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Uwe Schultz: Descartes

"Seine Metaphysik ist der Ausdruck seiner Person. Descartes ist die Verkörperung der auf Klarheit des Denkens gegründeten Autonomie des Geistes: In ihm lebt eine originale Verbindung von Freiheitsbewusstsein mit dem Machtgefühl des rationalen Denkens: und hierin liegt wohl die äußerste Steigerung des Souveränitätsbewusstseins, zu der sich je ein Mensch erhoben hat."

Bernd Leineweber |
    So der Philosoph Wilhelm Dilthey im Jahre 1900 über den Philosophen, Mathematiker und Physiker René Descartes, der 1596 in Lahaye in Frankreich geboren wurde. Er verbrachte große Teile seines erwachsenen Lebens in Holland, weil er in seiner Heimat vor allem von der katholischen Kirche verfolgt wurde. Descartes gilt als Begründer der neueren rationalistischen Philosophie, Erkenntnis stützt sich auf die Gewissheit von Vernunfteinsichten, die Mathematik dient dem Philosophen als Vorbild. Berühmt ist sein Ausspruch ?Cogito ergo sum': Ich denke, also bin ich'. Das Ich ist bei Descartes seinem Wesen nach ein denkendes Wesen. Eine Einsicht, mit der sich nicht nur die katholische Kirche schwer tat. Doch mehr als dieses "Cogito ergu sum" kennen viele auch heute nicht von diesem Revolutionär des abendländischen Denkens. Die Philosophie hat es schwer in diesen Zeiten abnehmenden Sprech- und Denkvermögens, in denen die Vermittlung komplexer Gedankengebäude durch den Konsum zusammenhangloser Datenmassen ersetzt wird. Gerne weicht da der Buchmarkt auf Biographien aus, ist doch die Plauderei übers Leben eines großen Geistes leichter an den Leser zu bringen als die Auseinandersetzung mit seinem Denken. Über René Descartes ist nun auch gerade eine Biographie erschienen. Ob es ihrem Autor Uwe Schultz gelungen ist, Descartes' wissenschaftlichen Erkenntnissen den angemessenen Raum zu geben, sagt Ihnen Bernd Leineweber:

    "Descartes. Biographie" - so lautet der nüchterne Titel der neuesten, fast noch pünktlich zum 359. Todesjahr des großen Philosophen, Mathematikers und Physikers erschienenen Biographie. Ein Jubiläumsband für einen Klassiker also, einen Autor, den jeder kennt. Wer kennt ihn nicht, einen der Begründer der modernen wissenschaftlichen Weltauffassung, einen Schriftsteller, der ebenso in die Philosophiegeschichte eingegangen ist wie in die Schulbücher. Jedermann kann ihn, auch wenn er über keinerlei philosophische Bildung verfügt, mit drei oder fünf Worten zitieren.

    Man kennt ihn, diesen Klassiker, wie man Klassiker eben so kennt: Man meint zu wissen, was er "gesagt" hat, nur seine Lebensgeschichte ist wenig bekannt. Häufig ist das einzige Motiv für eine Klassikerbiographie, eine menschlich-wohlige Nähe zu dem Genie herzustellen und die voyeuristische Neugier zu befriedigen: wie mag der große Mann wohl gelebt haben, welche alltäglichen Freuden und Sorgen hatte er, wen liebte und wen hasste er? In dieser Hinsicht ist das vorliegende Buch gelungen. Aber diese Biographie eines Philosophen kommt fast gänzlich ohne Philosophie aus, vor allem ohne eine Aktualisierung, ohne irgendeine uns bewegende Frage. Zwar werden im Vorwort kursorisch und in aller Eile einige Fragen formuliert, so auch die oft und zumal heute immer häufiger gestellte Frage nach der Besonderheit und den Folgen des mit Descartes auf den Weg gekommenen Programms der methodisch-wissenschaftlichen Naturbeherrschung: Schließlich hat sie den Europäer zum "Herrn und Eigentümer der Natur" gemacht . Aber Schultz geht den Folgen dieser Philosophie ebenso wenig nach wie ihren Ursprüngen. Er verortet nur kurz und bündig das Descartes'sche Denken im Kontext der Tradition. Dabei erweist er sich als Benutzer von kurzgefassten Philosophiegeschichten und zugleich als unsicherer Stilist:

    Denken löste sich aus der unabsehbaren Vielfalt der Substanzen, wie sie die mittelalterliche Philosophie in der Nachfolge des Aristoteles entwickelt hatte. Er reduzierte sie auf die zwei letzten Substanzen - das Denken (res cogitans) und die Materie (res extensa) - und setzte das Denken des Menschen absolut.

    Was meint hier Substanz? Was bedeutet absolut? Die weitere Lektüre des Buches bestätigt den ersten Eindruck: Wir lesen die Biographie eines Philosophen, aber nicht eine Geschichte seines Denkens. Schultz entfaltet nicht die Vielfalt der Denkansätze, die eine Überwindung des biblisch-scholastischen Denkens des Mittelalters seit der Renaissance anstreben und im 17. Jahrhundert in ganz Europa ausgedehnte und erregte Debatten auslösen, die schließlich zu den Anfängen des modernen Wissenschaftsbetriebs, staatlich organisierten Formen einer kontinuierlichen Produktion von Wissen in königlichen Gesellschaften, nationalen Akademien der Wissenschaften und ähnlichem führen. Einzig die umstürzenden Folgen der kopernikanischen Weltsicht und naturwissenschaftliche Kostproben des Schriftstellers Descartes finden bei Schultz eine aber auch nur dokumentarische, nicht problematisierende Beachtung. Denn gab es nicht auch andere Reaktionen auf das mit Kopernikus einsetzende Gefühl der Verlorenheit des Menschen im Unendlichen, etwa Giordano Brunos Makro- und Mikrokosmosspekulationen oder seinen Zeitgenossen Pascal, der zur Bewältigung dieses Gefühls Gründe des "Herzens" und nicht nur des "Verstandes" geltend machte? Und wie sind die cartesianischen Philosophien nach Descartes zu beurteilen?

    Während Schultz den Leser ausführlich mit im übrigen amüsant geschriebenen Ereignissen aus der Zeitgeschichte und Anekdoten aus Fürstenhäusern, Kirchen- und Gelehrtenkreisen unterhält, versäumt er nicht nur, den geistigen, kulturellen Kontext der Zeit zu entfalten. Selbst bei einer Biographie des Descartes'schen Denkens, die unmittelbar auf der Ebene des Lebenslaufs ansetzt, lässt er uns im Stich. Zwei Beispiele: Der junge Descartes wird in seiner Schule, der berühmten, von Heinrich IV. gegründeten Jesuitenschule La Flèche, Zeuge der Überführung und Aufbahrung des Herzens des ermordeten Königs, jenes Königs, der Staat und Gesellschaft auf den Geist der Vernunft und nicht des religiösen Bekenntnisses gründen wollte. Mit dieser Einstellung hat Heinrich IV. viele seiner Zeitgenossen beeindruckt, so auch Descartes. Mit seiner Philosophie hat er genau diese Einstellung vertieft. Hier zeigt sich ein Zusammenhang von Lebenslauf und der Entwicklung des Denkens seines Helden, den Schultz nicht aufgreift. Auch fragt sich der Biograph nicht, warum der Philosoph die Absicht hatte, in den Militärdienst einzutreten und umfangreiche Reisen zu Kriegsschauplätzen unternahm. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich unmittelbar Descartes' "Discours de la Méthode" entnehmen:

    Es geht wie in einer Schlacht zu, wenn man sich die Aufgabe stellt, alle Schwierigkeiten und Irrtümer, die uns daran hindern, die Wahrheit zu erkennen, zu besiegen ...

    Es ist strategisches Denken, das den Philosophen faszinierte. Mit ihm kann der denkende Mensch, der klassische Bildungsbürger, als dessen Prototyp Descartes nicht nur im französischen Bildungs- und Erziehungssystem Jahrhunderte lang gefeiert wurde, ebenso wie der heutige Wissenschaftler Siege erringen wie ein Feldherr. Der Name dieses Denkens ist - Methode.

    Methode: der sich auf Logik und Messbarkeit gründende Weg des Denkens zu zweifelsfreien und dennoch nie unbezweifelbaren, abschlusshaft gegebenen Wahrheiten, der Weg der freien, vorurteilslosen Forschung anstelle des Denkens auf ein Ziel hin, etwa die Bestimmung des Menschen und das Wesen Gottes, das analytische Denken anstelle des synthetischen - Methode ist das Stichwort, die umstürzend neue Formel, mit der die Philosophie zu dem wurde, was sie bis heute ist: Wissenschaftstheorie. Diesen radikalen Perspektivenwechsel, den die Philosophie mit Descartes vollzog und mit dem der völlig neuartige, Europa von der Verwandtschaft mit allen anderen Hochkulturen der Erde abspaltende und aus seiner eigenen Vergangenheit lösende Weg der systematischen Beherrschung der Natur durch Wissenschaft und Technik begann, entwickelt Schultz weder aus dem kulturellen Kontext der Epoche noch aus der Bildungsgeschichte des Philosophen selbst. Nur mit summarischen und plakativen Würdigungen versucht er diesem bahnbrechenden Denken gerecht zu werden.

    Descartes vollzieht die Entmachtung des mittelalterlichen Gottes in seiner Allmacht und die Inthronisation des denkenden Menschen als erster und letzter Instanz allen Seins an seiner Statt ...

    Dennoch war Descartes Zeit seines Lebens ein gläubiger Mensch. Einer der Widersprüche in diesem exemplarischen Philosophenleben, für die Schultz keine Erklärung anbietet. Eine Methode ist bei dieser Biographie über den Entdecker des methodischen Denkens leider nicht zu entdecken.

    Bernd Leineweber besprach "Descartes; Biographie" von Uwe Schultz. Das 378 Seiten starke Buch ist bei eva, der Europäischen Verlagsanstalt, erschienen und kostet 54 Mark.