"Was man generell hört ist, dass man vom Tod der Familie oder vom Ende der bürgerlichen Kernfamilie spricht oder dass man die Zerfallserscheinungen beklagt. Das ist jetzt kein Phänomen, das man erst in der Bundesrepublik findet, sondern bereits in der Hochmoderne ist das immer wieder aufgetaucht. Und dann ist die Frage, wie geht man damit um, was hat die Gesellschaft damit gemacht, wie ist das Wechselspiel zwischen den Wertvorstellungen, den Institutionen und der sozialen Praxis."
Christopher Neumaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und er spricht diese großen Fragen relativ gelassen aus: Wodurch verändern sich gesellschaftliche Wertnormen, wie haben sie sich im letzten Jahrhundert verändert und was machen Wertnormen, wenn sie sich verändern, mit der Gesellschaft und deren kleinster wertegebundenen Einheit, der Familie?
Fragen sind das, für deren Beantwortung die Deutsche Forschungsgemeinschaft immerhin mehr als 190.000 Euro bereitgestellt hat. Mit dem Geld finanziert die DFG das Forschungsprojekt von Christopher Neumaiers Chef, dem Mainzer Professor für Neueste Geschichte, Andreas Rödder. Der hat vor einiger Zeit ein Buch über die Bundesrepublik in den Siebziger und Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben und dabei festgestellt, dass es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Werten und Wertewandel in der Gesellschaft so etwas wie einen weißen Fleck gibt, eine akademische Terra Incognita - die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1960er Jahren, als die Soziologie plötzlich und unerwartet einen tiefgreifenden Wertewandel in der modernen, westlichen Gesellschaft festzustellen glaubte. Nur: Woher kam er, dieser Wertewandel, der sich in den Statistiken der Sozialforscher so unzweifelhaft abbildete? Gute Frage, findet Andreas Rödder.
"Die Sozialwissenschaftler sprechen von dem großen Einschnitt seit den Sechziger Jahren, können aber, weil sie mit Umfragedaten arbeiten und immer nur auf die eigene Gegenwart schauen - das ist ja auch deren Erkenntnisinteresse - können deshalb keine wirklich validen Aussagen machen zu der Zeit, bevor sie diese Umfragen - das heißt: seit den Sechziger Jahren - haben erheben können. Das heißt die Sozialwissenschaftler sprechen von dem säkularen Wertewandel, können aber nicht wirklich die diachrone Dimension abdecken. Die Historiker haben erkannt, dass dieser Wertewandel ein wichtiges Phänomen ist, aber sie haben ihrerseits diesen Wertewandel nie in einer historisch-diachronen Perspektive untersucht. Am ehesten haben das die Forscher zum Bürgertum gemacht, die die bürgerlichen Werte im 19. Jahrhundert untersucht haben, aber diese Forschungen enden weitestgehend mit dem Ersten Weltkrieg. Und nun kommt obendrein dazu, dass das, was die Sozialwissenschaftler als Gegenstandsbereich des Wertewandels identifizieren, in hohem Maße übereinstimmt mit dem, was bürgerliche Werte des 19. Jahrhunderts sind, aber es klafft die große Lücke zwischen dem Ersten Weltkrieg und der dann einsetzenden sozialwissenschaftlichen Forschung seit den Sechziger Jahren. Und die Frage also, ob es sich wirklich um einen so großen Bruch handelt, die Frage auch, wie sich in langfristiger Perspektive und warum sich Werte wandeln, das ist die Frage des Projekts."
War also das, was vom biederen Nachkriegsdeutschland zu den wilden Siebzigeren, zu den gutmenschelnden Achtzigern, den hedonistischen Neunzigern und dem scheinbar alles und jeden tolerierenden Anfang des 21. Jahrhunderts führte - war das alles Ergebnis einer gesellschaftstektonische Eruption irgendwann in den Sechziger Jahren? Oder war es in Wirklichkeit ein mählicher Prozess, in dessen Verlauf das deutsche Bürgertum seine tradierten Werte an neuere Erkenntnisse über die Welt, das Dasein und Mann und Frau anpasste? Christopher Neumaier über die gesellschaftlich anerkannten und von der Gesetzgebung in Paragrafen gemeißelten Familienwerte der jungen Bundesrepublik.
"Als die Bundesrepublik gegründet wurde, ist die patriarchalische Struktur hochgehalten worden im Diskurs und auch von politischen Entscheidungsträgern. Daher gab es eine Verfestigung zunächst dieser patriarchalischen Familienstruktur. Und von einem anderen Wissenschaftler, Till van Rahden, ist dann untersucht worden, wie sich die väterliche Autorität in den Fünfziger Jahren verändert hat und wie das im Urteil des Bundesgerichtshofes im Jahr 1959 im Prinzip wieder aufgebrochen worden ist. Und genau hier möchten wir ansetzen. Wir greifen auf die Untersuchungsergebnisse Till van Rahdens zurück und untersuchen, wie sich väterliche Autorität verändert hat und was man dann im Rückschluss über die Werteveränderungen in den Fünfziger Jahren genauer feststellen kann."
Festzustellen ist zunächst, dass einer der unumstößlichen Werte in den Fünfziger Jahren noch lautete: Männer und Frauen sind nicht gleich. Das stand damals sogar im Gesetz, Paragraf 1360 BGB. Da stand, dass "die Ehefrau ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushaltes" erfülle, "der Ehemann [dagegen] durch Erwerbstätigkeit". Die Hausfrauenehe als gesetzliche Norm. Weiter hinten im Bürgerlichen Gesetzbuch, in den Paragrafen 1628 und 1629 stand sogar, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort gegenüber der Mutter habe und dass allein der Vater gesetzlicher Vertreter eines minderjährigen Kindes sei.
Es brauchte schon das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. Juli 1959 um wenigstens klarzustellen, dass der sogenannte "väterliche Stichentscheid" in Erziehungsfragen nach Paragraf 1628 unrecht sei, denn die Beziehungen beider Elternteile zum Kinde seien "dem Wesen nach gleich". Das war so etwas wie ein Wertewandel durch Gerichtsbeschluss.
Der eben von Christian Neumaier erwähnte Geschichtsforscher Till van Rahden hat in einem ziemlich lesenswerten Aufsatz die Reaktion der damals noch einflussreichen Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" auf diesen ersten richterlichen Schritt zur Gleichstellung von Mann und Frau beschrieben.
Der "Rheinische Merkur" schäumte: Statt die Familie als "Keimzelle aller irdischen Gemeinschaft" zu schützen, hätten sich die Richter einer Argumentation bedient, die den Geist "verstaubter Geltungskämpfe aus der Ära der Suffragetten" atme. Und weiter:
"Dank dieser Prinzipientreue stehen wir nun vor einem Einbruch der ungeeignetsten Instanz, nämlich des Staates, in jenen Bereich, dessen innere Ordnung und Gesundheit erst den guten Staat als Verband möglichst vieler guter Familien ausmacht. Man kann sich leicht vorstellen, wie vergnügt man sich in der Sowjetzone die Hände über diese formaldemokratische Einebnung der Familie reiben wird. Um den Schaden zu begrenzen, sollte der Bundestag noch einmal die Frage aufgreifen, wie der Staat Ehe und Familie in ihrer vorhandenen Kulturüberlieferung schützen kann."
Das waren noch Zeiten. Zeiten, in denen die Gleichheit von Frau und Mann in der Kindererziehung als Angriff auf die Werte der bürgerlichen Familie verstanden wurde. Andreas Rödder:
"Gerade was die Fünfziger Jahre angeht, muss man natürlich berücksichtigen: Es ist das Jahrzehnt nach dem Krieg. Also es ist das Jahrzehnt einer Gesellschaft, die nach nichts mehr sich sehnte als nach einer gewissen Ruhe und Stabilisierung, eine Gesellschaft die über dreißig Jahre Krieg, Zusammenbrüche, Mangel, Katastrophen erlebt hatte. Dass diese Gesellschaft in den Fünfziger Jahren sich zunächst einmal nach Ruhe und Ordnung sehnte, das heißt auch eine heile Welt der Familie sich konstruierte in einer Umgebung, in einem historischen Zusammenhang, wo die Familien so heil gar nicht waren durch den Krieg eben, das erklärt, glaube ich, auch Vieles im Hinblick auf die Fünfziger Jahre, die uns aus einer rückschauenden Perspektive dann oftmals so ruhig, so quietistisch, so bleiern und muffig erscheinen. Schaut man aber einmal genauer hin, dann gibt es kaum eine Zeit, in der Familien so fragmentiert waren wie in dieser Zeit, kriegsbedingt, durch den Ausfall einer ganzen Generation von Soldaten, todesbedingt, Versehrte, Kriegerwitwen und so weiter. Familien waren selten so auseinandergerissen wie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, für die wir von der Hochphase der bürgerlichen Familie sprechen."
Die bürgerliche Familie, wie der Mensch sie seit 130 oder ein paar mehr Jahren kennt, ist traditionell ein Konstrukt aus Mutter, Vater, Nachwuchs - und Gefühl. Nicht unbedingt dem Gefühl überbordender Liebe zwischen den Eheleuten, aber dem Gefühl der Übereinstimmung in grundsätzlichen Wertnormen und der Sicherheit vor den Unbilden des Lebens draußen, der Arbeitswelt.
"Die moderne, bürgerliche Familie ist von vornherein so etwas wie ein Gegenentwurf gewesen zur Moderne im Bereich der Wirtschaftswelt, im Bereich der Arbeitswelt. Während im Bereich der modernen Arbeitswelt der Bürger, der männliche Bürger, der seinen Geschäften nachgeht, beruflich flexibel und mobil sein musste, ganz rational handeln musste - die Marktbeziehungen hat ja Max Weber als ein Element der modernen Rationalität ausfindig gemacht - während also im Bereich der Arbeitswelt, der männlich dominierten Arbeitswelt Flexibilität und Rationalität und Mobilität herrschten, ist die Familie dem gegenüber, zumal die bürgerliche Familie, ganz weiblich besetzt, der Ort der Emotionalität gewesen, einer Emotionalität, wie sie in dieser Form so für Familien nie verbindlich gewesen war, der Ort der Emotionalität also und auch der Stabilität gewesen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Familie und Arbeitswelt ist im 19. Jahrhundert angelegt und es ist natürlich ein Spannungsverhältnis, das bis heute trotz Postmoderne, trotz modernster Familienpolitik anhält und auch nicht auflösbar ist. Und diese Spannung zwischen Familie und Arbeitswelt, die ist ein Kontinuum, das sich durch die Moderne hindurchzieht und ebenfalls also von dem, was in den Sechziger Jahren sich an Wandlungsprozessen vollzogen hat, grundsätzlich gar nicht berührt hat,"
glaubt Andreas Rödder. Da sind sie wieder, die Sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die von der Soziologie als gesellschaftliche Zeitenwende, als die Phase der zügigen, wenn nicht abrupten Umwertung aller Werte gesehen werden.
Andreas Rödder und seine Mitarbeiter sind ziemlich überzeugt, dass ihr Forschungsprojekt zum Wertewandel in Familie und Gesellschaft eine neue Sichtweise zur Plötzlichkeit der Veränderungen bringen kann. Andreas Rödders zweiter wissenschaftlicher Projektmitarbeiter Jörg Neuheiser sagt jedenfalls:
"Ich glaube, dass diese, ja, diese markanten Brüche in den Sechziger Jahren eben sich auflösen, wenn man in die historische Perspektive schaut. Dass man dann eben nicht sagen kann, es gibt einen so offensichtlichen, dramatischen Wandel durch ein neues Frauenbild zum Beispiel um 1960, sondern dass man eher von einer Verschiebung sprechen muss in einem Kontinuum von gegensätzlichen Wertvorstellungen, die dann eben in den Sechziger Jahren relevant geworden sind."
Zweifellos relevant ist natürlich auch eine Begriffsklärung: Was sind denn eigentlich die bürgerlichen Werte, deren Veränderung die Mainzer Historiker untersuchen wollen? Andreas Rödder klärt auf:
"Das sind zunächst einmal Arbeitsethos und Leistungsbereitschaft, b.) die Idee der Selbstverantwortung und der Selbständigkeit, c.) Hochkultur und Bildung, es sind d.) der Bereich der Familie und e.) eine religiös grundierte Sozialmoral. Dieses sind die Kategorien, die sich im weiteren Sinne als bürgerliche Werte bezeichnen lassen und die wir im engeren Sinne dann für unser Projekt zur Anwendung bringen."
Ein Kernbegriff, um den der Wertewandel, soweit er bis heute untersucht und diagnostiziert ist, kreist, ist die "Freiheit", also die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen, deren Sinnhaftigkeit im Laufe von hundert Jahren abhanden gekommen ist: Der Job ist nicht mehr unbedingt das Zentrum der Eigendefiniton; Kinder gehen ohne Knicks und Diener zur Begrüßung der Tante als gut erzogen durch; es kann auch ein anständiger Bürger sein, wer nicht regelmäßig zum Gottesdienst geht; die Krawatte ist kein Muss mehr, damit ein Mann korrekt angezogen ist; wenn Frauen Frauen lieben oder Männer Männer, dann ist das eben so und keine Straftat mehr; und in der bürgerlichen Familie der Neuzeit wird die Rollenverteilung in lange Gespräche am Küchentisch ausdiskutiert. Und wenn die Gemeinsamkeiten erschöpft sind, trennt man sich, denn jedermann hat die Freiheit, eine Sozialbeziehung zu kündigen - auch wenn sie "Ehe" heißt. Im Auftrag von Andreas Rödder geht der junge Mainzer Historiker Christopher Neumaier bei der Erforschung des Wertewandels deswegen auch der Frage nach:
"Welche Rolle spielt die bürgerliche Kernfamilie heute noch? Es gibt alleinerziehende Mütter, es gibt alleinerziehende Väter, es gibt Paare, die ohne Trauschein zusammenleben. Und eben diese Pluralität der Familienformen wird ein Hauptaugenmerk sein, dem wir uns zuwenden werden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Also im Prinzip die Ablösung der bürgerlichen Kernfamilie durch eine Pluralität von Familienformen."
Die Freiheit zur Pluralität aller möglichen Lebensformen hat allerdings auch ihre Schattenseiten, findet Andreas Rödder. Schattenseiten im Heute, die sich aus dem historischen Gestern und dem Wertewandel dazwischen ergeben:
"Die größere Wahlfreiheit ist Chance und Zumutung zugleich. Die Zahl derjenigen, die mit ihren Kindern nicht mehr zurecht kommt, ist im Zeichen dieser gewachsenen Freiheit mehr geworden. Auch früher waren die Eltern vielleicht gar nicht kompetentere Eltern als heute, aber es gab einen klareren Rahmen, klarere Vorgaben wie man die Dinge macht. Ob das richtig war oder falsch, aber es gab einem die gewisse Sicherheit, dieses zu tun. Wenn sie nur in eine x-beliebige Bahnhofsbuchhandlung gehen und sich die Erziehungsratgeber anschauen, dann zeugt ja die Latte der Erziehungsratgeber von der ganz großen Ratlosigkeit, die mit der postmodernen Freiheit einhergegangen ist. Ebenso gibt es aber im Zeichen der gewachsenen Freiheitsräume diejenigen, die diese Freiheit umso mehr zu nutzen wissen. Die Politik freilich hängt - und das ist ein ganz parteiübergreifendes Phänomen - nach meinem Dafürhalten ganz stark, zu stark, ihre Ausrichtung am den Problemgruppen auf und will nun im Zeichen von Chancengleichheit, wie ich finde, unter ein neues, konformisierendes Schema die ganze Gesellschaft bringen. Das halte ich wiederum im Vergleich zu der gewachsenen Pluralität für ein problematisches Muster."
Ein Muster, das die Historiker an der Mainzer Universität untersuchen werden. So wie die vielen anderen Muster des Wertewandels und seiner Auswirkungen auch. Drei Jahre haben sie dafür erst einmal Zeit und Geld von der DFG. Am Ende hofft Andreas Rödder, zusammen mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern besser erklären zu können...
"...wie sich Wertewandelsprozesse vollzogen haben, ob es die großen Brüche gibt und wie sich langfristig die Dinge entwickelt haben. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass wir sehr viel genauer hoffen zu erkenne, wie sich eigentlich das Zusammenspiel von Werten, wie sich das Zusammenspiel von alltäglichem sozialen Verhalten auf gesellschaftlicher Ebene und das Zusammenspiel von, drittens, mit sozialen und rechtlichen Strukturen vollzieht. Ändern sich erst die Werte und dann das Verhalten? Oder ändert sich das Verhalten und daraufhin die Werte und daraufhin die rechtlichen Regelungen? Die Dinge spielen zusammen, aber wie dieses genauer funktioniert, das würden wir gerne genauer wissen. Und dann würden wir Prozesse der Wertewandels in der Gegenwart, die uns alle eigentlich immer so überfallen, und von denen wir dann feststellen, dass sie so sind, dann würden wir die sehr viel genauer, wie wir hoffen, einschätzen können."
Christopher Neumaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und er spricht diese großen Fragen relativ gelassen aus: Wodurch verändern sich gesellschaftliche Wertnormen, wie haben sie sich im letzten Jahrhundert verändert und was machen Wertnormen, wenn sie sich verändern, mit der Gesellschaft und deren kleinster wertegebundenen Einheit, der Familie?
Fragen sind das, für deren Beantwortung die Deutsche Forschungsgemeinschaft immerhin mehr als 190.000 Euro bereitgestellt hat. Mit dem Geld finanziert die DFG das Forschungsprojekt von Christopher Neumaiers Chef, dem Mainzer Professor für Neueste Geschichte, Andreas Rödder. Der hat vor einiger Zeit ein Buch über die Bundesrepublik in den Siebziger und Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben und dabei festgestellt, dass es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Werten und Wertewandel in der Gesellschaft so etwas wie einen weißen Fleck gibt, eine akademische Terra Incognita - die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1960er Jahren, als die Soziologie plötzlich und unerwartet einen tiefgreifenden Wertewandel in der modernen, westlichen Gesellschaft festzustellen glaubte. Nur: Woher kam er, dieser Wertewandel, der sich in den Statistiken der Sozialforscher so unzweifelhaft abbildete? Gute Frage, findet Andreas Rödder.
"Die Sozialwissenschaftler sprechen von dem großen Einschnitt seit den Sechziger Jahren, können aber, weil sie mit Umfragedaten arbeiten und immer nur auf die eigene Gegenwart schauen - das ist ja auch deren Erkenntnisinteresse - können deshalb keine wirklich validen Aussagen machen zu der Zeit, bevor sie diese Umfragen - das heißt: seit den Sechziger Jahren - haben erheben können. Das heißt die Sozialwissenschaftler sprechen von dem säkularen Wertewandel, können aber nicht wirklich die diachrone Dimension abdecken. Die Historiker haben erkannt, dass dieser Wertewandel ein wichtiges Phänomen ist, aber sie haben ihrerseits diesen Wertewandel nie in einer historisch-diachronen Perspektive untersucht. Am ehesten haben das die Forscher zum Bürgertum gemacht, die die bürgerlichen Werte im 19. Jahrhundert untersucht haben, aber diese Forschungen enden weitestgehend mit dem Ersten Weltkrieg. Und nun kommt obendrein dazu, dass das, was die Sozialwissenschaftler als Gegenstandsbereich des Wertewandels identifizieren, in hohem Maße übereinstimmt mit dem, was bürgerliche Werte des 19. Jahrhunderts sind, aber es klafft die große Lücke zwischen dem Ersten Weltkrieg und der dann einsetzenden sozialwissenschaftlichen Forschung seit den Sechziger Jahren. Und die Frage also, ob es sich wirklich um einen so großen Bruch handelt, die Frage auch, wie sich in langfristiger Perspektive und warum sich Werte wandeln, das ist die Frage des Projekts."
War also das, was vom biederen Nachkriegsdeutschland zu den wilden Siebzigeren, zu den gutmenschelnden Achtzigern, den hedonistischen Neunzigern und dem scheinbar alles und jeden tolerierenden Anfang des 21. Jahrhunderts führte - war das alles Ergebnis einer gesellschaftstektonische Eruption irgendwann in den Sechziger Jahren? Oder war es in Wirklichkeit ein mählicher Prozess, in dessen Verlauf das deutsche Bürgertum seine tradierten Werte an neuere Erkenntnisse über die Welt, das Dasein und Mann und Frau anpasste? Christopher Neumaier über die gesellschaftlich anerkannten und von der Gesetzgebung in Paragrafen gemeißelten Familienwerte der jungen Bundesrepublik.
"Als die Bundesrepublik gegründet wurde, ist die patriarchalische Struktur hochgehalten worden im Diskurs und auch von politischen Entscheidungsträgern. Daher gab es eine Verfestigung zunächst dieser patriarchalischen Familienstruktur. Und von einem anderen Wissenschaftler, Till van Rahden, ist dann untersucht worden, wie sich die väterliche Autorität in den Fünfziger Jahren verändert hat und wie das im Urteil des Bundesgerichtshofes im Jahr 1959 im Prinzip wieder aufgebrochen worden ist. Und genau hier möchten wir ansetzen. Wir greifen auf die Untersuchungsergebnisse Till van Rahdens zurück und untersuchen, wie sich väterliche Autorität verändert hat und was man dann im Rückschluss über die Werteveränderungen in den Fünfziger Jahren genauer feststellen kann."
Festzustellen ist zunächst, dass einer der unumstößlichen Werte in den Fünfziger Jahren noch lautete: Männer und Frauen sind nicht gleich. Das stand damals sogar im Gesetz, Paragraf 1360 BGB. Da stand, dass "die Ehefrau ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch die Führung des Haushaltes" erfülle, "der Ehemann [dagegen] durch Erwerbstätigkeit". Die Hausfrauenehe als gesetzliche Norm. Weiter hinten im Bürgerlichen Gesetzbuch, in den Paragrafen 1628 und 1629 stand sogar, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort gegenüber der Mutter habe und dass allein der Vater gesetzlicher Vertreter eines minderjährigen Kindes sei.
Es brauchte schon das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. Juli 1959 um wenigstens klarzustellen, dass der sogenannte "väterliche Stichentscheid" in Erziehungsfragen nach Paragraf 1628 unrecht sei, denn die Beziehungen beider Elternteile zum Kinde seien "dem Wesen nach gleich". Das war so etwas wie ein Wertewandel durch Gerichtsbeschluss.
Der eben von Christian Neumaier erwähnte Geschichtsforscher Till van Rahden hat in einem ziemlich lesenswerten Aufsatz die Reaktion der damals noch einflussreichen Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" auf diesen ersten richterlichen Schritt zur Gleichstellung von Mann und Frau beschrieben.
Der "Rheinische Merkur" schäumte: Statt die Familie als "Keimzelle aller irdischen Gemeinschaft" zu schützen, hätten sich die Richter einer Argumentation bedient, die den Geist "verstaubter Geltungskämpfe aus der Ära der Suffragetten" atme. Und weiter:
"Dank dieser Prinzipientreue stehen wir nun vor einem Einbruch der ungeeignetsten Instanz, nämlich des Staates, in jenen Bereich, dessen innere Ordnung und Gesundheit erst den guten Staat als Verband möglichst vieler guter Familien ausmacht. Man kann sich leicht vorstellen, wie vergnügt man sich in der Sowjetzone die Hände über diese formaldemokratische Einebnung der Familie reiben wird. Um den Schaden zu begrenzen, sollte der Bundestag noch einmal die Frage aufgreifen, wie der Staat Ehe und Familie in ihrer vorhandenen Kulturüberlieferung schützen kann."
Das waren noch Zeiten. Zeiten, in denen die Gleichheit von Frau und Mann in der Kindererziehung als Angriff auf die Werte der bürgerlichen Familie verstanden wurde. Andreas Rödder:
"Gerade was die Fünfziger Jahre angeht, muss man natürlich berücksichtigen: Es ist das Jahrzehnt nach dem Krieg. Also es ist das Jahrzehnt einer Gesellschaft, die nach nichts mehr sich sehnte als nach einer gewissen Ruhe und Stabilisierung, eine Gesellschaft die über dreißig Jahre Krieg, Zusammenbrüche, Mangel, Katastrophen erlebt hatte. Dass diese Gesellschaft in den Fünfziger Jahren sich zunächst einmal nach Ruhe und Ordnung sehnte, das heißt auch eine heile Welt der Familie sich konstruierte in einer Umgebung, in einem historischen Zusammenhang, wo die Familien so heil gar nicht waren durch den Krieg eben, das erklärt, glaube ich, auch Vieles im Hinblick auf die Fünfziger Jahre, die uns aus einer rückschauenden Perspektive dann oftmals so ruhig, so quietistisch, so bleiern und muffig erscheinen. Schaut man aber einmal genauer hin, dann gibt es kaum eine Zeit, in der Familien so fragmentiert waren wie in dieser Zeit, kriegsbedingt, durch den Ausfall einer ganzen Generation von Soldaten, todesbedingt, Versehrte, Kriegerwitwen und so weiter. Familien waren selten so auseinandergerissen wie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, für die wir von der Hochphase der bürgerlichen Familie sprechen."
Die bürgerliche Familie, wie der Mensch sie seit 130 oder ein paar mehr Jahren kennt, ist traditionell ein Konstrukt aus Mutter, Vater, Nachwuchs - und Gefühl. Nicht unbedingt dem Gefühl überbordender Liebe zwischen den Eheleuten, aber dem Gefühl der Übereinstimmung in grundsätzlichen Wertnormen und der Sicherheit vor den Unbilden des Lebens draußen, der Arbeitswelt.
"Die moderne, bürgerliche Familie ist von vornherein so etwas wie ein Gegenentwurf gewesen zur Moderne im Bereich der Wirtschaftswelt, im Bereich der Arbeitswelt. Während im Bereich der modernen Arbeitswelt der Bürger, der männliche Bürger, der seinen Geschäften nachgeht, beruflich flexibel und mobil sein musste, ganz rational handeln musste - die Marktbeziehungen hat ja Max Weber als ein Element der modernen Rationalität ausfindig gemacht - während also im Bereich der Arbeitswelt, der männlich dominierten Arbeitswelt Flexibilität und Rationalität und Mobilität herrschten, ist die Familie dem gegenüber, zumal die bürgerliche Familie, ganz weiblich besetzt, der Ort der Emotionalität gewesen, einer Emotionalität, wie sie in dieser Form so für Familien nie verbindlich gewesen war, der Ort der Emotionalität also und auch der Stabilität gewesen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Familie und Arbeitswelt ist im 19. Jahrhundert angelegt und es ist natürlich ein Spannungsverhältnis, das bis heute trotz Postmoderne, trotz modernster Familienpolitik anhält und auch nicht auflösbar ist. Und diese Spannung zwischen Familie und Arbeitswelt, die ist ein Kontinuum, das sich durch die Moderne hindurchzieht und ebenfalls also von dem, was in den Sechziger Jahren sich an Wandlungsprozessen vollzogen hat, grundsätzlich gar nicht berührt hat,"
glaubt Andreas Rödder. Da sind sie wieder, die Sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die von der Soziologie als gesellschaftliche Zeitenwende, als die Phase der zügigen, wenn nicht abrupten Umwertung aller Werte gesehen werden.
Andreas Rödder und seine Mitarbeiter sind ziemlich überzeugt, dass ihr Forschungsprojekt zum Wertewandel in Familie und Gesellschaft eine neue Sichtweise zur Plötzlichkeit der Veränderungen bringen kann. Andreas Rödders zweiter wissenschaftlicher Projektmitarbeiter Jörg Neuheiser sagt jedenfalls:
"Ich glaube, dass diese, ja, diese markanten Brüche in den Sechziger Jahren eben sich auflösen, wenn man in die historische Perspektive schaut. Dass man dann eben nicht sagen kann, es gibt einen so offensichtlichen, dramatischen Wandel durch ein neues Frauenbild zum Beispiel um 1960, sondern dass man eher von einer Verschiebung sprechen muss in einem Kontinuum von gegensätzlichen Wertvorstellungen, die dann eben in den Sechziger Jahren relevant geworden sind."
Zweifellos relevant ist natürlich auch eine Begriffsklärung: Was sind denn eigentlich die bürgerlichen Werte, deren Veränderung die Mainzer Historiker untersuchen wollen? Andreas Rödder klärt auf:
"Das sind zunächst einmal Arbeitsethos und Leistungsbereitschaft, b.) die Idee der Selbstverantwortung und der Selbständigkeit, c.) Hochkultur und Bildung, es sind d.) der Bereich der Familie und e.) eine religiös grundierte Sozialmoral. Dieses sind die Kategorien, die sich im weiteren Sinne als bürgerliche Werte bezeichnen lassen und die wir im engeren Sinne dann für unser Projekt zur Anwendung bringen."
Ein Kernbegriff, um den der Wertewandel, soweit er bis heute untersucht und diagnostiziert ist, kreist, ist die "Freiheit", also die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen, deren Sinnhaftigkeit im Laufe von hundert Jahren abhanden gekommen ist: Der Job ist nicht mehr unbedingt das Zentrum der Eigendefiniton; Kinder gehen ohne Knicks und Diener zur Begrüßung der Tante als gut erzogen durch; es kann auch ein anständiger Bürger sein, wer nicht regelmäßig zum Gottesdienst geht; die Krawatte ist kein Muss mehr, damit ein Mann korrekt angezogen ist; wenn Frauen Frauen lieben oder Männer Männer, dann ist das eben so und keine Straftat mehr; und in der bürgerlichen Familie der Neuzeit wird die Rollenverteilung in lange Gespräche am Küchentisch ausdiskutiert. Und wenn die Gemeinsamkeiten erschöpft sind, trennt man sich, denn jedermann hat die Freiheit, eine Sozialbeziehung zu kündigen - auch wenn sie "Ehe" heißt. Im Auftrag von Andreas Rödder geht der junge Mainzer Historiker Christopher Neumaier bei der Erforschung des Wertewandels deswegen auch der Frage nach:
"Welche Rolle spielt die bürgerliche Kernfamilie heute noch? Es gibt alleinerziehende Mütter, es gibt alleinerziehende Väter, es gibt Paare, die ohne Trauschein zusammenleben. Und eben diese Pluralität der Familienformen wird ein Hauptaugenmerk sein, dem wir uns zuwenden werden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Also im Prinzip die Ablösung der bürgerlichen Kernfamilie durch eine Pluralität von Familienformen."
Die Freiheit zur Pluralität aller möglichen Lebensformen hat allerdings auch ihre Schattenseiten, findet Andreas Rödder. Schattenseiten im Heute, die sich aus dem historischen Gestern und dem Wertewandel dazwischen ergeben:
"Die größere Wahlfreiheit ist Chance und Zumutung zugleich. Die Zahl derjenigen, die mit ihren Kindern nicht mehr zurecht kommt, ist im Zeichen dieser gewachsenen Freiheit mehr geworden. Auch früher waren die Eltern vielleicht gar nicht kompetentere Eltern als heute, aber es gab einen klareren Rahmen, klarere Vorgaben wie man die Dinge macht. Ob das richtig war oder falsch, aber es gab einem die gewisse Sicherheit, dieses zu tun. Wenn sie nur in eine x-beliebige Bahnhofsbuchhandlung gehen und sich die Erziehungsratgeber anschauen, dann zeugt ja die Latte der Erziehungsratgeber von der ganz großen Ratlosigkeit, die mit der postmodernen Freiheit einhergegangen ist. Ebenso gibt es aber im Zeichen der gewachsenen Freiheitsräume diejenigen, die diese Freiheit umso mehr zu nutzen wissen. Die Politik freilich hängt - und das ist ein ganz parteiübergreifendes Phänomen - nach meinem Dafürhalten ganz stark, zu stark, ihre Ausrichtung am den Problemgruppen auf und will nun im Zeichen von Chancengleichheit, wie ich finde, unter ein neues, konformisierendes Schema die ganze Gesellschaft bringen. Das halte ich wiederum im Vergleich zu der gewachsenen Pluralität für ein problematisches Muster."
Ein Muster, das die Historiker an der Mainzer Universität untersuchen werden. So wie die vielen anderen Muster des Wertewandels und seiner Auswirkungen auch. Drei Jahre haben sie dafür erst einmal Zeit und Geld von der DFG. Am Ende hofft Andreas Rödder, zusammen mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern besser erklären zu können...
"...wie sich Wertewandelsprozesse vollzogen haben, ob es die großen Brüche gibt und wie sich langfristig die Dinge entwickelt haben. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass wir sehr viel genauer hoffen zu erkenne, wie sich eigentlich das Zusammenspiel von Werten, wie sich das Zusammenspiel von alltäglichem sozialen Verhalten auf gesellschaftlicher Ebene und das Zusammenspiel von, drittens, mit sozialen und rechtlichen Strukturen vollzieht. Ändern sich erst die Werte und dann das Verhalten? Oder ändert sich das Verhalten und daraufhin die Werte und daraufhin die rechtlichen Regelungen? Die Dinge spielen zusammen, aber wie dieses genauer funktioniert, das würden wir gerne genauer wissen. Und dann würden wir Prozesse der Wertewandels in der Gegenwart, die uns alle eigentlich immer so überfallen, und von denen wir dann feststellen, dass sie so sind, dann würden wir die sehr viel genauer, wie wir hoffen, einschätzen können."