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Urrinder in Ostpolen

Zwei Meter hoch, dreieinhalb Meter lang - Wisente sind ziemlich beeindruckende Wildrinder. Sie kamen früher in ganz Europa vor und können bis zu 1000 Kilogramm schwer werden. Der allerletzte wild lebende Wisent wurde 1921 im Urwald Ostpolens von einem Wilderer erlegt. Später züchtete man die zotteligen Urviecher nach. Und jetzt leben sie wieder im Osten Polens.

Von Nadine Querfurth |
    "Die Wisente sind jetzt nur noch ungefähr einhundert Meter von uns entfernt, denn das Signal ist stark und deutlich zu hören. Wenn wir jetzt noch ein paar Meter weiter gehen, müssten wir sie hören und vielleicht auch sehen können."

    Tomasz ist jeden Tag im Bialowieska Urwald unterwegs. Mit einer Peilantenne und einem Empfängergerät ortet der junge Pole Wisente und notiert ihre Wanderwege auf einer Karte. Ein gutes Dutzend der Tiere trägt einen Sender am Hals, so sind sie einfach zu finden. In der Gruppe, die Tomasz entdeckt hat, trägt ein Bulle den Sender. Zu sehen ist er nicht, denn der Urwald ist an dieser Stelle zu dicht und die Sicht versperrt. Tomasz kennt den Wisent von früheren Begegnungen:

    "Er heißt Podadnik. Fünf Jahre ist der große Bulle alt und hat große, kräftige Hörner. Ich kenne hier in Bialowieska keinen anderen Bullen mit so schönen Hörnern."

    Der Bulle Podadnik gehört zu den circa 400 Wisenten, die heute wieder im Bialowieska-Wald in Ost-Polen leben. Wissenschaftler schätzen, das sind gut 150 Wisente zu viel für eine Fläche, die doppelt so groß ist wie das Bundesland Hamburg. Der Biologe Dr. Rafal Kowalczyk vom Institut für Säugetierforschung in Bialowieska erläutert die negativen Folgen einer solchen Überpopulation:

    "Solch hohe Individuenzahlen können dazu führen, dass Krankheiten und Parasiten sich schneller unter den Tieren ausbreiten. In diesem Jahr zum Beispiel haben wir neue Parasiten auf den Wisenten gefunden, sie sonst nur bei Rotwild bekannt waren. Ansonsten gibt es auch vermehrt aggressive Reaktionen unter den Tieren. Besonders Jungtiere werden getreten und bekommen ernsthafte Verletzungen durch Hörner."

    Um dieses Problem anzugehen, hat das Institut für Säugetierforschung vor einem Jahr das Europäische Bison-Programm ins Leben gerufen. Krzysztof Niedzialkowski, stellvertretender Direktor des Instituts und Koordinator des Programms, erläutert die Ziele:

    "Die Idee ist, dass wir das Verbreitungsgebiet des Europäischen Wisents vergrößern, also nicht nur den Urwald als seinen Lebensraum definieren. Die Wisente sollen sich ungehindert auch außerhalb des Bialowieska Waldes aufhalten können. Bisher war es so, dass die Wisente von der Nationalparkverwaltung sofort wieder in den Wald zurück transportiert wurden, sobald sie jenseits der Grenzen waren."

    Um die Tiere auch in die Außengebiete des Waldes zu locken, haben die Wissenschaftler weitere Futterstellen gebaut. Dort bieten sie den Wisenten im Winter Heu. Bisher standen solche Futterstellen nur im Zentrum des Waldes, so dass sich die Tiere in der kalten Jahreszeit bevorzugt in diesem Gebiet aufhielten. Die größte Überzeugungsarbeit in diesem Projekt müssen die Wissenschaftler gegenüber der lokalen Bevölkerung, Forstarbeitern und Landwirten leisten. Denn unter ihnen sind Wisente nicht gerne gesehen, sobald sie sich außerhalb des Waldes in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten Flächen aufhalten, und zwar aus folgenden Gründen. Krzysztof Niedzialkowski:

    "Sie sehen Wisente als Eindringlinge, die die Ernte beschädigen, die Felder verwüsten und auch aggressiv gegen den Menschen reagieren können. Wir wollen sie aber davon überzeugen, dass sie von ihnen auch profitieren können und Wisente den Tourismus ankurbeln und dadurch sogar ihre finanzielle Situation verbessern können."

    Krzystof Niedzialkowski und seine Kollegen erhoffen sich durch ein verbessertes Image des Wisents einen Aufschwung für die gesamte Region Ostpolen. Langfristig gesehen soll das Programm auch grenzübergreifend ausgerichtet sein. Denn der weitaus größere Teil des Bialowieska-Urwaldes erstreckt sich in Weißrussland. Wünschenswert ist, dass die Wisente zwischen beiden Ländern frei umherwandern und sich neue Herden bilden können. Der Lebensraum wäre dann mehr als doppelt so groß, wenn ihnen auch der weißrussische Teil des Waldes zur Verfügung stünde. Nur so kann langfristig eine stabile und gesunde Population der größten Landsäugetiere Europas entstehen. Dieses Ziel scheint jedoch noch fern, bedauert Krzysztof Niedzialkowski:

    "Die Wisente können derzeit die Grenze nicht überqueren, weil zwischen Polen und Weißrussland ein Zaun gezogen ist. Er wurde 1980 gebaut und ist heute noch streng bewacht, so dass die Wisente praktisch nicht wandern können. Wir würden diesen Zustand gerne ändern, aber ich bin wegen der aktuellen politischen Lage eher skeptisch, dass wir daran etwas ändern können."