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Vater der Perestroika

Michail Gorbatschow hat, als er an die Spitze der KPdSU kam, garantiert im Traum nicht daran gedacht, dass er einmal Reklame für Taschen von Louis Vuitton machen würde. Doch er selbst setzte den Prozess in Gang, in dessen Verlauf das sowjetische Imperium zerbröselte und der real existierende Sozialismus bis auf wenige Reste. 1987 steckte er in seinem Buch "Perestroika, die zweite russische Revolution" sein politisches Programm ab.

Von Sonja Margolina | 09.03.2009
    Mitte der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Sowjetunion fast pleite. Das amerikanische Rüstungsprogramm der Sternenkriege drohte die angeschlagene Supermacht kaputt zu rüsten. Vor diesem Hintergrund hatte der neu gewählte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, seine Revolution von oben, die er Perestroika nannte, vom Zaun gebrochen.

    Am Anfang schlug ihm das Misstrauen seitens des Westens entgegen. Helmut Kohl hatte ihn gar mit Goebbels verglichen. Doch Gorbatschow war es mit seiner Politik der Öffnung ernst. 1987 wurde er vom amerikanischen Verlag Harper and Row gebeten, ein Buch über die Neuorientierung der sowjetischen Politik zu schreiben. Es erschien zeitgleich beim Verlag Droemer Knaur unter dem Titel "Perestroika. Die zweite russische Revolution".
    Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft in der Sowjetunion, die den Sozialismus erneuern und humanisieren sollte.

    "Der Erfolg der Perestroika wird zeigen, dass der Sozialismus nicht nur der historischen Aufgabe gewachsen ist, sich an die Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu setzen. Der Sozialismus wird mit Methoden der Demokratie ein Höchstmaß an sozialer und moralischer Wirkung für das Volk erreichen."

    "Das neue Denken und die Welt" heißt der zweite Teil des Buches. Hier spricht Gorbatschow die globale Dimension der gegenseitigen Abhängigkeit in der Welt, die wachsenden ökologischen und sozialen Probleme, die Bedrohungen für Sicherheit und Stabilität an.

    "Ich bin davon überzeugt, dass die Menschheit in eine Phase der Entwicklung eingetreten ist, in der wir alle voneinander abhängig sind. Die Weltwirtschaft wird zum einheitlichen Organismus, jenseits dessen sich kein Staat normal entwickeln kann, egal, zu welchem politischen System er gehört und auf welchem Entwicklungsniveau er sich befindet."

    Das vor über 20 Jahren erschienene politische Traktat bietet heutzutage keine leichte Lektüre. Das hat nicht nur mit dem Apparatschik-Jargon zu tun, den Gorbatschow nie losgeworden ist. Es ist eher die Blindheit des Reformers gegenüber den Folgen des eigenen Tuns, die einem den Atem stocken lässt. Man sieht Gorbatschow die Flucht nach vorne ergreifen, um zu einem Helden des Rückzugs wider Willen zu werden. Denn er beschwört das Lenin'sche Erbe und den Sozialismus gerade in einem Augenblick, als das sozialistische System sich aufzulösen beginnt. Er träumt von der Modernisierung, während die einstige Sowjetunion nur wenige Jahre später von brutaler Deindustrialisierung heimgesucht wird.

    Allerdings entpuppt sich Gorbatschow als Totengräber des alten Systems und Visionär in einem. Vom Gefühl unausweichlicher Veränderungen, von der Schicksalhaftigkeit des Augenblicks beflügelt, schlägt er eine radikale Abrüstung vor, einen Verzicht auf Gewalt zur Lösung von Konflikten, ein gemeinsames europäisches Haus.

    Wer sein Buch heute ohne Vorurteile, aber im Wissen um die sich mehrenden globalen Herausforderungen liest, kann seinen Appell an die Welt - diesen Schrei in der Wüste egoistischer Machtinteressen und neoliberaler Trunkenheit - mit einer Mischung aus Empathie und Entrüstung würdigen. Denn auch 20 Jahren danach finden sich keine konstruktiven Antworten auf die globalen Bedrohungen. Anstelle kollektiver Handlungen sind nationaler Egoismus und Protektionismus mehr denn je am Werk. Anstatt neue effektive Strukturen zu schaffen, werden dysfunktionale westliche Institutionen aus der Zeit des Kalten Kriegs - wie etwa die NATO - reflexartig erweitert. Ein untaugliches Vorgehen, wie Gorbatschow schon in "Perestroika" befand:

    "Es wäre naiv zu glauben, dass die Probleme, die die heutige Menschheit heimsuchen, mit den Mitteln zu lösen sind, die früher angewandt wurden oder geeignet schienen."

    Auf Idealismus und zugleich Naivität, die einem heute aus dem Buch Gorbatschows entgegenschlagen, hat der Westen mit dem Triumphalismus eines ultimativen Siegers reagiert. Die Antwort auf seine Vision war Fukuyamas "Ende der Geschichte" und in der Außenpolitik jene Selbstüberschätzung und Selbstermächtigung, die die Katastrophe der Bush-Ära herbeiführte und nun in der Weltwirtschaftskrise ihren Höhe- oder Tiefpunkt erreichte.

    Der glorreiche Westen ist im Begriff, seinen Sieg zu verspielen.

    Sonja Margolina über Michail Gorbatschow: Perestroika - Die zweite russische Revolution. Das Buch ist 1987 bei Droemer Knaur in München erschienen und heute nur noch antiquarisch zu erhalten.