Karin Fischer: Wenn es ein Handbuch für Diktatoren gäbe, dann stünden die neuen Vorschläge von Innenminister Wolfgang Schäuble zur Terrorabwehr da bestimmt drin. Vom Ausspionieren privater PCs über das Handyverbot für sogenannte Gefährder bis hin zur gezielten Tötung. Instrumente von und für Staatsterroristen, möchte man meinen. Und im politischen Raum wird längst die Frage diskutiert: Wo ist die Grenze zwischen dem Sicherheitsinteresse der herausgeforderten demokratischen Gesellschaft und dem Überwachungsstaat. George Orwell wird dann immer zitiert. 1949 hat der Schriftsteller in dem Roman "1984" seine düstere Vision der totalen Kontrolle des Individuums vorgestellt, und auch da war ein wichtiges Stichwort, wie jetzt bei Schäuble: Prävention. Frage an den Medienwissenschaftler Norbert Bolz: Ist Orwell heute zu einer Formel geworden oder gibt es tatsächlich Parallelen zwischen diesem Klassiker der utopischen Literatur und der Gesellschaft heute?
Norbert Bolz: Orwell wäre sicher kein Mustertext für das Verständnis unserer Gegenwart, wenn er nicht ein reales Problem treffen würde mit seiner negativen Utopie. Und ich glaube, da ist Besonnenheit außerordentlich schwierig zu entwickeln, weil bei sehr, sehr vielen Sachverhalten, die Sicherheit, Terrorbedrohungen moderner Gesellschaften betreffen, die Paranoia von der Erkenntnis der Wirklichkeit oft kaum mehr zu unterscheiden ist.
Fischer: Um eine solche Paranoia geht's ja auch eigentlich immer in der entsprechenden Science-Fiction-Literatur. Man könnte in diesem Zusammenhang noch nennen "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley oder den russischen Revolutionär und Schriftsteller Jewgenij Iwanowitsch Samjatin, der in seinem Roman "Wir" die Unterdrückung jeglicher Individualität durch den Kommunismus beschreibt und auch irgendwie als der Vater all dieser bedrückenden Szenarien gilt. Es scheint also mithin egal zu sein, welches Gesellschaftsmodell man im Rücken hat, weil utopische Entwürfe das Totalitäre in sich bergen so wie die Revolution die Gewalt?
Bolz: In der Tat ist das Totalitäre immer ein sicherer Weg in die Unterdrückung und in die Paranoia der Herrschenden auf der einen Seite und die Versklavung aller anderen auf der Seite der Unterdrückten. Aber ich glaube, viel wichtiger ist ein ganz anderer Zusammenhang, nämlich dass diese Negativutopien sich doch sehr deutlich unterscheiden. Ich würde sagen, die Utopie von Huxley ist sehr viel gefährlicher und eigentlich auch realistischer, weil sie im Grunde die Menschen versklavt durch Lust, während die Utopie von Orwell im Grunde noch freundlich ist in all ihrer Negativität, weil man die unterdrückenden Mächte sofort identifizieren und beherrschen kann. Und deshalb bin ich auch immer skeptisch, wenn Orwell als Kronzeuge für unsere Gegenwart aufgerufen wird. Ich vermute einfach, dass Überwachung und klassische Formen des Totalitarismus unterschätzen, in welcher Weise wir heute versklavt werden. Die Versklavung läuft wahrscheinlich sehr viel mehr über ein verändertes Denken oder ein Sich-nicht-trauen-zu-denken als über offene Unterdrückung.
Fischer: Sie sagen Versklavung durch den eigenen Kopf, da liegt ja das Stichwort Hollywood nicht weit, und wir haben ja heute vielleicht sogar weniger Literatur als moderne Science-Fiction-Märchen aus Hollywood im Kopf, auch zu diesem Thema Überwachungsstaat. Da gibt es jede Menge Hilfsmittel für die moderne Totalüberwachung zu sehen - vom implantierten Chip in der Haut bis zur hotelzimmergenauen Ortung von Handys. Schäuble sollte sich überlegen, ob man möglichen Terroristen die Mobiltelefone nicht doch lieber lassen sollte.
Bolz: Also in der Tat ist es so, dass die Überwachungsfortschritte aufgrund der Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologien ein Niveau erreicht haben, von dem Orwell tatsächlich nur träumen konnte. Insofern ist "1984" längst Wirklichkeit. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass unsere moderne Gesellschaft gerade auch in ihrer allerliberalsten Form fordert so etwas wie Durchsichtigkeit, Transparenz und natürlich auch Sicherheit. Das heißt, wenn wir die Diskussion, die heute geführt wird, anlässlich von Schäuble, genau betrachten und nüchtern betrachten, sehen wir einen klassischen Widerspruch, nämlich den Widerspruch nach der Forderung der Transparenz und auf der anderen Seite der Forderung nach Sicherung der Privatsphäre. Beides lässt sich offensichtlich immer schwerer miteinander vereinbaren. Gegenüber Schäuble und seinen Plänen fordern wir Privatsphäre. Gleichzeitig und noch Tage zuvor haben wir Gesetze durchgepaukt, die absolute Transparenz beispielsweise bei der Einkommensstruktur von Abgeordneten fordern, und es soll keine Geheimnisse gerade auch der Regierung mehr geben. Und wenn man auf der anderen Seite bedenkt, dass Regierungspolitik, seit es moderne Gesellschaften gibt, immer auch aufs Geheimnis angewiesen war, also auf Geheimhaltungstechniken, dann sieht man, in welche Widersprüche wir verstrickt sind. Und da gibt es keine eleganten, einfachen Auswege.
Fischer: Der Feind sitzt nämlich auch und vor allem in unseren Köpfen. Herzlichen Dank Norbert Bolz für diese Einschätzungen zum Thema Sicherheitsbedürfnis und Überwachungsstaat.
Norbert Bolz: Orwell wäre sicher kein Mustertext für das Verständnis unserer Gegenwart, wenn er nicht ein reales Problem treffen würde mit seiner negativen Utopie. Und ich glaube, da ist Besonnenheit außerordentlich schwierig zu entwickeln, weil bei sehr, sehr vielen Sachverhalten, die Sicherheit, Terrorbedrohungen moderner Gesellschaften betreffen, die Paranoia von der Erkenntnis der Wirklichkeit oft kaum mehr zu unterscheiden ist.
Fischer: Um eine solche Paranoia geht's ja auch eigentlich immer in der entsprechenden Science-Fiction-Literatur. Man könnte in diesem Zusammenhang noch nennen "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley oder den russischen Revolutionär und Schriftsteller Jewgenij Iwanowitsch Samjatin, der in seinem Roman "Wir" die Unterdrückung jeglicher Individualität durch den Kommunismus beschreibt und auch irgendwie als der Vater all dieser bedrückenden Szenarien gilt. Es scheint also mithin egal zu sein, welches Gesellschaftsmodell man im Rücken hat, weil utopische Entwürfe das Totalitäre in sich bergen so wie die Revolution die Gewalt?
Bolz: In der Tat ist das Totalitäre immer ein sicherer Weg in die Unterdrückung und in die Paranoia der Herrschenden auf der einen Seite und die Versklavung aller anderen auf der Seite der Unterdrückten. Aber ich glaube, viel wichtiger ist ein ganz anderer Zusammenhang, nämlich dass diese Negativutopien sich doch sehr deutlich unterscheiden. Ich würde sagen, die Utopie von Huxley ist sehr viel gefährlicher und eigentlich auch realistischer, weil sie im Grunde die Menschen versklavt durch Lust, während die Utopie von Orwell im Grunde noch freundlich ist in all ihrer Negativität, weil man die unterdrückenden Mächte sofort identifizieren und beherrschen kann. Und deshalb bin ich auch immer skeptisch, wenn Orwell als Kronzeuge für unsere Gegenwart aufgerufen wird. Ich vermute einfach, dass Überwachung und klassische Formen des Totalitarismus unterschätzen, in welcher Weise wir heute versklavt werden. Die Versklavung läuft wahrscheinlich sehr viel mehr über ein verändertes Denken oder ein Sich-nicht-trauen-zu-denken als über offene Unterdrückung.
Fischer: Sie sagen Versklavung durch den eigenen Kopf, da liegt ja das Stichwort Hollywood nicht weit, und wir haben ja heute vielleicht sogar weniger Literatur als moderne Science-Fiction-Märchen aus Hollywood im Kopf, auch zu diesem Thema Überwachungsstaat. Da gibt es jede Menge Hilfsmittel für die moderne Totalüberwachung zu sehen - vom implantierten Chip in der Haut bis zur hotelzimmergenauen Ortung von Handys. Schäuble sollte sich überlegen, ob man möglichen Terroristen die Mobiltelefone nicht doch lieber lassen sollte.
Bolz: Also in der Tat ist es so, dass die Überwachungsfortschritte aufgrund der Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologien ein Niveau erreicht haben, von dem Orwell tatsächlich nur träumen konnte. Insofern ist "1984" längst Wirklichkeit. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass unsere moderne Gesellschaft gerade auch in ihrer allerliberalsten Form fordert so etwas wie Durchsichtigkeit, Transparenz und natürlich auch Sicherheit. Das heißt, wenn wir die Diskussion, die heute geführt wird, anlässlich von Schäuble, genau betrachten und nüchtern betrachten, sehen wir einen klassischen Widerspruch, nämlich den Widerspruch nach der Forderung der Transparenz und auf der anderen Seite der Forderung nach Sicherung der Privatsphäre. Beides lässt sich offensichtlich immer schwerer miteinander vereinbaren. Gegenüber Schäuble und seinen Plänen fordern wir Privatsphäre. Gleichzeitig und noch Tage zuvor haben wir Gesetze durchgepaukt, die absolute Transparenz beispielsweise bei der Einkommensstruktur von Abgeordneten fordern, und es soll keine Geheimnisse gerade auch der Regierung mehr geben. Und wenn man auf der anderen Seite bedenkt, dass Regierungspolitik, seit es moderne Gesellschaften gibt, immer auch aufs Geheimnis angewiesen war, also auf Geheimhaltungstechniken, dann sieht man, in welche Widersprüche wir verstrickt sind. Und da gibt es keine eleganten, einfachen Auswege.
Fischer: Der Feind sitzt nämlich auch und vor allem in unseren Köpfen. Herzlichen Dank Norbert Bolz für diese Einschätzungen zum Thema Sicherheitsbedürfnis und Überwachungsstaat.