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Ursula Naumann: Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis

Vierzig Jahre war Johann Gottlieb Prieber alt als der angesehene Advokat aus Zittau Frau, Kinder und Heimat verließ, um im wilden Hinterland von Georgia und South Carolina seinen Traum vom Glück zu leben. Priber passte in kein ideologisches Schema. Er wurde als Ketzer, Kommunist, Visionär, als Spion oder einfach nur als Naturmensch beschrieben. Jedenfalls hat er die einzige säkulare, naturrechtlich begründete Kommune des 18 Jahrhunderts gegründet und wurde damit zum Vorbild späterer libertinärer Lebensprojekte. Ursula Naumann hat versucht das Leben des Johann Gottlieb Prieber zu rekonstruieren. Das Ergebnis ihrer Recherchen ist unter dem Titel "Pribers Paradies" in der Edition "Die andere Bibliothek" im Eichborn Verlag erschienen.

Ariane Thomalla |
    Die Creek-Indianer haben endlich Mr. Priber als Gefangenen hierher gebracht. Er ist ein sehr außergewöhnliches Wesen.

    Dies meldete im Mai 1743 ein Brief aus Fort Frederica vor der Küste der englischen Kolonie Georgia dem Gouverneur der Kolonie South-Carolina. Die South-Carolina Gazette in Charlestown beeilte sich, ihn ihrer Leserschaft mitzuteilen. Deshalb blieb er der Nachwelt erhalten. Eines der wenigen zuverlässigen Zeugnisse zum Fall Priber, der gewiss mehr historische Beachtung oder sagen wir: Wirkung verdient hätte. Ein Text, in dem sich Triumph mit Verwunderung, ja ambivalenter Bewunderung für diesen seltsamen Deutschen mischte, den man in paranoischer Hartnäckigkeit für einen französischen Spion oder Jesuiten hielt. Seit er 1735 via London in die Neue Welt geschifft war, lebte er unter den Cherokee-Indianern. Von ihnen adoptiert, aller Kleider beraubt und so bemalt wie seine Gastgeber, hatte er eine indianische Frau genommen. "Oder eine Frau nahm ihn", korrigiert die eigenwillige Autorin des Buchs über Mr. Priber. Schließlich sei er bei einem matrilinearen Klan der Cherokees gelandet. Alles Gepäck der alten Welt habe er abgeworfen – nur seine Schriften und Bücher nicht. Ein deutscher Gelehrter, nackt unter nackten Indianern, der ihnen half, sich gegen die Expansion der europäischen Kolonialmächte zu wehren?

    Er brachte den Cherokees nach und nach von den Engländern eine sehr üble Meynung bey, indem er sie als betrügerische, habsüchtige und solche Leute abschilderte, die sich gern in fremde Länder anmaßen.

    Verlautet unmissverständlich eine andere Quelle der Zeit. Er sei "ein kleiner hässlicher Mann", liest man weiter in der South-Carolina-Gazette, "der aber fast alle Sprachen fließend" beherrsche, "besonders englisch, holländisch, französisch, lateinisch und indianisch". Interessant sei auch, dass er "sehr blasphemisch gegen alle Religionen" spräche, "besonders gegen die protestantische" und eine große Idee habe, die Idee von "Pribers Paradies":

    Er war im Begriff, eine Stadt am Fuße der Berge unter den Cherokee zu begründen, wo alle Verbrecher, Schuldner und Sklaven vor der Gerechtigkeit oder ihren Herren Zuflucht finden sollten. Man fand bei ihm ein von ihm selbst geschriebenes druckfertiges Buch; es zeigt, wie die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen, und legt fest, nach welchen Grundsätzen die Stadt zu regieren ist, der er den Namen Paradies gibt. Er zählt viele absonderliche Privilegien und natürliche Rechte, wie er sie nennt, auf, auf die seine Bürger Anspruch haben, besonders die Auflösung von Ehen und den gemeinsamen Besitz von Frauen und alle Arten von Ausschweifungen; das Buch ist sehr ordentlich aufgesetzt und voller gelehrter Zitate; es ist äußerst böse, doch hat es etliche Gedankenflüge voller Erfindungsreichtum, und es ist ein Jammer, dass so viel Geist an ein so schlimmes Projekt gewandt wird.

    Das "schlimme Projekt" ist ein rotes Paradies gleich im doppelten Sinn. Kommunismus im Indianerland? Pribers Buch ist wie sein Verfasser und dessen indianisches Wörterbuch verschollen und ebenso schwer aus dem Dunkel der Geschichte zurückzuholen. War sein "umstürzlerisches" Projekt bereits der Grund, dass Christian Gottlieb Priber, als er auf die vierzig zuging, eines unbekannten Tages Familie und Heimatstadt für immer verließ? Der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in Zittau in Sachsen, der Gemahl der Christina Dorothea Priber, geborene Hoffmann, mit er sechs Kinder hatte, von denen vier überlebten, wirkte zuletzt als Oberamtsrat, also Anwalt beim Oberamtsgericht in Bautzen. Er war einer der hochgelehrten Utopisten der Zeit, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die akademisch etablierten Naturrechtslehren in aller Konsequenz zu Ende dachten, wobei Priber noch einen Schritt weiterging. Er suchte ihre reale Verwirklichung:

    Dass alles unter ihnen gemeinsam sein sollte, dass sogar ihre Frauen das sein sollten und dass ihre Kinder als gemeinschaftlich angesehen werden und als solche betreut werden sollten. Und nicht von ihren leiblichen Eltern. Aber am meisten impfte er den Indianern ein, dass sie ihr Land eifersüchtig hüten sollten.

    Wurde vielleicht gegen Priber ermittelt, spekulierte die Autorin und stieg in die Keller der sächsischen Archive. Vergeblich habe sie sich auch "im frösteligen Hinterhofverschlag der Bautzener Filiale des Sächsischen Staatsarchivs" durch "Berge von staubigen Aktenbündel, Justiz- und Polizeisachen" gewühlt, ohne unter den "Malefizsachen, Injurien, Testamentstreitigkeiten, Beschwerden der Landbevölkerung gegen die Willkür der Grundherren" etwas gegen den Advokaten Priber Anhängiges zu finden. Dafür allerhand Scheußlichkeiten, die den Priberschen Zeitgenossen widerfuhren, sofern sie sich etwas hatten zuschulden kommen lassen: Pranger, öffentliche Auspeitschungen, grausame Hinrichtung zum Beispiel von Kindsmörderinnen, die möglichst zusammen mit Katzen in einem Sack ertränkt wurden. "Gesäckt", wie der Fachausdruck lautete - wie im Falle der Johanna Dorothea Schwalbin, die wegen der schlechten Haftbedingungen so krank und schwach war, dass Rädern nicht mehr in Frage kam und deshalb "beständig mit Stangen" unter das zu niedrige Wasser gestoßen werden musste, was denn doch "bei den Zuschauern Empörung und Mitleid erregte."

    Wenn ich am späten Nachmittag mit brennenden Augen und schwärzlichen Händen ans Tageslicht hochtauchte, kam ich von einer Zeitreise zurück. So viele dunkle traurige Geschichten.

    Kein Ort für das "Priber Paradies", aber Hintergrundpanorama. Aber war die neue Welt besser? Das brodelnde Chaos der Kolonien, wo sich Engländer, Franzosen, Spanier in Waffen gegenüberstanden und die weißen Siedler in Angst und Schrecken lebten: vor allerhand Treibgut aus Europa an finsteren Gesellen, vor den Indianern und am meisten vor den schwarzen Sklaven, die Zweidrittel der Bevölkerung von South Carolina stellten. "Ein wahres Morenland", erschrak ein deutscher Neuankömmling. Sklavenrebellion mit Mord und Totschlag war nicht selten. Ein Grund, die neue Kolonie Georgia im Süden von South-Carolina mit der Auflage ins Leben zu rufen: "No Rum and no Slaves". 1732 hatte König George II Treuhänder in London mit der Errichtung einer "wohltätigen Kolonie" beauftragt, um England von den Armen Englands zu entlasten. Ein Schiff ging gleich, beladen mit Bettlern und Landstreichern unter fünfzehn, hinüber. Ein Experiment, bei dem sich merkantile, militärstrategische und imperiale mit altruistisch-aufklärerischen Interessen mischten. Ein Experiment, das am Ende misslang. Georgia wurde eine Kolonie der weißen Schuldsklaven.

    Pribers Präambel in seinem verschollenen Buch, vermutet die Autorin, habe sicher nicht anders gelautet als die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung dreißig Jahre später, und sicher habe sie auch sie die Gleichheit unter den Menschen beschworen.

    Aber anders als die Väter dieser Erklärung hat Priber seine Finger dabei nicht hinter dem Rücken gekreuzt und "ausgenommen Indianer, Neger, Frauen ..."

    Spätestens bei solchen Einmischungen in den eigenen seriösen Text wird deutlich: Ursula Naumann geht es nicht nur um das Ergebnis der Suche nach einem in der Geschichte abhanden gekommenen Helden, der, hätte er sein Ziel erreicht, den Indianern die Schrift zu bringen und Bildung und Wissen, vielleicht ihre Ausrottung hundert Jahre später hätte verhindern können. Es geht auch um die Recherche als solche und um die Person, die sie leistet und dabei schmerzlich an die Grenzen der Geschichtsschreibung stößt. Um das Problem frei mit Karl Marx zu fassen: Dass die Geschichtsschreibung die "herrschenden Gedanken einer Epoche" bewahrt, die aber – so Marx – "die Gedanken der herrschenden Klasse sind". Priber gehörte nicht dazu, auch nicht die Indianer. Heute jedoch weiß man: Viel lebt im kollektiven Bewusstsein kryptisch weiter. Unverdaute historische Reste wie im Trödelladen – ganz im Sinn von Hans Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek", die nicht umsonst so heißt. Da passt dieses Buch vorzüglich in seine Reihe.

    Man wisse "verzweifelt wenig" über den Menschen Christian Gottlieb Priber, gesteht die Autorin. Offen gesagt: Skandalös wenig, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben! Aber das Ergebnis, ein reiche vielschichtige bis zuletzt spannende Geschichte, rechtfertigt alles. Am Ende gibt es noch ein Fanal. Das Pulvermagazin von Fort Frederica geht in die Luft. Priber, der Gefangene, dem in aller Eile die Zelle geöffnet wurde, bleibt in philosophischer Gelassenheit am Platz. Dennoch weiß man nicht, wie und wo und wann er starb. Georgia fiel an die englische Krone zurück und wurde ein Sklavenstaat wie alle anderen.

    Ursula Naumanns Buch "Pribers Paradies, Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis" ist in der von Hans Magnus Enzensberger beim Frankfurter Eichborn Verlag herausgegeben Edition Die andere Bibliothek erschienen, umfasst 320 Seiten und kostet 54,-DM.