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US Open
Balljunge Undercover

Rund 200 Balljungen und -mädchen werden für das zweiwöchige Grand-Slam-Turnier der US Open benötigt. Aber nicht jeder wird genommen. Als Stundenlohn gibt es acht US-Dollar und jede Menge zu lernen. Wie John Hart in seinem Buch "Man versus Sport" beschrieben hat.

Von Jürgen Kalwa | 07.09.2014
    Der Blickwinkel Selbsterfahrung - das hat im amerikanischen Sportjournalismus Tradition. Die Perspektive, die der New Yorker Journalist Jon Hart bevorzugt, ist allerdings schon sehr speziell. Und seine Geschichten sind es auch. Man nehme seine Zeit als Balljunge bei den US Open, die vor vielen Jahren die überschaubare Clubanlage in Forest Hills mit ihren Rasenplätzen verließen und einen Mega-Komplex neben dem LaGuardia-Flughafen bezogen. "Ich bin oft in Forest Hills gewesen und habe die Balljungen beobachtet und gedacht: Als Spieler kann ich nichts werden, aber vielleicht damit."
    Jahre später machte der New Yorker Journalist das wahr. Er bewarb sich um eine der knapp hundert Stellen, die der amerikanische Tennisverband im Rahmen seiner Meisterschaft jedes Jahr neu vergibt. Mindestalter: 14. Nach oben keine Grenze. Hart war Ende 20. Nicht jeder ist für den Job geeignet, bei dem man reaktionsschnell sein und gut fangen und werfen können muss, nie den Mund aufmachen darf und quasi in der Kulisse des Spiels verschwindet.
    Hart ließ sich nicht entmutigen, als er beim ersten Anlauf bei der Bewerbung durchfiel, dem sogenannten Try-out. Ein Jahr später hatte er mehr Glück. "Ich glaube, ich war ziemlich gut. Besonders im ersten Jahr. Da wäre ich fast als bester Neuling ausgezeichnet worden. Ich bin wie auf Eierschalen unterwegs gewesen. Aber ständig blitzschnell, um zu rennen, rennen, rennen."
    Hart hat vor ein paar Monaten ein lesenswertes Buch veröffentlicht mit all seinen Erlebnisberichten aus der Welt des Sports. Es hat den mysteriösen, etwas sperrigen Titel "Man versus Ball - Mann gegen Ball". Und enthält diese Episode von dem Marathon-Match zwischen dem Schweizer Ivo Heuberger und dem Algerier Slimane Saoudi, das über fünf lange Sätze geht und bis an den Rand der totalen Erschöpfung.
    "Das Match war verbittert. Es ging heiß her. Ein Spieler war kurz davor ohnmächtig zu werden. Sie haben mit sich selbst geredet und geflucht. Es war dunkel geworden. Die Zuschauer waren nach Hause gegangen und deshalb fühlte sich das Geschehen fast intim an. Dann hat einer aus Wut den Schläger gegen die Wand geworfen und fast einen Linienrichter getroffen. Es war ziemlich gefährlich."
    Vom Tennis über Baseball bis zum Wrestling
    Hart wechselte irgendwann zu anderen Sportarten. Zum Baseball, wo er als Bierverkäufer die Fans der New York Yankees kennenlernte - Amerikas berühmtesten Club. Zum Eishockey, wo er in Michigan als sogenanntes Maskottchen in einem riesigen neon-pinken Gorilla-Kostüm in der Halle eingesetzt wurde, nachdem er mehrere Tage lang eine spezielle Maskottchenschule in Nashville/Tennessee besucht hatte. Auch als er beschloss, sich auf eine monatelange Ausbildung für die Showsportart Wrestling einzulassen.
    Wrestling sieht brutaler aus, als es ist. Aber es ist ganz und gar nicht ungefährlich. Hart litt nach den vielen Würfen, bei denen man mit dem ganzen Körper auf den Mattenboden knallt, ständig unter Kopfschmerzen und musste zu Medikamenten greifen. Seine Karriere ging schon bald zu Ende. Die Selbsterkenntnis, die er auf Seite 56 im Buch festgehalten hat, war stärker als die Leidenschaft, sich vielleicht doch noch zum Showstar zu entwickeln: "Die Realität ist: Ich bin nicht wirklich gut im Wrestling."
    Schon sehr viel besser war er übrigens im Roller Basketball. Obwohl seine Erinnerung an die kuriose Disziplin, bei der man auf Roller Blades über das Spielfeld hastet, darin kumuliert, dass er nach einem Zusammenprall mit dem Kopf auf dem Parkett und wenig später im Krankenhaus landet. Harts Buch hätte wohl auch heißen können: "Mann gegen Fußboden."
    Der Journalist, der schon für viele namhafte Publikationen geschrieben hat, ist übrigens ein Mann voller Selbstironie. Was sein Buch noch lesenswerter macht, als es ohnehin ist. Denn einen so nahen und so persönlichen Zugang zum Sport findet man in den klassischen Medien nur ganz selten - so wie diese Erfahrung von den US Open. "Es ist Theater. Ich habe darin eine Rolle gespielt. In Uniform und als Teil des Szenenbildes. Und das ist Teil der Erfahrung und Teil dessen, was mich inspiriert hat zu schreiben."