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Uwe Wesel: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen.

Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen – lautet der Titel des Buches von Uwe Wesel. Der Autor, der als Vizepräsident der Freien Universität Berlin die Studentenrevolte hautnah miterlebte, schildert das hektische Geschehen jener Jahre, den Verlauf, die Motive, die berechtigten Anliegen und deren Torheiten genauso wie ihre Erfolge und Misserfolge. Schließlich analysiert der Jurist Wesel, welche Auswirkungen die damaligen Unruhen auf die deutsche Politik bis heute hat. Mit dem Autor sprach Rainer Burchardt.

Rainer Burchardt |
    Burchardt: Herr Wesel, Ihr Buch heißt "Die verspielte Revolution" - ich denke mal, ein Titel nicht ohne Hintersinn, denn die verspielte Revolution kann einerseits bedeuten, man hat das Ganze spielerisch gesehen; auf der anderen Seite kann man auch sagen, man hat da einiges aufs Spiel gesetzt, und man hat verspielt. Welche Interpretation haben Sie im Hinterkopf gehabt, und welche würden Sie für zutreffend halten?

    Wesel: Beide sind zutreffend. Sie hatten ja hier in Berlin den Spruch erfunden: Revolution muss Spaß machen. Und auf der anderen Seite haben sie viel verspielt. Sie haben zum Teil ihre ganze Karriere, ihre Zukunft verspielt. Sie haben viel Zeit verspielt: zehn Jahre K-Gruppe, Maoisten - das ist ja nicht einfach nur so wenig - oder sogar viele auch das Leben. Denn die Rote-Armee-Fraktion, von denen viele gestorben sind, getötet worden sind, die andere getötet haben und auch selber dabei draufgegangen sind, die haben ihr ganzes Leben verspielt. Also, es gehört alles zusammen.

    Burchardt: Gerade bei diesem Stichwort RAF will ich gerne mal eine These aufgreifen, die noch nicht mal in die Zeit reicht - also: ´76, ´77, ´78 -, sondern fast zehn Jahre davor. Schon damals, so sagten Sie - im Umfeld 1967, 2. Juni, die Ermordung von Benno Ohnesorg -, der Staat habe überreagiert auf eigentlich eher doch lustige, spielerische Aktionen aus der Studentenschaft. Ist das nicht ein bisschen leichtfertig interpretiert?

    Wesel: Nein. Das glaube ich nicht. Selbst der Regierende Bürgermeister Albertz hat später dasselbe gesagt. Er war ja verantwortlich. Auch der damalige Innensenator Büsch hat das später selbst gesagt: Wir haben viel zu hart reagiert vor der Oper. Und wenn Sie bedenken, dass sozusagen eine Nebenterrororganisation neben der RAF, der 2. Juni, sich so genannt hat: "2. Juni", dann wollten sie damit auf die Erschießung von Benno Ohnesorg aufmerksam machen, der von einem Berliner Polizisten am 2. Juni 1967 vor der Berliner Oper bei einer Demonstration gegen den Schah erschossen worden ist. Das heißt auf deutsch gesagt: Ihr habt zuerst angefangen zu schießen. Ich könnte ihnen viele Beispiele aus der Universität und aus vielen anderen Bereichen nennen. Nehmen sie nur die Berufsverbote von 1972, die Willy Brandt dann selber zehn, fünfzehn Jahre später als Fehler bezeichnet hat. Die Studentenbewegung ist eigentlich auch dadurch groß geworden, dass der Staat oft, sehr oft und auch die Gerichte überreagiert haben.

    Burchardt: Hätte denn ohne die Erschießung von Benno Ohnesorg nach Ihrer Meinung die Entwicklung der Außerparlamentarischen Opposition anders verlaufen können oder, um es noch mehr zuzuspitzen, wäre sie nicht zwangsläufig in der RAF geendet?

    Wesel: Ach, das kann man rückblickend immer so schlecht sagen. Es steht aber fest, dass mit der Erschießung von Ohnesorg das, was bisher nur ein Berliner Lokalereignis war, dass das dann auf die Universitäten in der Bundesrepublik übergesprungen ist. Das war der Zeitpunkt. Das war die Empörung. Das hat dann auch die Studenten an den Universitäten in der Bundesrepublik auf die Straße getrieben. Diese Empörung hat eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Wie es ohne den 2. Juni ausgegangen wäre, weiß ich nicht genau. Möglicherweise wäre es dann Ostern ´68 gewesen, die Schüsse dieses Herrn Bachmann aus München auf Rudi Dutschke, das Attentat auf Rudi Dutschke würde wohl dieselbe Wirkung gehabt haben. Und ich nehme an, der Herr Bachmann, der ja, das hat er dann später selber gesagt, von der Bild-Zeitung, ja, motiviert worden ist, der würde wahrscheinlich auch ohne den 2. Juni auf Rudi Dutschke geschossen haben, und vielleicht wäre es dann passiert. Aber das sind so Fragen, die man nicht genau beantworten kann.

    Burchardt: Herr Wesel, Sie sind ja damals, wie Sie selber schreiben, aus dem beschaulichen München mitten in den Berliner Trubel hineingeraten, und Sie waren, als es wirklich hart zur Sache ging, Vizepräsident der Freien Universität. Andererseits haben Sie zur gleichen Zeit auch in einer Wohngemeinschaft gelebt. Sie galten auch ein wenig als, ja, als eine linke Galionsfigur. Wie sind Sie eigentlich selber mit diesem inneren Zwiespalt zurechtgekommen? Es ging ja damals im wesentlichen durch die APO auch gegen die Ordinarien-Universität.

    Wesel: Ich bin damit fröhlich zurechtgekommen...

    Burchardt: Das merkt man dem Buche an.

    Wesel: .. Ich ging meines Weges fröhlich. Ich habe Studenten nie als meine Feinde angesehen - wie viele meiner Kollegen -, sondern ich war das aus München gewohnt, mit ihnen normal als Lehrer umzugehen, als Hochschullehrer. Ich habe diese fürchterliche Aufgeregtheit, diese sterile Aufgeregtheit meiner Kollegen nie verstanden, die da praktisch den Untergang des Abendlandes sahen. Ich sah eine gewisse Chance zur Veränderung einer verkrusteten Ordinarien-Universität. Ich habe das eher ruhig gesehen. Ich wusste, dass das alles illusorisch war, diese Revolution, an die sie wirklich geglaubt haben. Aber es war ja auch ein ungeheures ästhetisches Vergnügen, das zu sehen: dieser Optimismus damals, dieser Witz bei den Studenten. Ich fand das okay. Und ich bin dann auch mit Ihnen in Konflikt gekommen, musste auch die Polizei holen und musste dafür sorgen, dass die Universität am Laufen blieb, und, unter uns gesagt, ich habe ja nicht nur dafür gesorgt, dass die Freie Universität am Laufen geblieben ist, sondern - die ganzen scharfen Gurken aus der Bundesrepublik kamen ja hier nach Berlin - ich habe, auf deutsch gesagt, mehr oder weniger als Vize-Präsident der FU die ganze Bundesrepublik mitbefriedet und den Kollegen an allen anderen Universitäten das Leben erleichtert und ihre Arbeit erleichtert. Ich habe dafür sorgen müssen, Krisenmanagement, dass das Ding weiterlief, und dafür habe ich auch gesorgt. Darauf bin ich dann heute auch noch ein bisschen stolz, dass das gelungen ist. Man hat uns ja damals immer vorgeworfen, wir würden die Universität kaputtmachen. Da kann ich nur lachen. Wenn ich sehe, wie die Universitäten, nicht nur die FU hier in Berlin, wie sehr die leiden unter der Entziehung von finanziellen Mitteln, dann wird heute die Universität wirklich kaputtgemacht. Wir haben dafür gesorgt, dass sie weiterläuft.

    Burchardt: Sie sagen "wir". Haben Sie eine Vermittlerrolle gespielt? Wie haben Sie sich selber da gefühlt. Man vermisst diese klare Positionierung in Ihrem Buch ein wenig, zumal dieses Buch ja auch, aus dem gegebenen Abstand natürlich, ja, ich will mal sagen, etwas doch von Ironie bis hin zur Selbstironie, ja auch von Altersmilde gekennzeichnet ist. Also, es fehlt hier so ein bisschen die klare Positionierung...

    Wesel: Ich werde zwar jetzt im nächsten Jahr 70, aber so komisch war ich damals auch schon. Ich habe das damals schon eher komisch gesehen. "Wir", das waren diejenigen, die die Hochschulreform getragen haben, also nicht nur der Präsident und ich, sondern wir waren ein Team im Präsidialamt mit wunderbaren Leuten. Und es waren die Assistenten und Studenten und auch einige wenige Kollegen, wie z. B. der alte "Golli", der Gollwitzer, der Theologe, die mitgeholfen haben. Wir sind letztlich gescheitert. Aber wir haben die Universität über die Runden gebracht.

    Burchardt: War das Scheitern nicht auch ein wenig in der RAF begründet, dass alles plötzlich in Gewalt endete und sich viele natürlich auch, gerade aus der Studentenbewegung heraus, distanzierten - notwendigerweise?

    Wesel: Naja, Herr Burchardt, das hatte zwei Gründe. Es hat in der Tat einmal den Grund gehabt, dass die Studenten auch überreagiert haben. Die sind immer radikaler geworden, haben zum Teil Kollegen angegriffen in den Vorlesungen. Sie sind persönlich gegen sie vorgegangen - nicht sehr gewalttätig, aber schon sehr unangenehm und quälend, besonders für die älteren. Das war einmal die Seite der Studenten. Auf der anderen sind meine Kollegen ja auch radikal geworden, haben sich organisiert in einer sogenannten "Notgemeinschaft für die Freie Universität", NoFU genannt. Und die waren auch nicht schlecht und haben viel Propaganda gemacht. Und zwischen diesen beiden Mühlsteinen sind wir dann zerrieben worden.

    Burchardt: Zum Schluss Ihres Buches heißt es: Noch ist nichts entschieden. Sie zitieren da Wolfgang Lefèvre, und Sie sagen auch, so wird es noch lange bleiben. Aus der heutigen Sicht gesehen - glauben Sie, dass tatsächlich der heutige Gesellschaftszustand im wesentlichen geprägt worden ist von der ´68er-Generation?

    Wesel: Ich glaube schon, dass die Bundesrepublik einen ungeheuren Modernisierungsschub dadurch erfahren hat, und dass sie heute anders aussehen würde als ohne die APO oder die Studentenrevolte. Da ist vieles verändert worden. Das ganze Lebensgefühl - auch im öffentlichen Leben - hat sich verändert. Das sind nicht nur Schröder und Joschka Fischer. Nehmen sie z. B. nur deren Opposition jetzt gegen den Irak-Krieg. Das ist ganz klar die Erfahrung von damals - Vietnam. Das steckt dahinter. Ich weiß das selbst. Ich habe mal mit unserem Bundeskanzler darüber gesprochen, und zwar weit vor dem Wahlkampf habe ich ihn gefragt, na, was er denn von dem Irak-Krieg hält nach dem 11. September. Da hat er sofort gesagt: Wäre für mich ein Abenteuer. Das hat die geprägt. Und das prägt unser ganzes Leben noch heute. Das Leben ist legerer geworden und, wie ich meine, liberaler und besser.

    Burchardt: Das heißt: Nicht ganz verspielt - diese Revolution oder, wie Sie eher sagen 'Revolte’?

    Wesel: Es war eher eine Revolte. Revolutionen gelingen meistens. Revolten sind misslungene Revolutionen.

    Burchardt: Vielen Dank, Herr Wesel.