Archiv


Uwe Pörksen: Was ist eine gute Regierungserklärung? Grundriss einer politischen Poetik

Was ist eine gute Regierungserklärung, fragt der emeritierte Literaturwissenschaftler Uwe Pörksen in seinem neuen Buch. Dass eine Regierungserklärung gut, das heißt von gehaltvollem Inhalt, vorgetragen in einer geschliffenen Rhetorik sein könnte, wird den meisten Bürgern heute als Widerspruch in sich erscheinen, hat man sich doch an langatmige, holprig vorgetragene Bundestagsreden voller Klischees und abgedroschener Phrasen längst gewöhnt.

Von Jochen Stöckmann |
    Mit der Krise kommt die Kraft, zumindest die Kraft der freien Rede: Mit dieser Hoffnung stellt Uwe Pörksen die Frage "Was ist eine gute Regierungserklärung?" Und der Germanist erinnert daran, dass schließlich auch 1972, als die Regierung Brandt/Scheel gestürzt werden sollte, meisterhafte Reden im Bonner Parlament gehalten wurden. Auch 1989, als die DDR zusammenbrach, sei politisch geredet worden:

    Frei, klar und gekonnt, als habe man jahrelang im Stillen geübt.

    Gerhard Schröders Regierungserklärung im März dieses Jahres aber, die "Agenda 2010" scheint nicht zu jenen Gipfelpunkten zu zählen, ist nicht in einer dieser Umsturzzeiten angesiedelt, da heiß umstrittene Parolen und Programme in aller Munde sind – und von den meisten auch verstanden werden.

    "Hartz römisch zwei" dagegen steht für ein Reformprogramm, dessen Einzelheiten über den kleinen Kreises der Experten hinaus kaum noch jemandem geläufig sein dürften. Höchste Zeit also für eine Regierungs-Erklärung, die energisch eine neue Richtung angibt und diesen neuen Kurs knapp und anschaulich erläutert. Hohe Erwartungen also – die aber enttäuscht wurden, folgt man dem Publizisten Klaus Harpprecht:

    Die idiotisch überdrehte Dramaturgie hatte uns auf die historische Wende eingestimmt. Doch was der Kanzler bot, war eine Demonstration DER Vernunft. Mittelweg und Mittelmaß. "Mut zur Veränderung"? Der kam merkwürdig zögernd daher, ohne Biss, ohne einen Funken Inspiration.

    Nicht ohne Grund zitiert Pörksen mit Harpprecht einen ehemaligen Redenschreiber Willy Brandts. Als Profi nämlich hatte der, ebenso wie der politische Ghostwriter Reinhard Ueberhorst, die rhetorischen Schwächen von Schröders Rede als Indiz eines politischen Defizits gewertet. Pörksen dagegen war in einer ersten, spontanen Einschätzung zu einer durchaus passablen Bewertung gekommen. Diese Differenz zu klären hielt er seine Vorlesung über den "Grundriss einer politischen Poetik". Poetik leitet der Sprachwissenschaftler vom griechischen "machen" ab, die Rede gilt ihm folglich als Werkzeug der Politik. Diesen inhaltlichen Teil allerdings, so steht zu vermuten, nehmen Redenschreiber dem Kanzler ab. Sie sind Handlanger, niemals Regisseure eines Staatsschauspielers, eines Meisters der wortlosen Kommunikation, der überzeugend beiläufigen Gesten. Für Schröder, wie auch für viele Kanzler vor ihm, liegt das Wesentliche ihrer alltäglichen Auftritte in Apercus, mit denen nicht ein vorbereiteter Text bekräftigt, sondern das jeweilige Publikum umworben wird. Alexander Kluge hat das in seiner Kurz-Geschichte "Sich einlesen" treffend analysiert:

    Der Kanzler konnte sich auf eine kurzfristig angesetzte Rede am besten dadurch vorbereiten, dass er selber redete. Er konnte nicht Übersicht gewinnen, indem er sich durch Fakten verwirren ließ. Vielmehr eignete er sich die Tatsachen an, indem er sie in seiner Reihenfolge aufführte, sozusagen wie ein Echolot sie in einer zunächst beliebigen oder erinnerten Reihenfolge seinen kundigen Zuhörern mitteilte, um an deren Mienenspiel abzulesen, wann er etwas traf und wann nicht. Diese Lernlinie konnte er noch in der Zeit des Vortrags vorsichtig nachbessern, in der Hoffnung, dass sein Erinnerungsvermögen ihn nicht im Stich ließ.

    Soweit also der Normalfall politischer Rede. Aber in einer Zeit, da Umfrageergebnisse die Politik ersetzen, sollte wenigstens die Regierungserklärung sich davon absetzen. Das ist nicht nur die Hoffnung des Bürgers Pörksen, das ist auch die Grundthese seiner idealtypischen Erörterung. Im Ringen mit den übermächtigen Argumentationsfiguren der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik hat das Parlament seine Bedeutung längst eingebüßt, auch die Behandlung politischer Themen in den Massenmedien führte mit der Ausdehnung eben auch zu einer inhaltlichen Ausdünnung – gegen diese eigene Bestandsaufnahme tritt Pörksen mit republikanischem Trotz an, "das Politische" wiederzuentdecken: Wo, wenn nicht in der Regierungserklärung?

    Die allerdings müsste sich sehr weit von den Niederungen internationaler Real- und kommunaler Tagespolitik entfernen, bedenkt man Pörksens Hinweis, dass der Ruf nach "autonomer Politik" in Deutschland ausgerechnet das Ergebnis des Irakkriegs gewesen sei. Gegen "Großmächte" nämlich, gegen die alle Diskurse beherrschende Trias Wirtschaft, Wissenschaft, Technik vor allem soll das nicht näher definierte "Politische" für Balance sorgen, das individuelle und auch das gemeinsame Wohl garantieren. Keine leichte Aufgabe für Auto-Kanzler Schröder, dem auch Pörksen zugesteht, dass er es in erster Linie mit dem Aufbrechen einer gesellschaftlichen "Blockade"-Situation zu tun hat. Bundespräsidenten haben es da leichter. Ob nun von Weizsäcker zum "Innehalten" aufruft oder Roman Herzog einen "Ruck" sehen will, als Repräsentanten höherer Staatsvernunft werden sie in jedem Falle gerne gegen niedere Partei- und Individualinteresse in Anspruch genommen. Dem "Ausbalancieren" gesellschaftlicher Kräfte allerdings ist mit solchen Sonntagsreden kaum gedient.

    Pörksen entgeht diesem Dilemma mit seinem Verdikt, dass der Gedanke an "Problemstellung und Lösung" das falsche Bild einer Regierungs-Erklärung hervorrufe. Vielmehr sollten hier mit wohlverstandener Rhetorik erst einmal alle Wege und Ansätze öffentlich durchgespielt werden. Sich in dieser Kunst zu üben, muss eine Akademie her, eine Rednerschule als Politikwerkstatt:

    Ich denke an ein Institut, wo zwanzig Gäste sich ein Jahr lang auf dem Feld der politischen Rede umtun. Es braucht mehr als 20 Einzelzimmer, einen Vortragssaal und hinterm Haus eine Vortragswiese, womöglich einen Park. Eine Bibliothek. Es gibt vier Lehrpersonen für
    - Findekunst und Recherche
    - Dialogführung und Gesprächstechnik
    - Disposition und Schreibkunst
    - Vortragskunst und visuelle Kommunikation.


    Das wäre für Pörksen der Ort, wo wahre Politik gedacht, erprobt und eingeübt wird. Und zwar "in Reinkultur". Mit diesem Begriff aus der Labortechnik weckt der Geisteswissenschaftler die Assoziation an die gewöhnliche Politik als schmutziges Geschäft, aber auch die Erinnerung an ähnliche Studierstuben, in denen radikale Visionen erdacht wurden, deren flächendeckende Realisierung oft genug mörderische Konsequenzen hatte.

    Diesen elitären Hang zur Weltbeglückung wird heutzutage niemand mehr einem deutschen Germanisten unterstellen. Gerade deshalb aber wirkt es irritierend, wenn Pörksen auf der Suche nach sauberen Verhältnissen nicht nur die System-Theorie von Niklas Luhmann als ein "Fabeln in pseudonaturwissenschaftlicher Sprache" abtut, sondern auch das zwielichtige, eben deshalb von der politischen Wissenschaft oft benutzte Sprachbild des "Leviathan" meidet. Bei ihm ist es stattdessen ein fabelhafter "Gulliver", den Kanzler Schröder mit seiner Reformpolitik "entfesseln" soll. Das hört sich an, als stecke hinter der unbekannten politischen Größe, die Pörksen rhetorisch umkreist, am Ende nur jener deutsche Michel, wie wir ihn aus den Karikaturen kennen.

    Ein verzerrtes Bild der politischen Realität steht denn auch bei Pörksen neben dem scharf umrissenen Idealtypus. Mag er auch von einer guten Regierungserklärung ein "Wechselbad aus gelungener Abstraktion und sprechender Konkretheit" fordern, so steht der Kritiker selbst der sozialen Realität in etwa so fern wie all jene Redenschreiber, die mit dem oft zitierten "Raumschiff Bonn" auch in Berlin nicht gerade mitten im Leben, aber wenigstens direkt in der Nähe des Kanzlers gelandet sind. Da hat sich wenig geändert, nicht einmal im Vergleich zu jenem königlichen Hofstaat, über dessen politische Stützen der Diplomat Helfrich Peter Sturz vor über zweihundert Jahren urteilte:

    Ein Regierungskünstler der fern von Geschäften für Könige schreibt, kann aus sich selbst nichts als Gemeinsätze spinnen.

    Uwe Pörksen: Was ist eine gute Regierungserklärung? Grundriss einer politischen Poetik. Es ist im Wallstein Verlag in Göttingen erschienen, hat 78 Seiten und kostet 10 Euro.