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US-Schriftsteller bekommt Prix Goncourt

Der US-Autor Jonathan Littell hat mit seinem Erstlingswerk "Les Bienveillantes» (Die Wohlmeinenden) Frankreichs angesehensten Literaturpreis Prix Goncourt gewonnen. Wie die Goncourt-Jury in Paris mitteilte, setzte sich der 39-Jährige mit den fiktiven Memoiren eines SS-Mannes in der letzten Runde unter anderem gegen Michel Schneiders Marilyn-Monroe-Buch "Marilyn, Dernières séances" durch.

Moderation: Doris Schäfer-Noske | 06.11.2006
    Doris Schäfer-Noske: Das Restaurant Drouant gleich um die Ecke der Pariser Oper ist in erster Linie nicht für seine gute Küche bekannt. Exquisit speisen kann man da zwar auch, aber vor allem treffen sich dort jedes Jahr Anfang November zehn Schriftsteller, um nach einem Mittagessen den Träger des wichtigsten französischen Literaturpreises bekannt zu geben, des Prix Goncourt. Seit über 100 Jahren gibt es diese Auszeichnung, die Preissumme ist von ursprünglich 5000 Goldfrancs inzwischen auf ein Trinkgeld zusammengeschrumpft. Trotzdem ist der Prix Goncourt Gold wert, denn er lässt die Verkaufszahlen emporschnellen. Diesmal hat man sich allerdings für ein Buch entschieden, das diesen Verkaufsruhm gar nicht mehr nötig hat. Jonathan Littells Roman "Les Bienveillantes" ist nämlich in Frankreich bereits ein Bestseller. Letztes Jahr ist die Jury gerade am erfolgreichen Favoriten Michel Houellebecq vorbeigegangen. Jürgen Ritte, warum hat man sich denn diesmal anders entschieden, nämlich für den kommerziell Erfolgreichen?

    Jürgen Ritte: Die Jury des Prix Goncourt wollte diesmal nicht an dem Autor vorbeigehen, der allenthalben schon von der französischen Literaturkritik qua Plebiszit zum Ereignis und zum wichtigsten Roman der rentrée erklärt worden war.

    Schäfer-Noske: Nun ist ja der Roman von Jonathan Littell ein Tabubruch, denn es handelt sich ja um die Memoiren eines SS-Massenmörders. Inwieweit ist denn die Auszeichnung verdient, inwieweit ist es ein gutes Buch?

    Ritte: Ich bin eher skeptisch. Dieser SS-Massenmörder Max Aue ist ja eine fiktive Gestalt, die Jonathan Littell erfunden hat. Und die befrachtet er nun mit allem Furchtbaren was man überhaupt aus der Zeit des Naziregimes sich ausdenken kann über einen Massenmörder. Er vereint einfach alle furchtbaren Eigenschaften von solchen Leuten auf sich. Und das ist eigentlich schon fast wieder zu viel, um wirklich wahr zu sein. Trotzdem muss man sich natürlich fragen, warum ausgerechnet in Frankreich ein solcher Roman, der das absolute Grauen, das absolut Böse beschreibt, einen solchen Erfolg haben kann. Ich habe den starken Eindruck - und der wird eigentlich bestätigt durch die Begründung, die heute Jorge Semprun, ein Mitglied der Jury des Prix Goncourt, gegeben hat -, offenbar kommt jetzt in Frankreich an, was in den Vereinigten Staaten schon lange der Fall ist. Das heißt, wir treten in das Stadium der Fiktionalisierung von Geschichte. Das sind nicht mehr die Arbeiten der Historiker, die die Erinnerung an die Vergangenheit wach halten, wie etwas Raul Hilbergs berühmte und monumentale Studie über die Vernichtung der Juden in Europa, sondern es sind jetzt Fiktionalisierungen. Es sind Geschichten wie sie das amerikanische Kino, wie sie auch Spielberg schon seit langem anbietet. Und das werden die Referenzen sein in der Zukunft. Das ist das, was Semprun heute sagte, an diesem Buch durften wir nicht vorbeigehen, denn dieses Buch wird eine Referenz sein. Ich halte das für etwas bedenklich, wenn solche doch eher zweifelhaften Romankonstruktionen an die Stelle der Beschäftigung mit der wirklichen Geschichte rücken.

    Schäfer-Noske: Herr Ritte, wie gerecht ist denn diese Entscheidung, wenn man die anderen drei Kandidaten der Shortlist einmal berücksichtigt?

    Ritte: Also, wie berechtigt sie ist, das ist eine Frage, die die Jurymitglieder selbst beantworten müssen oder vielleicht gar nicht beantworten können. Wir wissen allerdings, und das pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass solchen Preisverleihungen auch immer ein Riesengemauschel vorangeht. Und wenn man sich das in diesem Jahr anschaut, dann stellen wir fest, dass mit Jonathan Littell ein Autor des Großverlegers Gallimard den Preis bekommen hat, er war sozusagen an der Reihe. Die anderen beiden Großkonkurrenten, das sind Le Seuil und Grasset, die waren in den vergangenen Jahren dran. Und wenn Sie noch genauer hinschauen, dann stellen Sie fest, dass Le Seuil mit dem Prix Renaudot, der heute auch verliehen wurde, ebenfalls einen der großen Literaturpreise abbekommen hat, und dass auch Grasset mit dem Médicis seinen Preis abbekommen hat. Also es wird immer alles verteilt unter den drei Großen. und dann bleibt auch noch hie und da einmal etwas für einen Kleinen übrig.

    Schäfer-Noske: Nun ist ja gerade heute auch ein Enthüllungsbuch eines ehemaligen Jurors zum Prix Goncourt erschienen. Was erfahren wir denn da Neues über diese Verteilung, diese Schiebungen unter den großen Verlagen, hinaus?

    Ritte: Also wirklich Neues erfahren wir nicht, aber das Interessante an diesem Buch, an diesem Enthüllungsbuch, an diesen Erinnerungen - der Juror Jacques Brenner, um ihn mit Namen zu nennen, ist schon seit einiger Zeit verstorben. Das ist also ein posthumes Tagebuch, das dort veröffentlicht wird. Wir haben hier in diesem Buch jetzt zum ersten Mal auch die Bestätigung alles dessen, was ohnehin sonst nur gemunkelt wird. Also er schreibt ganz genau, wie das geht, wie die Verleger versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Juroren. Sie rufen an, sie laden sie zum Essen ein, den Juroren, sofern sie selbst Romanautoren sind, werden traumhafte Verlagsverträge angeboten mit Vorauszahlungen, die absolut nicht zu rechtfertigen sind. Manchmal wird sogar der Ehemann, oder die Ehefrau, je nachdem, des Jurors mit einem Verlagsvertrag versehen und so weiter. Also es ist wirklich ein Fall von aktivster Bestechung. Das alles erzählt Jacques Brenner, und das alles war einem irgendwie ohnehin schon klar, aber hier hat man einmal die Bestätigung von innen.

    Schäfer-Noske: Herr Ritte, die über hundertjährige Geschichte des Prix Goncourt ist ja auch immer wieder von Skandalen überschattet worden. Louis Aragon verlies zum Beispiel 1968 die Jury, weil er, wie er sagte, bei dem Kannibalismus seiner Kollegen nicht mehr mittun wollte. Inwieweit nagen denn solche Skandale am Ansehen der Literaturpreise in Frankreich?

    Ritte: Ich denke, die nagen eigentlich überhaupt nicht am Ansehen der Literaturpreise in Frankreich. Denn der Skandal gehört dazu wie die Butter aufs Brot. Das entscheidende am Prix Goncourt, das ist sein verkaufssteigernder Wert. Jetzt bei Jonathan Littell werden wir sehen, 250.000 Exemplare von seinem Buch sind bereits verkauft, ein Goncourt-Preis kann unter Umständen für Auflagen von 400.000 sorgen. Also da ist jetzt für Jonathan Littell noch einiges drin.

    Schäfer-Noske: Jürgen Ritte war das über die Vergabe des Prix Goncourt an Jonathan Littell.