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Urteil gegen einen Toten

Der Fall ist so skurril wie brisant: Der Anwalt Sergej Magnitskij starb in russischer Untersuchungshaft, nachdem er einen Korruptionsskandal aufgedeckt hatte. Daraufhin wurde dem Toten selbst der Prozess gemacht. Heute soll in Moskau das Urteil verkündet werden.

Von Gesine Dornblüth | 11.07.2013
    Das Bild, das sich im Moskauer Bezirksgericht bot, war absurd.
    Die Anklagebank, beziehungsweise der in russischen Gerichtssälen übliche Käfig, war leer. Denn der Angeklagte, der russische Anwalt Sergej Magnitskij, ist tot. Sein ehemaliger Chef und Mitangeklagter, der Brite William Browder vom Investmentfonds Hermitage Capital, lebt im Westen.

    Das russische Gesetz erlaubt einen Prozess gegen einen Toten, wenn die Hinterbliebenen das wünschen, um den Ruf des Verstorbenen wieder herzustellen. Die Mutter Magnitskijs hatte sich vergeblich gegen den Prozess gewehrt. Die Anwälte des Verstorbenen haben sich geweigert teilzunehmen. Und der vom Staat bestellte Pflichtverteidiger Magnitskijs spielte während der Verhandlung demonstrativ mit seinem iPad und malte.

    Anton Pominow arbeitet für Transparency International in Russland und hat den Prozess gegen Magnitskij und Browder verfolgt.

    "Das ganze ist ein Unding. Einen Quasi-Prozess gegen einen Toten zu führen, ist sehr seltsam und beunruhigend. Zumal die falschen Leute vor Gericht standen: Eigentlich hätten diejenigen angeklagt werden müssen, die Geld aus dem Staatshaushalt gestohlen haben und die letztendlich für Magnitskijs Tod verantwortlich sind. So aber entsteht der Eindruck: Es gibt Unantastbare, und es gibt Sergej Magnitskij, der sich nicht mehr verteidigen kann. Das wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre."

    Besonders integer, aber tot
    Sergej Magnitskij hatte einen der größten Korruptionsskandale der russischen Geschichte aufgedeckt. Hohe Steuerbeamte und Polizisten haben demnach rund 170 Millionen Euro unterschlagen. Danach wurde Magnitskij verhaftet. Er war krank. Im Gefängnis wurde ihm medizinische Hilfe verweigert. Der Anwalt starb in der Untersuchungshaft vermutlich an einem Versagen der Bauchspeicheldrüse. Seine Angehörigen sagen, er sei auch gefoltert worden. In Russland wurde niemand für seinen Tod zur Verantwortung gezogen.

    Transparency International hat Magnitskij posthum einen Preis für besondere Integrität verliehen. Die Staatsanwaltschaft dagegen hält es für bewiesen, dass Magnitskij, gemeinsam mit Browder, Steuern hinterzog. Demnach soll der britische Investor in Kalmückien, einer Provinz in Südrussland, Behinderte nur auf dem Papier beschäftigt haben, um so Steuervorteile in Anspruch zu nehmen, die ihm nicht zustanden.

    In Schlussplädoyer beantragte der Staatsanwalt allerdings, das Verfahren gegen Magnitskij trotz angeblich erwiesener Schuld einzustellen. Für Browder, Magnitskijs ehemaligen Chef, hingegen beantragte er neun Jahre Lagerhaft. Dazu Anton Pominow von Transparency International.

    "Es ist möglich, dass Browder keine weiße Weste hat.
    Er hat seit den 90er Jahren hier Geschäfte gemacht, und jeder weiß, dass es damals in Russland üblich war, Grauzonen zu nutzen. Vielleicht hat das auch Browder getan. Aber um das zu beurteilen, müsste es eine objektive, glaubhafte Untersuchung geben. Die gibt es nicht. Ich zumindest glaube schon lange nicht mehr an die Arbeit unserer Ermittler und Staatsanwälte."

    Magnitskij-Liste
    Vorgestern hat Transparency International sein weltweites jährliches Korruptionsbarometer vorgestellt. In Russland glauben demnach nur noch fünf Prozent der Bevölkerung, dass der Staat effektiv gegen Korruption vorgeht. Das schwindende Vertrauen liege auch an Prozessen wie dem gegen Browder und Magnitskij, glaubt Pominow.

    Wenn heute in Moskau das Urteil gefällt wird, wird Browder das aus der Ferne verfolgen. Er versucht derzeit, die Staaten der Europäischen Union davon zu überzeugen, Einreiseverbote für russische Beamte zu veranlassen, die mutmaßlich für den Tod Magnitskijs verantwortlich sind. Dass die EU insgesamt eine solche Entscheidung trifft, gilt als unwahrscheinlich. Im Winter hatten die USA die sogenannte Magnitskij-Liste beschlossen. Sie betraf mehrere Dutzend russische Beamte. Russland reagierte seinerseits mit Einreiseverboten für US-Bürger und setzte noch einen drauf: Amerikaner dürfen keine russischen Kinder mehr adoptieren. Vorgestern nun verbreiteten Medien in Russland, Großbritannien habe ein Einreiseverbot ähnlich der Magnitskij-Liste beschlossen. Darüber ist nichts bekannt, doch Russlands Außenminister Sergej Lawrow reagierte merklich gereizt.

    "Möglicherweise ist das eine Provokation, denn in den Medien in Europa und weltweit gibt es zurzeit viele heiße Themen, von denen abgelenkt werden soll."

    Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates wird sich demnächst mit dem Fall Magnitskij beschäftigen. Der Schweizer Abgeordnete Andreas Gross bereitet einen Bericht zu dem Thema vor. In dem Entwurf wird Russland aufgefordert, die Umstände von Magnitskijs Tod aufzuklären und endlich effektiv gegen Korruption vorzugehen.