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Ursula Hegis: Die Andere

Am 28. Februar 1997 präsentierte die amerikanische Talkshowkönigin Oprah Winfrey ihrem Millionenpublikum Ursula Hegis 1994 erschienenen Roman "Stones from the River" als fünftes "Buch des Monats" ihres "TV-Buchklubs". Schon eine Woche später schnellte die Geschichte der Trudi Montag, die jetzt als "Die Andere" in deutscher Übersetzung bei Rowohlt vorliegt, auf den vierten Platz der Bestsellerliste des Massenblattes USA Today. Wenig später waren 1,2 Millionen Exemplare der Taschenbuchausgabe verkauft. Schon die Erstausgabe war von den amerikanischen Rezensenten enthusiastisch begrüßt worden: "ein unvergeßliches Buch", meinte die Washington Post, "eine Offenbarung", "ein faszinierender Roman", der den Leser an die "schwindelerregende Fülle des Lebens" erinnert. Auf den ersten Blick eine merkwürdige Einmütigkeit zwischen Oprah und der offiziösen Literaturkritik. Offenbar ist der weithin unbekannten Hegi mit ihrem 525 Seiten langen, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in einer deutschen Kleinstadt spielenden Roman gelungen, was sonst Philip Roth, Saul Bellow oder John Updike vorbehalten bleibt: gleichzeitig ein breites amerikanisches Publikum und die Kulturelite zu begeistern.

Michael Büsges | 01.04.1998
    Hegi stellt in "Die Andere" noch einmal jene Frage, die sich auch Amerikaner immer wieder stellen, und auf die sie immer noch keine einleuchtende Antwort bekommen haben: wie konnte es in Deutschland, einem Land, dem sich die Amerikaner historisch und kulturell verbunden fühlen, zum Faschismus und zur Judenverfolgung kommen? Und mit Ursula Hegi antwortet ihnen eine Deutsche, die zur Amerikanerin wurde. Sie ist eine von "denen" und eine "von uns". Die Lebensgeschichte der Autorin verbürgt sowohl Authentizität als auch kritische Distanz, Einfühlungsvermögen in die deutsche Mentalität und Vertrautheit mit dem amerikanischen "way of life", oder wie die Rezensentin der Village Voice formuliert: Hegi "wuchs zwar in Deutschland auf, doch sie lebt in Amerika und schreibt auf Englisch, und hat deshalb Distanz sowohl von der Last der Schuld als auch von derjenigen der Verantwortung."

    Ursula Hegi wurde 1946 im rheinischen Büderich geboren, emigrierte 1965 in die USA, wurde zur "Deutsch-Amerikanerin", die heute im Bundesstaat Washington als Professorin an der Eastern Washington University lehrt. Ende der 70er Jahre begann sie zu schreiben, zunächst in der amerikanischen Gegenwart angesiedelte Kurzgeschichten und einen wenig beachteten Roman. 1990 setzte sie sich erstmals mit ihrem zweiten Roman "Floating in my Mother’s Palm" mit ihrer deutschen Heimat literarisch auseinander. Im letzten Jahr veröffentlichte sie unter dem Titel "Tearing the Silence. On Being German in America" Interviews mit zwischen 1939 und 1949 geborenen Deutsch-Amerikanern, in denen sie den Fragen nachgeht, wie in Amerika lebende Deutsche mit der deutschen Geschichte in ihrer Wahlheimat umgehen und wie Deutsch-Amerikaner von ihren neuen Landsleuten aufgenommen wurden.

    "Die Andere" setzt im Jahre 1915 mit der Geburt Trudi Montags ein. Ort der Handlung ist die fiktive, auf der linken Rheinseite gegenüber von Düsseldorf gelegene Kleinstadt Burgdorf. Schon bald stellt sich heraus, daß Trudi eine Zwergin ist. Für die labile Mutter ist Trudis Kleinwüchsigkeit eine Strafe Gottes für einen kurz vorher begangenen Fehltritt. Trudi lebt mit ihrem sanftmütigen Vater, hilft ihm in seiner Leihbücherei, die von der bürgerlichen Bevölkerung Burgdorfs frequentiert wird. Trudi wächst - oder besser: wächst nicht - in diesem kleinbürgerlichen Milieu als Außenseiter auf und erträgt die Demütigungen der Schulkameraden und der Erwachsenen. Anders als Grass' Oskar Matzerath, der sich aus freier Entscheidung weigert zu wachsen, versucht Trudi zunächst mit aller Macht, so wie alle andern zu werden: "Jeden Abend vor dem Einschlafen betete sie, daß sich ihr Körper im Schlaf dehnen möge ... Um Gott nachzuhelfen, hängte sie sich in den Türrahmen, bis ihre Finger taub wurden, wobei sie davon überzeugt war, daß sie fühlte, wie ihre Knochen länger wurden." Doch im Gegensatz zu den späteren Opfern des Faschismus ist Trudis Andersheit ihr unauslöschlich auf den Leib geschrieben: "Ein Zwerg zu sein", sagt sie, "bedeutet, dein tiefstes Geheimnis auf der Haut zu tragen - für die ganze Welt sichtbar." Ihren Schmerz vertraut sie nur dem leitmotivisch an der Stadt vorbeifließenden Rhein an. Für jede erlittene Erniedrigung wirft sie einen Kieselstein in den Fluß, und im Lauf der Zeit sammelt sich auf seinem Grund ein privater Nibelungenschatz des Unrechts an. Obwohl sie sich ausgeschlossen fühlt von vielem, was das Menschsein ausmacht, Liebe, Sexualität, Mutterschaft, wird Trudi nicht heimisch in der Rolle des Opfers. In der Leihbücherei des Vaters, Umschlagplatz des Dorftratsches, wird sie zum Depositar der Stadtgeschichte und -geschichten. Sie sammelt die privaten und öffentlichen, die kleinen und großen Tragödien und Komödien ihrer Mitmenschen, anfangs unbemerkt, da niemand sie hinter den Bücherregalen sieht. Mit den Jahren entdeckt Trudi die befreiende Macht, die die Geschichten, die sie bewahrt, verändert und weitererzählt, ihr über ihre Mitmenschen geben: "Trudis Begabung zeigte sich in dem, was sie wußte. Sie kannte die Worte, die die Gedanken in den Köpfen der Menschen benannten ... Sie machten sich vor, daß sie immer wieder kamen, um sich Bücher auszuleihen. Doch in Wirklichkeit kamen sie, selbst die, die sich vor Trudi Montag fürchteten, um die Geschichten über ihre Nachbarn und Verwandten zu hören, die sie ihnen erzählte."

    Als dann der braune Wahn in Burgdorf Einzug hält, steht der Leser auf vertrautem Fuß mit den Bewohnern. Trudi nutzt ihr Erzähltalent nun, um jüdische Nachbarn zu schützen, die sie und ihr Vater im Keller verstecken, und um sich selbst vor der Gestapo zu retten. Die Geschichten, die sie von den Juden hört, sind jedoch schrecklicher als die von ihr erfundenen, und Trudi bewahrt auch sie, obwohl sie zurecht befürchtet, daß die Burgdorfer sie bald nicht mehr hören wollen, da sie genug damit zu tun haben, in ihrer Konspiration des Vergessens "das Geschehene so zu verändern, daß sie der nächsten Generation eine heile Welt übergeben können." Und so kommt es dann auch: Nach Kriegsende kehren die Soldaten in die Heimat zurück, die Burgdorfer legen den Mantel des Schweigens um die jüngste Vergangenheit, wenig später kommt das Wirtschaftswunder. Doch die körperlichen und seelischen Narben der Menschen sind nur allzu sichtbar. "Trudis Geschichten hatten jetzt ein anderes Ziel." Sie ist endgültig von der Klatschbase zur Literatin geworden, sie erzählt nun, "um die wahre Bedeutung ihrer Geschichten bloßzulegen. Sie war sich bewußt, daß man an einem Punkt anlangen kann, von dem es kein Zurück mehr gibt, an dem man sich selbst verändert."

    Hegis Roman will gewichtig sein, vielleicht zu gewichtig. Die Personen, vor allem Trudi, die Metaphern und Allegorien, allen voran der Rhein, müssen für vieles einstehen: das Böse und das Gute im Menschen, die heilende Kraft der Literatur, das Fließen der Zeit, die deutsche Geschichte, die Diktatur. Nicht immer gelingt das. Doch zielt der beckmessserische Blick des Kritikers bei diesem Buch ins Leere. Bedeutend ist "Die Andere" vor allem wegen seiner Wirkung in den USA, wo die Deutschen bis heute nicht wesentlich aus dem Schatten des Nationalsozialismus herauszutreten vermögen.

    Suzanne Ruta schreibt in der New York Times: "Wir Amerikaner betrachten Deutsche immer noch entweder mit Abscheu oder mit (manchmal schadenfroher) Herablassung." Gegen dieses Deutschlandbild schreibt Ursula Hegi nicht nur in "Die Andere" mit fast besessener Akribie an. Die Bewohner Burgdorfs erlauben dem amerikanischen Leser zu begreifen, wie eine deutsche Kleinstadt, deren Bewohner mit ihren Nöten und Freuden auch in Topeka, Kansas, leben könnten, vor dem faschistischen Wahn kapitulieren konnte, es zu begreifen, ohne den Glauben an die Humanität ganz zu verlieren.