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Vagabundierende Eigenschaften

Ein Rücken glitzert wie ein Silberlöffel, Lametta glänzt wie Hühnergedärme - "vagabundierende Eigenschaften", wie sie die Schriftstellerin selbst nennt, machen den Kern der Poetik von Herta Müller aus. Das zeigen auch die gesammelten Essay in diesem Band.

Von Martin Krumbholz | 27.04.2011
    Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Das ist ein typischer Herta-Müller-Satz, könnte man sagen, eine zunächst kryptisch klingende Behauptung, die sich erst durch einen existenziellen Hintergrund erschließt; der Satz stammt aber von Herta Müllers Mutter. Er reflektiert die Erfahrung von Hunger und Not im sowjetischen Arbeitslager in den Jahren nach 1945; diese Erfahrung ist, wie man weiß, in den Roman "Atemschaukel" eingegangen.

    "Schreiben ist zuerst ein Gespräch mit den realen Gegenständen des Lebens", notiert die Autorin. Dieses Gespräch hat, ohne Schriftstellerin zu sein, bereits die Mutter geführt. Herta Müller hat es systematisiert. Sie spricht von "vagabundierenden Eigenschaften", die einen Gegenstand kraft der Fantasie in einen anderen verwandeln. Zum Beispiel glitzert der Rücken der besten Freundin, von der Müller sich vor der Auswanderung aus Rumänien 1987 verabschiedet hat, wie ein "Silberlöffel"; das Bimmeln der Totenglocke lässt eine "Friedhofsschlange" imaginieren, die mit ihrer Zunge die Leute ins Grab lockt; das Lametta auf dem Weihnachtsbaum erinnert gar an die glänzenden Gedärme von Hühnern.

    Diese vagabundierenden Eigenschaften, die in allen Texten von Herta Müller vielfach vorkommen, machen den Kern ihrer Poetik aus. Da die Eigenschaften nicht an den Gegenständen kleben, sondern in einem Schwung oder mit einem Ruck der Fantasie auf andere, gar nicht verwandte Gegenstände übergehen können, entgrenzen sie die Wahrnehmung und schärfen im gelungenen Fall den Blick für verschleierte Zusammenhänge.
    Dies soll nun kein Plädoyer sein für die Bereitschaft, in jedem Weihnachtsschmuck die Eingeweide von Hühnern zu erblicken; Herta Müller fällt sich an dieser Stelle auch selbst ins Wort und nennt ihren Vergleich forsch und rücksichtslos.

    In der Tat ist der Schritt zur Idiosynkrasie oft kurz. Es wird eben die ganze Welt auf einen einzigen Blickwinkel verkürzt, und das hat natürlich mit der Sensibilisierung und der Traumatisierung durch die Diktatur zu tun.

    Einmal, im April 2005, berichtet die Autorin, sie habe im Fernsehen die vom Ortsschreiner gezimmerte "Auswanderungskiste" wiedergesehen, also die Kiste, in die 1987 die mitzunehmenden Habseligkeiten gepackt werden mussten: Die Kiste im Fernsehen ist der schlichte Sarg des Papstes. Dabei hat das eine, wie Müller selbst sagt, "rein gar nichts" mit dem anderen zu tun. "Da fiel mir die ganze Auswanderung wieder ein", schreibt sie. Hätte es dessen denn bedurft? Wohl kaum, aber das ist nicht der Punkt. Das Assoziationsgewebe dient immer wieder dem gleichen Ziel: die Erinnerung an den Terror nicht erlahmen zu lassen, aus der Erinnerung Sätze zu schöpfen und den Satz vor der Realität sich behaupten zu lassen als "eigene Realität". Selbst der "gültigste Vergleich", schreibt Müller, raube sich "Eigenschaften, die ihm nicht zustehen".

    Die Selbstreflexion schützt die große Moralistin Herta Müller davor, in falsches Pathos abzusinken - oder in Kitsch. Wenn sie den Kitsch verteidigt - als "Pathos in fertiger, fester Form" - und die Vor- und Nachteile des Kitsches voneinander abgrenzt, je nachdem, auf welcher Seite er vorkommt - dann könnte man einwenden, Kitsch bleibe nun einmal Kitsch, als eine Spielart geistiger oder emotionaler Unterforderung. Aber diese Kitschverteidigung kann sich vielleicht jemand erlauben, der selbst über jeden Kitschverdacht erhaben ist und eher mit einer gewissen Saloppheit dem Vagabundieren der Eigenschaften Vorschub leistet.

    Herta Müller ist wiederholt in ihrem Leben zwischen die Fronten geraten, auch davon erzählt sie in ihren Reden und Aufsätzen. Die Securitate hielt die Banater Schwäbin für eine Dissidentin, umgekehrt hielten ihre deutschen Landsleute sie für eine Kommunistin. Bei der Einwanderung nach Westdeutschland unterstellte der Bundesnachrichtendienst, wohl routinemäßig, die Einwanderin könne ein Spitzel sein. Oft hielten die Linken sie für rechts und die Rechten für links. Auch diese Ambivalenz stärkt womöglich die Anziehungskraft der vagabundierenden Eigenschaften.

    Als Herta Müllers Freund Oskar Pastior nach seinem Tod als IM enttarnt wird, schreibt sie den Text "Aber immer geschwiegen" - es ist der einzige bisher unveröffentlichte des Bandes. Wie viele andere hat Pastior seine Verstrickung verschwiegen. Müller schreibt von ihrem Erschrecken und auch von der Schuld; sie beschönigt nichts, aber sie wirft auch keine Steine. Sie hält fest: "Er ist der skrupulöseste Mensch, den ich kenne. Er war zu skrupulös, um zu sagen, seine Schuld sei erzwungen. Das erklärt vielleicht auch sein Schweigen."

    Herta Müller: "Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel". Carl Hanser Verlag, München, 250 Seiten, 19,90 Euro