht verstimmte Klavier in der Ecke. Seit einem Jahr sitzt er jeden Abend im Café Melodi und spielt, oft, bis der letzte Gast gegangen ist. Tagsüber arbeitet er weiter als Elektroingenieur. Von Musik oder Kunst leben, das kann in Kurdistan bis heute kaum jemand.
Der nächste Morgen, noch versteckt sich die Sonne hinter dichten Wolken, die Luft ist angenehm kühl. Wer sich im Nordirak günstig fortbewegen will, der steigt in den Bus oder mit anderen Fahrgästen in ein Sammeltaxi und düst zu scheppernder Radiomusik durch die trockene, manchmal an riesige Dünen erinnernde Landschaft.
Auf der Strecke vom lebhaften Suleymaniah in die kurdische Hauptstadt Erbil liegt der dreieckige Dukan-See, Lieblingsausflugsziel irakischer Wochenendausflügler. Vor mehr als 50 Jahren wurde er zu Stromgewinnung und Wasserspeicherung künstlich angelegt. Heute bevölkern vor allem am Wochenende unzählige Familien die Ufer mit ihren Picknickkörben. Die ganz eigene, raue Schönheit des Nordirak, mit schneebedeckten Gebirgsketten, atemberaubenden Wasserfällen, Granatapfel-, Feigen- und Walnusswäldern, lässt sich am besten hier, fernab der boomenden Städte erkunden. Hier, wo Hinweise auf menschliche Besiedlungen bis ins sechste Jahrhundert vor Christus zurückreichen und wo dennoch immer wieder scheinbar unberührte Landschaften auftauchen – weil weder Massentourismus noch flächendeckende Industrialisierung bis hierher vorgedrungen sind.
Doch der Nordirak ist eine Region voller Gegensätze! Und so taucht nach nicht einmal drei Stunden Fahrt plötzlich Erbil auf. Das neue Dubai, wie die Nordiraker prahlen. Auf den mehrspurigen, frisch asphaltierten Straßen rauschen neue, möglichst große Autos vorbei, an allen Ecken der 1,5-Millionen-Stadt entstehen Wolkenkratzer und Shoppingmalls, Vergnügungsparks und Fünf-Sterne-Hotels. Wohin mit all dem Geld, das aus den immer neuen Ölquellen sprudelt, scheint man sich hier zu fragen?
Zwischen all dem versucht Lolan Sipan etwas von dem festzuhalten, was Kriege und Zerstörungswut, Fortschritt und Globalisierung beinahe ausgerottet haben: Traditionen und Kultur der kurdischen Stammesgesellschaften.
"Vor sieben Jahren haben wir das kurdische Textilmuseum eingerichtet. Die Idee ist, das kulturelle Erbe dieses Landes zu bewahren. Wenn wir von Saddam Hussein sprechen, dann sagen wir, er war ein Diktator und er war gegen die Menschen… Aber er war auch gegen den natürlichen Lebensraum! Er hat Tausende Dörfer zerstört, Tiere getötet und Stämme zwangsumgesiedelt. Sogar das Kunsthandwerk, die Webetradition, das Geschichtenerzählen… Es ist unfassbar, wie all das durch die Zwangsumsiedlung ausgestorben ist."
Lolan Sipan sitzt in einem historischen Haus mitten im Zentrum von Erbil. Die Wände ringsherum sind über und über mit bunten, handgewebten Teppichen, Vorhängen und Kleidern behängt. 400 Ausstellungsstücke hat Lolan erst privat, dann mit Unterstützung der Regierung für das Textilmuseum aus allen Winkeln Kurdistans zusammen getragen. Nachdenklich steht er auf und tritt an eine hüfthohe Glasvitrine heran, in der 33 bunt bestickte Hütchen aufgereiht sind. Jeder Hut steht für einen Stamm, erklärt Lolan .
"Jeder Stamm hat sein eigenes, besonderes Design. An den Mustern kann man sehen, welches Kleidungsstück zu welchem Stamm gehört. Die Webarbeiten der Nomadenstämme zum Beispiel sind besonders farbenfroh, weil sie bis hoch in die Haylan-Berge hinaufziehen, wo es alle möglichen Pflanzen gibt, die sie dann zum Färben der Stoffe nehmen."
Lolan zeigt mit dem Finger auf die Wände ringsherum, deutet auf Babytragetücher, Satteltaschen und Pluderhosen – alles aus Schafswolle handgewebt, natürlich gefärbt mit Früchten, Insekten oder Kräutern. Über tausend Jahre lassen sich die Nomadentraditionen der Region zurückverfolgen. Doch Lolan winkt ab: Ein paar wenige Nomadenstämme ziehen immer noch durch die Berge Kurdistans, weiß er. Aber ihre Handwerkskünste gehen mehr und mehr verloren. Und so will er in seinem Museum nicht nur sammeln, sondern auch wiederbeleben.
"Wir haben alle überlebenden Nomadenweberinnen als Lehrerinnen zusammen geholt – und junge kurdische Mädchen als ihre Schülerinnen. Wir produzieren nur kleine Mengen – und alles per Handarbeit. Es ist wichtig für die nachkommenden Generationen, dass sie unsere Traditionen kennen. Das ist Teil unseres Erbes – und auch ein Teil des Welterbes."
Teil des Welterbes ist vor allem auch der Ort, an dem sich Lolans kleines Museum befindet: die Zitadelle von Erbil! Wenn die Floskel von der "Wiege de Zivilisationen" irgendwo zutrifft, dann wohl hier. Zwischen sechs- und achttausend Jahre alt ist der 32 Meter hohe Berg, auf dem die Zitadelle mit ihren gelben Gemäuern und labyrinthartigen Gassen über der Altsadt thront. Nach jahrzehntelangen Unruhen, nach Diktatur und Krieg, herrscht nun endlich Ruhe in Kurdistan. Genug, um die Zitadelle von Erbil zur Aufnahme als UNESCO-Weltkulturerbe vorzubereiten. David Mitchelmore strahlt wie ein kleiner Junge, wenn er nur daran denkt.
"Eines der Dokumente, das wir gefunden haben, ist eine Hymne an das historische Erbil, von 657 vor Christus. Es heißt dort, Erbil sei die Stadt des Vergnügens! Diese Zitadelle wiederherzustellen, sie zurückzubringen, heißt also, das Vergnügen zurück nach Erbil zu bringen."
Jeden Stein hier hat der britische Archäologe in den letzten sieben Jahren umgedreht. Mit jedem Weiteren wuchs seine Begeisterung nur noch weiter. Noch im Jahr 2004 thronte die Zitadelle wie vergessen auf ihrem Berg, bewohnt von irakischen Flüchtlingen, die mit Mörtel und Schutt neue Zimmer und Wohnungen zwischen den historischen Mauern schufen. Dann aber rief die kurdische Regierung David und seine Kollegen zur Hilfe.
"Das hier ist die älteste Form von einem Haus. Hier sieht man noch diese Fassade, mit ihren wundervollen Verzierungen, kleinteilig dekoriert.
Das besondere an diesen Häusern ist, dass die Räume keine Fenster haben. Ich schließe jetzt mal die Tür und sofort wird es stockdunkel. Die Idee dahinter war, die Räume im Sommer schön kühl zu halten."
David tritt wieder hinaus ans Sonnelicht, wischt sich mit einem Stofftaschentuch über die Stirn. Seinem dunklen Anzug sieht man die vielen Ausflüge in die Ruinen der Zitadelle an, die Schuhe überzieht eine weiße Schicht, als hätte er sie in einen Sack Mehl getunkt. Alle 350 historischen Häuser der "Stadt in der Stadt" hat David bis ins letzte Detail untersucht – im kommenden Jahr erscheint sein Führer, der auch Touristen helfen soll, sich im Gewirr der Gassen zurechtzufinden.
Der Tag neigt sich dem Ende. Die Mauern und Häuser der Zitadelle verlieren langsam ihre Konturen, unterhalb des Berges in der Altstadt von Erbil gehen die Lichter an. David tritt aus einem der historischen Häuser auf einen kleinen Balkon hinaus, von dem er die ganze Stadt überblicken kann. Überwältigt schweigt er einen Augenblick.
"Man hat hier die einzigartige Chance in einer mindestens 4000 Jahre alten Stadt herumzulaufen. Die Zitadelle von Erbil ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, wo man diese Erfahrung machen kann."
David verstummt wieder, lässt den Blick über die Stadt unter sich gleiten. Die Hauptstadt Kurdistans, mit ihrem traditionellen Basar, ihren alten Männern in Pluderhosen, aber auch ihren Wolkenkratzern und Shoppingmalls… Es wäre unangemessen zu sagen "Was für ein wunderschöner Anblick". Und doch, sagt David, könnte er hier den ganzen Tag stehen. Wer nach Kurdistan fährt, um die idyllische Schönheit der Südtiroler Berge wieder zu finden, oder die weißen Sandstrände von Kroatien, der hat das falsche Reiseziel ausgesucht. Wer aber ein Land und eine Kultur entdecken will, die seit Jahrzehnten wie vergessen daliegt, der sollte es jetzt tun!
"Oh, von überall! Von Amerika, von Deutschland, von Italien, von Spanien, von Russland… Ja, die kommen von überall."
Sivan kippt seinen zuckersüßen Tee hinunter, geht die Liste mit den belegten Zimmern durch. Es sind vor allem junge Touristen, mit Rucksack und kleinem Budget, die bei ihm unterkommen um die zweitgrößte Stadt des Irak zu besichtigen. Und es werden immer mehr.
"Vor fünf Jahren glaube ich, die waren noch nicht so viele hier. Aber jetzt, die kommen regelmäßig. Ich glaube, es kommt noch besser. Weil jetzt die haben angefangen. Und sowieso ist Suleymaniah nicht wie vorher. Es ist groß geworden. Es gibt genug Arbeit und schöne Plätze auch. Für Ferien, Urlaub, Arbeit…"
Nur ein paar Minuten von Sivans Hotel liegt der Basar von Suleymaniah. Hier, im Zentrum, gibt es alles, was man zum Leben braucht: Geräuchertes Fleisch hängt an großen Haken neben glitzernden Abendkleidern; Oliven, Käse und Gewürze türmen sich in weißen Bottichen am Straßenrand; nur ein paar Meter weiter glänzen Vitrinen voller Goldschmuck neben Plastik-Kinderspielzeug und handgewebten Teppichen.
Irgendwo mitten in diesem Gewühl steht der 60-jährige Daren, lächelt freundlich unter seinem Schnauzbart hervor. Seine Waren hat er als mannshohe Pyramide neben sich aufgestapelt: Gläser, Eimer, Pötte und Flaschen voller goldgelbem Honig. Fast liebevoll fährt Daren mit den Fingern über sein Angebot:
"Dieser Honig hier ist weiß, der da eher bräunlich und hier haben wir einen goldgelben… Warum? Weil es da, wo der herkommt, Sonnenblumen gibt. Die Farbe hängt immer vom Herkunftsort ab, an einigen kalten Orten wird der Honig ganz weiß."
Daren greift eine Plastikbox aus dem Regal. Eine handtellergroße Bienenwabe schwimmt darin in einem Bad aus klarem, gelbem Honig. Der hier, sagt er und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch, während er den Deckel vorsichtig abnimmt, ist unser bester.
"Den holen wir aus den Kandilbergen an der Grenze zur Türkei. Warum er besser ist als alle anderen? Wenn die Bienen in den Bergen leben, wird der Honig schmackhafter, weil die Blumen dort vielfältiger und aromatischer sind."
Während seiner letzten Worte kramt Daren eine Handvoll bunte Plastiklöffel hervor. Guten Honig, brummt er, erkennt man sowieso nur am Geschmack. Wenn die Masse langsam auf der Zunge zergeht.
Mit dem süßen Geschmack der nordirakischen Kandil-Berge im Mund geht es weiter durch den Basar. In jeder der kleinen Gassen links und rechts tut sich eine völlig neue Welt auf. Da ist der Goldbasar, in dem kurdische Mütter und Schwiegermütter gleich kiloweise Schmuck für zukünftige Bräute kaufen. Und da ist der Gewürzmarkt, angekündigt durch den strengen Geruch von getrocknetem Kreuzkümmel. Die schmalen Gassen säumen hier hüfthohe Säcke mit Pfeffer, Koriander, Nüssen und Tee.
All die Farben und Gerüche begleitet ein leises Klickern: Ununterbrochen gleiten die Perlen der Gebetsketten durch die Finger der alten Männer, die auf Hockern zwischen ihren Waren sitzen. Um den Kopf – fast wie einen Turban – ein Tuch gebunden, den Körper in einem der traditionellen Gewänder, die es nur hier, in Kurdistan gibt: weite, pludrige Hosen mit tief hängendem Schritt. Dazu ein breiter Stoffgürtel und eine Art Jackett im gleichen Stoff wie die Hose.
Der alte Schneider Abdullah ist spezialisiert auf die traditionelle kurdische Tracht. In seinem dreimal drei Meter großen Laden steht er – selbst mit Pluderhose und Turban – zwischen Bergen aus Stoffresten an einem rostigen Bügeleisen. Stolz hält er ein fertiges Exemplar in die Luft.
"Das hier ist das Oberteil und das die Hose dazu. Das trägt man bei uns seit jeher, tagein tagaus... Im Winter, wenn es kalt ist, tragen wir noch extra etwas Warmes drunter. Es ist die bequemste Kleidung für uns – und vor allem die beste!"
Bei seinen letzten Worten wird Abdullah plötzlich ernst. Seit 60 Jahren arbeitet er in diesem Laden, unzählige solcher Trachten hat er geschneidert, genau wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Jetzt aber ändern sich die Zeiten in Kurdistan.
"Nur noch an Feiertagen tragen alle diese Trachten, auch die Frauen ziehen dann ihre bunten kurdischen Kleider an. Jede und jeder hier hat sie im Schrank. Aber die Jungen ziehen sie immer weniger an! Menschen wie Lehrer usw., die tragen heute einfach Hosen und Jacketts!"
Die kurdische Gesellschaft verändert sich. Satellitenfernsehen, Internet und Globalisierung ziehen auch an dieser wie vergessen wirkenden Region nicht spurlos vorbei. Während ihre Großväter noch in Pluderhosen durch die Straßen von Suleymaniah schlurfen, stolziert die junge Generation in knallengen Jeans, glänzenden Syntetik-Hemden und polierten Schuhen vorbei. Statt Turbanen tragen sie jede Menge Gel auf, statt der klickernden Gebetsketten halten sie Handys in den Händen.
Wer durch den Nordirak reist, der sieht dieses Nebeneinander von Alt und Neu, Tradition und Moderne auf Schritt und Tritt. Sogar wer in Suleymaniah einheimische kurdische Küche sucht – wie den in der ganzen Region verbreiteten Getreidebrei Harissa oder mit Reis gefüllte Weinblätter – muss inzwischen länger suchen, als der, der sich mit Cheeseburger oder Pizza zufriedengibt. Selbst die traditionellen kurdischen Teehäuser sind nur noch Treffpunkt der Alten. Die Jugend von Suleymaniah trifft sich lieber in der Shopping Mall am Stadtrand oder in einem der hippen Cafés, wie dem Café Melodi.
Nicht wegen Latte macchiato oder Cheesecake könnte es einen als Touristen an solche Orte verschlagen. Doch wer nach einem Tag im Basar von Suleymaniah auch das andere Gesicht der Stadt sehen will, das junge Gesicht, der ist im Café Melodi an der richtigen Adresse. Auf roten Ledersesseln sitzen hier kurdische Studenten, träumen von großen Autos, erfolgreichen Karrieren und viel zu oft von einem Leben in Europa oder Amerika. Die fließend englisch sprechende Kellnerin serviert Milchshakes und Sandwich – und winkt irgendwann das eigentliche Highlight des Abends heran: Zardasht Kamal, 22 Jahre alt!
"Vor etwa sieben Jahren habe ich das Klavierspielen entdeckt. Ich habe festgestellt, dass ich Melodien einfach nachspielen konnte und irgendwie ein Talent für Musik habe."
Zardasht, guckt von seinen Fingern auf, dann wieder nach unten. So ganz kann er sich nicht entscheiden, ob er schüchtern oder stolz sein soll, wenn er seine ungewöhnliche Geschichte erzählt.
"Die Situation hier im Nordirak war so, dass es absolut unmöglich war, einen guten Lehrer zu finden. Der, den ich dann zufällig fand, konnte mir wenigstens Notenlesen und ein paar kleine Anfänge zeigen. Danach habe ich Anleitungen im Internet gefunden und immer andere Musiker gefragt."
Zardasht spielte auf billigen Keyboards, auf fremden Klavieren und manchmal auch einfach nur auf der Tischkante. Vor allem aber spielte er heimlich.
"Weil ich ein guter Schüler war, dachte mein Vater, wenn ich Klavier spiele, würde ich mich verschlechtern. Er wollte nicht, dass ich Musik mache – er hatte auch keine Ahnung davon. Also hat er wieder und wieder versucht, es mir zu verbieten. Ich habe trotzdem weiter gemacht, heimlich."
Zardasht dehnt die Finger und setzt sich an das leicht verstimmte Klavier in der Ecke. Seit einem Jahr sitzt er jeden Abend im Café Melodi und spielt, oft, bis der letzte Gast gegangen ist. Tagsüber arbeitet er weiter als Elektroingenieur. Von Musik oder Kunst leben, das kann in Kurdistan bis heute kaum jemand.
Der nächste Morgen, noch versteckt sich die Sonne hinter dichten Wolken, die Luft ist angenehm kühl. Wer sich im Nordirak günstig fortbewegen will, der steigt in den Bus oder mit anderen Fahrgästen in ein Sammeltaxi und düst zu scheppernder Radiomusik durch die trockene, manchmal an riesige Dünen erinnernde Landschaft.
Auf der Strecke vom lebhaften Suleymaniah in die kurdische Hauptstadt Erbil liegt der dreieckige Dukan-See, Lieblingsausflugsziel irakischer Wochenendausflügler. Vor mehr als 50 Jahren wurde er zu Stromgewinnung und Wasserspeicherung künstlich angelegt. Heute bevölkern vor allem am Wochenende unzählige Familien die Ufer mit ihren Picknickkörben. Die ganz eigene, raue Schönheit des Nordirak, mit schneebedeckten Gebirgsketten, atemberaubenden Wasserfällen, Granatapfel-, Feigen- und Walnusswäldern, lässt sich am besten hier, fernab der boomenden Städte erkunden. Hier, wo Hinweise auf menschliche Besiedlungen bis ins sechste Jahrhundert vor Christus zurückreichen und wo dennoch immer wieder scheinbar unberührte Landschaften auftauchen – weil weder Massentourismus noch flächendeckende Industrialisierung bis hierher vorgedrungen sind.
Doch der Nordirak ist eine Region voller Gegensätze! Und so taucht nach nicht einmal drei Stunden Fahrt plötzlich Erbil auf. Das neue Dubai, wie die Nordiraker prahlen. Auf den mehrspurigen, frisch asphaltierten Straßen rauschen neue, möglichst große Autos vorbei, an allen Ecken der 1,5-Millionen-Stadt entstehen Wolkenkratzer und Shoppingmalls, Vergnügungsparks und Fünf-Sterne-Hotels. Wohin mit all dem Geld, das aus den immer neuen Ölquellen sprudelt, scheint man sich hier zu fragen?
Zwischen all dem versucht Lolan Sipan etwas von dem festzuhalten, was Kriege und Zerstörungswut, Fortschritt und Globalisierung beinahe ausgerottet haben: Traditionen und Kultur der kurdischen Stammesgesellschaften.
"Vor sieben Jahren haben wir das kurdische Textilmuseum eingerichtet. Die Idee ist, das kulturelle Erbe dieses Landes zu bewahren. Wenn wir von Saddam Hussein sprechen, dann sagen wir, er war ein Diktator und er war gegen die Menschen… Aber er war auch gegen den natürlichen Lebensraum! Er hat Tausende Dörfer zerstört, Tiere getötet und Stämme zwangsumgesiedelt. Sogar das Kunsthandwerk, die Webetradition, das Geschichtenerzählen… Es ist unfassbar, wie all das durch die Zwangsumsiedlung ausgestorben ist."
Lolan Sipan sitzt in einem historischen Haus mitten im Zentrum von Erbil. Die Wände ringsherum sind über und über mit bunten, handgewebten Teppichen, Vorhängen und Kleidern behängt. 400 Ausstellungsstücke hat Lolan erst privat, dann mit Unterstützung der Regierung für das Textilmuseum aus allen Winkeln Kurdistans zusammen getragen. Nachdenklich steht er auf und tritt an eine hüfthohe Glasvitrine heran, in der 33 bunt bestickte Hütchen aufgereiht sind. Jeder Hut steht für einen Stamm, erklärt Lolan .
"Jeder Stamm hat sein eigenes, besonderes Design. An den Mustern kann man sehen, welches Kleidungsstück zu welchem Stamm gehört. Die Webarbeiten der Nomadenstämme zum Beispiel sind besonders farbenfroh, weil sie bis hoch in die Haylan-Berge hinaufziehen, wo es alle möglichen Pflanzen gibt, die sie dann zum Färben der Stoffe nehmen."
Lolan zeigt mit dem Finger auf die Wände ringsherum, deutet auf Babytragetücher, Satteltaschen und Pluderhosen – alles aus Schafswolle handgewebt, natürlich gefärbt mit Früchten, Insekten oder Kräutern. Über tausend Jahre lassen sich die Nomadentraditionen der Region zurückverfolgen. Doch Lolan winkt ab: Ein paar wenige Nomadenstämme ziehen immer noch durch die Berge Kurdistans, weiß er. Aber ihre Handwerkskünste gehen mehr und mehr verloren. Und so will er in seinem Museum nicht nur sammeln, sondern auch wiederbeleben.
"Wir haben alle überlebenden Nomadenweberinnen als Lehrerinnen zusammen geholt – und junge kurdische Mädchen als ihre Schülerinnen. Wir produzieren nur kleine Mengen – und alles per Handarbeit. Es ist wichtig für die nachkommenden Generationen, dass sie unsere Traditionen kennen. Das ist Teil unseres Erbes – und auch ein Teil des Welterbes."
Teil des Welterbes ist vor allem auch der Ort, an dem sich Lolans kleines Museum befindet: die Zitadelle von Erbil! Wenn die Floskel von der "Wiege de Zivilisationen" irgendwo zutrifft, dann wohl hier. Zwischen sechs- und achttausend Jahre alt ist der 32 Meter hohe Berg, auf dem die Zitadelle mit ihren gelben Gemäuern und labyrinthartigen Gassen über der Altsadt thront. Nach jahrzehntelangen Unruhen, nach Diktatur und Krieg, herrscht nun endlich Ruhe in Kurdistan. Genug, um die Zitadelle von Erbil zur Aufnahme als UNESCO-Weltkulturerbe vorzubereiten. David Mitchelmore strahlt wie ein kleiner Junge, wenn er nur daran denkt.
"Eines der Dokumente, das wir gefunden haben, ist eine Hymne an das historische Erbil, von 657 vor Christus. Es heißt dort, Erbil sei die Stadt des Vergnügens! Diese Zitadelle wiederherzustellen, sie zurückzubringen, heißt also, das Vergnügen zurück nach Erbil zu bringen."
Jeden Stein hier hat der britische Archäologe in den letzten sieben Jahren umgedreht. Mit jedem Weiteren wuchs seine Begeisterung nur noch weiter. Noch im Jahr 2004 thronte die Zitadelle wie vergessen auf ihrem Berg, bewohnt von irakischen Flüchtlingen, die mit Mörtel und Schutt neue Zimmer und Wohnungen zwischen den historischen Mauern schufen. Dann aber rief die kurdische Regierung David und seine Kollegen zur Hilfe.
"Das hier ist die älteste Form von einem Haus. Hier sieht man noch diese Fassade, mit ihren wundervollen Verzierungen, kleinteilig dekoriert.
Das besondere an diesen Häusern ist, dass die Räume keine Fenster haben. Ich schließe jetzt mal die Tür und sofort wird es stockdunkel. Die Idee dahinter war, die Räume im Sommer schön kühl zu halten."
David tritt wieder hinaus ans Sonnelicht, wischt sich mit einem Stofftaschentuch über die Stirn. Seinem dunklen Anzug sieht man die vielen Ausflüge in die Ruinen der Zitadelle an, die Schuhe überzieht eine weiße Schicht, als hätte er sie in einen Sack Mehl getunkt. Alle 350 historischen Häuser der "Stadt in der Stadt" hat David bis ins letzte Detail untersucht – im kommenden Jahr erscheint sein Führer, der auch Touristen helfen soll, sich im Gewirr der Gassen zurechtzufinden.
Der Tag neigt sich dem Ende. Die Mauern und Häuser der Zitadelle verlieren langsam ihre Konturen, unterhalb des Berges in der Altstadt von Erbil gehen die Lichter an. David tritt aus einem der historischen Häuser auf einen kleinen Balkon hinaus, von dem er die ganze Stadt überblicken kann. Überwältigt schweigt er einen Augenblick.
"Man hat hier die einzigartige Chance in einer mindestens 4000 Jahre alten Stadt herumzulaufen. Die Zitadelle von Erbil ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, wo man diese Erfahrung machen kann."
David verstummt wieder, lässt den Blick über die Stadt unter sich gleiten. Die Hauptstadt Kurdistans, mit ihrem traditionellen Basar, ihren alten Männern in Pluderhosen, aber auch ihren Wolkenkratzern und Shoppingmalls… Es wäre unangemessen zu sagen "Was für ein wunderschöner Anblick". Und doch, sagt David, könnte er hier den ganzen Tag stehen. Wer nach Kurdistan fährt, um die idyllische Schönheit der Südtiroler Berge wieder zu finden, oder die weißen Sandstrände von Kroatien, der hat das falsche Reiseziel ausgesucht. Wer aber ein Land und eine Kultur entdecken will, die seit Jahrzehnten wie vergessen daliegt, der sollte es jetzt tun!