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Variantenreiche Gene fürs Gedächtnis

Medizin. - Die Gene sind anscheinend an allem schuld: wie wir aussehen oder ob wir große Sportler oder kleine Einsteins werden. Und offensichtlich entscheiden sie auch zu einem Teil darüber, wie gut unser Gedächtnis ist. Das ist zumindest das Ergebnis einer Arbeit von Züricher Wissenschaftlern, die ein Gen für das Gedächtnis entdeckt haben.

Von Sabine Goldhahn |
    Grund, Verlust, Tür, Glück, Funktion... Aufgabe, Nähe, Glas, Ostern, Trauer - Wortfolgen ohne tieferen Sinn. Wie geschaffen für einen Gedächtnis-Test, bei dem sich über 300 Menschen etwas merken sollen. Möglichst die richtigen Worte und obendrein in der richtigen Reihenfolge. Grund, Tür, Glück, Nähe, Ostern? Keine leichte Aufgabe. Dominique de Quervain, Wissenschaftler an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich:

    Es gibt Leute, die haben ein bisschen besseres Gedächtnis als andere, und von Zwillingsstudien weiß man, dass etwa 50 Prozent der Leistungsfähigkeit vererbt ist, das heißt durch endogene Faktoren bestimmt ist.

    Diese genetischen Unterschiede reichen also aus, dass sich einige Menschen mehr, andere weniger merken. Dominique de Quervain, der seit Jahren das Gedächtnis erforscht, hatte bereits bei früheren Untersuchungen deutliche Unterschiede in der Merkfähigkeit seiner Testpersonen festgestellt. Das machte ihn stutzig. Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Papassotiropoulos suchte er nach einer möglichen Ursache - und wurde in den Genen fündig. Beide Forscher haben jetzt ein Gen entdeckt, das in verschiedenen Varianten vorkommt und Auswirkungen auf das Gedächtnis hat. Es enthält den Bauplan für einen Rezeptor, an den Serotonin, einer der wichtigsten Botenstoffe im Gehirn, andockt. Andreas Papassotiropoulos:

    Normalerweise funktioniert dieser Serotonin-Rezeptor 2a so, dass der Wirkstoff Serotonin an diesen Rezeptor an der Zelloberfläche andockt und dieses Serotonin dann durch verschiedene Mechanismen durch diesen Rezeptor seine Funktionen in der Zelle ausübt.

    Bei einer genetischen Variation hat der Serotonin-Rezeptor in einer bestimmten Position anstatt der Aminosäure Histidin die Aminosäure Tyrosin.

    Wenn diese Variation vorhanden ist, die physiologisch ist, also normal auftritt, ist es so, dass die Wirkung des Serotonins auf diesen Rezeptor eine suboptimale ist, das heißt, die Wirkung des Serotonins in der Zelle ist nicht so stark wie bei Menschen, die diese Variation nicht haben.

    Ergebnis: die Merkfähigkeit ist schlechter. Denn der Serotoninrezeptor liegt besonders an jenen Orten im Gehirn, die für das Gedächtnis zuständig sind. Allerdings ist nicht das ganze Gedächtnis betroffen. Dazu De Quervain:

    Interessanterweise hat diese genetische Variation noch überhaupt keinen Effekt auf das Kurzzeitgedächtnis. Das bedeutet auch, dass Faktoren wie Aufmerksamkeit oder Konzentration nicht verändert werden.

    Kritisch wurde es in seinen Untersuchungen erst, als die Testpersonen die Worte nach längerer Zeit wiederholen sollten. Nämlich nach fünf Minuten und nach einem Tag. Dann klafften Gedächtnislücken, in denen bis zu 20 Prozent mehr Worte fehlten. Etwa jeder fünfte Mensch besitzt diese genetische Variante, die mit verminderten Gedächtnisleistungen zusammenhängt. Das ist in der Tat eine beträchtliche Zahl, und sie wirft die Frage auf, ob Gene allein das Gedächtnis großer Bevölkerungsgruppen beeinflussen. Sind wir - was unser Gedächtnis angeht - also unseren Genen ausgeliefert oder gibt es vielleicht doch mehr als nur die genetische Information?

    Letztendlich ist das, was mein Leben ausmacht, die Umwelt, und die Interaktion dieser Umwelt mit meinen Genen, weder das eine allein, noch das andere allein.

    ...sagt Papassotiropoulos mit Nachdruck. Für ihn ist der Kern der Forschung gar nicht so sehr das normale Gedächtnis, sondern vielmehr das krankhaft veränderte.

    Es geht darum, relevante Stoffwechselprozesse zu identifizieren, die mit Krankheiten zu tun haben, wie etwa Krankheiten, die mit dem Gedächtnis assoziiert sind. Was wir gemacht haben: wir gehen einen Schritt zurück. Bisher versucht man diese Stoffwechselprozesse, diese genetischen Studien bei Leuten zu machen, die schon eine Krankheit besitzen. ...

    Das Problem dabei: Jene Patienten, die beispielsweise Alzheimer haben, lassen sich nicht mehr so gut testen. Ihre Gedächtnisleistung ist nämlich schon im Anfangsstadium so eingeschränkt, dass man keine Rückschlüsse mehr auf die Ausgangswerte und die normale Gedächtnisfunktion von früher machen kann. So weiß man auch nicht, was dann genau defekt ist. Krankheiten wie Alzheimer werden Ärzte jedoch erst dann verstehen und wirksam behandeln können, wenn sie alle gestörten Prozesse im Gehirn kennen