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US-Journalismus in der Krise
Von falschen Ansprüchen und fehlender Menschlichkeit

Journalistische Objektivität kann und soll es nicht geben, meint US-Journalismusforscher Jay Rosen. Dieser Anspruch führe dazu, dass zu wenig kritisch eingeordnet werde. Journalisten müssten transparenter und wieder mehr aus Sicht der Bürger berichten.

Von Sandro Schroeder | 20.06.2018
    Sie sehen US-Präsident Donald Trump. Er spricht im "Oval Office" des Weißen Hauses zu Reportern über eines seiner Dekrete.
    Trump und seine Angriffe auf die Presse sind aus Sicht des Journalismus-Forschers Jay Rosenberg Symptom eines älteren Vertrauensbruchs zum Journalismus (AFP / Brendan Smialowski)
    Journalisten können gar nicht objektiv sein, findet Jay Rosen. Er lehnt dieses theoretische Konzept ab. Ganz grundsätzlich. Er glaubt es Journalisten nicht, wenn sie behaupten, absolut objektiv zu sein.
    Keinen Standpunkt, keine Ideologie, keine Philosophie, kein Interesse, keine Beteiligung - Rosen hält das für ein Scheinargument. Er benutzt ganz bewusst einen anderen Begriff: Was die Presse unter Objektivität versteht, das nennt er stattdessen "view from nowhere": Den "Blick aus dem Nirgendwo", die "Sicht von Nirgends". "Nur die Fakten" berichten zu können, hält er für praktisch nicht möglich.
    Mit diesem Objektivitäts-Versprechen wollen Journalisten ihre Autorität und das Vertrauen der Öffentlichkeit stärken. Aber diese Sicht von Nirgends führt im Extremfall genau zum Gegenteil, so Rosen.
    Rosen kritisiert fehlende Einordnung
    Einerseits misstrauen sowieso immer mehr US-Amerikaner diesem Objektivitäts-Versprechen des Journalismus. Andererseits führt so eine Positionslosigkeit auch häufig zu einer Berichterstattung nach dem Muster: Er sagte, sie sagte. Auch so ein Lieblingsthema von Jay Rosen. Er kritisiert diese Praxis schon seit Jahren, die Debatte beginnt aber erst so richtig, seit Donald Trump US-Präsident ist.
    Was Jay Rosen stört: Aussagen von Politikern einfach ohne kritische Einordnung zu wiederholen, war noch nie eine gute Idee - und ist es erst recht nicht seit Donald Trump. Journalisten werden damit zu Stenographen, zu Lautsprechern, zu Megaphonen - für die Agenda der Zitat-Urheber.
    Aber jetzt, mit Donald Trump, lerne die Presse, wie wenig hilfreich die bisherigen journalistischen Routinen sein können. Oder wie kontraproduktiv sie sind, wenn haarsträubende Politiker-Aussagen dadurch kontextlos in Überschriften, Zitatbildern und Tweets landen.
    Jay Rosen twittert selber viel, schreibt auch lange Beiträge auf seinem Blog, taucht in Medien-Sendungen auf. Dabei kann seine Kritik an einzelnen Medien, an einzelnen Journalistinnen und Journalisten oft bissig und ziemlich zynisch sein, besonders auf Twitter. Rosen gewinnt mit seinen Thesen keinen Beliebtheitspreis. Auch der Kritiker wird kritisiert.
    Perspektivwechsel im Politikjournalismus in den 80er-Jahren
    2010 schrieb Rosen, in einem einfachen Hauptsatz, ohne Ausnahmen und Einschränkungen: "Der Politik-Journalismus ist kaputt". Möglicherweise stimmt das auch für Deutschland, mutmaßt Jay Rosen in Berlin. Drei Monate lang will er die Medienlandschaft in Deutschland studieren.
    Die politische Presse in den USA sei in den 1980er-Jahren falsch abgebogen, findet Rosen. Bis dahin hätten Journalisten vor allem aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger berichtet. Dann kam der Perspektivwechsel.
    Der Politik-Journalismus habe zunehmend die Perspektive von Politik-Profis, von Spin-Doktoren eingenommen, zunehmend mehr über Politik als Spiel für Insider berichtet, weniger für die Öffentlichkeit.
    Kein neuer Vertrauensbruch zum Journalismus
    Rosen findet, dass so ein Bruch zwischen Politik-Berichterstattung und Öffentlichkeit entstand. Journalisten berichten über das Geschehen in der Politik, aber nicht über die Auswirkungen der Politik auf die Öffentlichkeit, auf die Menschen. Er sieht Trump und seine Angriffe auf die Presse deswegen nicht als Ursache - sondern als Symptom eines weitaus älteren Vertrauensbruchs zum Journalismus.
    Aber Jay Rosen prangert nicht nur Missstände an, er schlägt auch Lösungen vor. Radikale Transparenz statt des alten Objektivitäts-Dogmas ist beispielsweise einer seiner Vorschläge. Journalisten müssen besser als die Politik dabei werden, zuerst die persönlichen Probleme der Menschen zu erkennen und sie dann mit Problemen der Öffentlichkeit zu verbinden. Nicht andersherum.
    Dann sagt Jay Rosen, zum ersten Mal selbstkritisch nach dreißig Minuten Gespräch: "Das ist eine Antwort, die nur einen Professor wie mich zufriedenstellt. Sie sagt nichts darüber aus, wie Journalismus in der Praxis aussehen soll. Ich weiß nicht genau, wie man das in den journalistischen Alltag überträgt, aber die Lösung geht in diese Richtung."