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Urmomente der Langeweile

Der neue Intendant der Ruhrtriennale ist ein Mann der Oper. Und so hat Willy Decker gleich in seiner ersten Spielzeit Akzente zugunsten von mehr Musiktheater gesetzt - mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Von Christoph Schmitz |
    Ein besserer Auftakt zu seinem ersten Jahr der Ruhrtriennale hätte Willy Decker mit seiner Inszenierung von Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron" nicht gelingen können. Die die menschliche Existenz durchdringende Gotteserfahrung ist hier Thema, das Dilemma jeder Religion, das Unaussprechliche in Worte und Bilder zu fassen, und die allgegenwärtige Gefahr eines Rückfalls zum Tanz um das Goldene Kalb.

    Das alles hatten der Regisseur und sein Team und die Bochumer Symphoniker, die Solisten und das ChorWerk Ruhr auf eindringliche Weise zum Klingen gebracht und in ebenso gegenwärtige wie archaische Bilder gefasst. Willy Deckers thematisches Konzept der gesamten Ruhrtriennale, nämlich nach einem "geistigen Urstoff menschlicher Existenz" zu graben, also, wie es Decker ebenfalls formuliert, dem "Urmoment des Religiösen" auf die Spur zu kommen – das ist ihm mit der Schönberg-Oper gelungen.

    Große Erwartungen konnte man also an die folgenden musikalischen Premieren knüpfen, die das Programm stärker prägen sollten als das Schauspiel-, Literatur und Kinoangebot. So zeichnete der Lyriker und Dramatiker Albert Ostermeier in einem poetischen Monolog die Lebensstationen, Sehnsüchte und Qualen des frankokanadischen Komponisten Claude Vivier nach. Der als Kind verwaiste, auch religiös äußerst begabte und einstige Priesterseminarist Claude Vivier fand in der Musik nach eigenem Bekunden das Mittel, um seine "Suche nach Reinheit zum Ausdruck zu bringen". Anfang der 80er wurde Claude Vivier im Alter von 34 Jahren von einem bezahlten Liebhaber erstochen.

    Das Ensemble musikFabrik und die Chorakademie Dortmund ließen technisch versiert die komplexen, kraftvoll rhythmisierten Klangflächen der Kompositionen Claude Viviers samt Schrecken und kosmischer Weite aufleuchten. Aber die Regie wies den Vivier-Darsteller an mit so artifizieller Gebärde über die Bühne zu hüpfen und sich bedeutungsschwanger in Telefonkabeln zu verheddern, bei denen man auch an Nabelschnüre denken sollte, dass das Drama dieses Menschen zur Farce an einer Bushaltestelle verkam. Und der überambitioniert lyrische Monolog Ostermeiers verirrte sich in zwischen Pathos, Plattitüden und Poesiealbumversen mäandernden Wortkaskaden.

    Wie die Vivier-Uraufführung so versuchte auch die Uraufführung des Musiktheaterstücks "Autland" eines Autorenkollektivs zur Musik des jungen Sergej Newski die weitläufigen Dimensionen der ehemaligen Industriegebäude zu nutzen. Das wurde immer mit großem technischen Aufwand betrieben, kam aber, abgesehen von "Moses und Aron", nicht über nette Spielereien hinaus. In "Autland" saßen Zuschauer und Sänger auf einer sich drehenden Scheibe, rundherum ein Podestring mit bunten Lampen, Lautsprechern und Spielfläche für zwei Dutzend Sänger, die die verkorksten Lebensweisheiten von Autisten aufsagten und sangen.

    Das autistische Korsett, in dem unsere Gesellschaft steckt, wurde für einen Moment von der Musik des flämischen Renaissancekomponisten Johannes Ockeghem gesprengt. Auch wenn Chor und Solisten den Deo-Gratias-Kanon mit magischem Zauber füllten und die Klangaquarelle des Sergej Newski luftig in den Himmel der Jahrhunderthalle tupften, so blieb die musiktheatralische Ausbeute eher mager. Ganz und gar ausgehungert verließ man die Produktion "Tamar" von Rupert Huber, der nach Stockhausen-Musik Bach und Eigenes mehr schlecht als recht dirigierte und einen esoterischen Selbsterfahrungskurs zelebrierte, der bei einem Wellness-Seminar am richtigen Platz gewesen wäre.

    Von der programmatischen Suche nach den Urmomenten der menschlichen Existenz war "Tamar" am weitesten entfernt. Mit den meisten musiktheatralischen Aufführungen ist es der Ruhrtriennale in diesem Jahr noch nicht gelungen, die energetisch aufgeladene Industriearchitektur für sich fruchtbar zu machen. Nach Schönbergs "Moses und Aron" hätte auch Schluss sein können. Haupteindruck danach: Langeweile.