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Vater und Sohn, Berühmter und Nobody

Ein Konflikt zwischen Vater und Sohn spitzt sich in einer Nacht dramatisch zu und wird an zwei Orten parallel geführt. Roswitha Quadflieg thematisiert diese schwierige Beziehung zwischen den Männern in ihrem neuen und knappen Roman "KönigsSohn".

Von Lerke von Saalfeld | 19.07.2012
    "Ich nehme die Welt wahr und die Welt steckt voller unglaublicher Geschichten. Man muss sie nur durch die eigene Brille verknüpfen und etwas anderes machen, aber eigentlich ist das ganze Material da in der Welt und auch im eigenen Leben, im eigenen Erleben. Das ist sehr spannend, ich kümmere mich gerne darum, um diese Dinge."

    Wie ein Basso continuo zieht sich durch Ihre Romane , die ja teilweise richtige Lebensberichte sind von Personen, die Sie recherchiert haben, das Thema Leben und Tod.

    "Ja, die beiden Säulen, an denen wir nicht vorbeikommen oder auf die wir uns stützen. Das sind die festen Komponenten dieses Daseins. Und ich befrage sie ein bisschen. Ja, ich stelle eigentlich überhaupt immer nur Fragen, dadurch wechselt man auch die Perspektiven und stellt keine Behauptungen auf."

    Leben, Lebensläufe mit all ihren Brüchen, Untiefen und dunklen Stellen befragt Roswitha Quadflieg auch in ihrem jüngsten, knappen und höchst luziden Roman "KönigsSohn". Es geht um einen Vater/Sohn-Konflikt, der sich in einer Nacht dramatisch zuspitzt und kunstvoll an zwei Orten parallel geführt wird, denn es ist wie bei den Königskindern, sie konnten zueinander nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.

    "Es ist eine Geschichte der Einsamkeit von zwei Menschen. Die Spuren dieser Einsamkeiten verfolge ich, wie kommt es dazu, ob man berühmt ist oder ob man ein Niemand ist, ein Nobody, die Einsamkeiten sind gleich groß. Das hat mich interessiert, wodurch entstehen diese Einsamkeiten, wie kommt es dazu. Ist der Protagonist der Einsamkeit der Verursacher oder hat er es heraufbeschworen. Das sind so die Seile, auf denen ich da balanciere."

    Der Berühmte ist Dolf König, ein gefeierter Bassbariton, der an diesem Tag des Romans, im Alter von 84 Jahren, vom Intendanten gesagt bekommt, sein ‚Sarrastro‘ in der Zauberflöte sei so katastrophal gesungen, dass er ihn entlassen müsse. Der Nobody ist der uneheliche Sohn des Starsängers, ein Gescheiterter im Leben, der vor seinem Vater nie Anerkennung fand, der verleugnet und verstoßen war. Dieser Sohn feiert an diesem Tag seinen 49.Geburtstag und lädt seinen Vater fiktiv zu einem Abendmahl ein. Er deckt und kocht für zwei Personen und unterhält sich mit seinem nicht anwesenden Vater über sein und dessen verpfuschtes Leben, denkt über die Vergangenheit nach. Der Vater, der nichts ahnt, hat an diesem Abend frei, denn sein Auftritt in der Oper wurde ‚krankheitshalber‘ abgesagt, seine Frau empfängt wie immer an solchen Abenden ihren Liebhaber, er stört also und wankt in die naheliegende Dorfkneipe zum Essen.

    "Das Leben schreibt die spannendsten Geschichten" hat Roswitha Quadflieg in einem Interview gesagt, und so ist auch die Geschichte dieses Romans aus dem Leben gegriffen: Der alte Sänger hat zum Vorbild den Vater der Autorin, den berühmten Schauspieler Will Quadflieg. Von dem unehelichen Sohn, der nie zur Familie gehören durfte, mit dem beziehungsreichen Namen Wolfgang Amadeus, erfährt Roswitha Quadflieg erst im Jahr 2000 durch eine Todesanzeige und begibt sich nun auf Spurensuche nach dem Halbbruder. Die fiktive Umsetzung ihrer Nachforschungen hat in ihrem Roman einen berührenden und aufwühlenden Niederschlag gefunden, so wie diese Geschichte auch die Autorin selbst emotional umgetrieben hat, die bereits in ihrem Debütroman "Der Tod meines Bruders", erschienen 1985 und jetzt neu aufgelegt, vom Unfalltod eines anderen Bruders als Erfahrung einer zerborstenen Familie erzählt.

    "Man geht mit so einem Thema ja vorsichtig um, es geht um meinen Halbbruder und um meinen Vater. Ich nenne sie anders, denn es geht nicht nur um die beiden, es geht um viel mehr, um das Problem Vater und Sohn per se. Und dass es nicht nur an diesen beiden historischen Figuren haftet, von der wir die eine kennen – oder die meisten noch kennen, das hört ja nun auch auf, die Legende ist ja schon lange tot. Ich will die Geschichte viel breiter erzählen, sonst ist es eine reine Familiengeschichte. Das wäre schade, weil dieses Problem ist viel größer und deshalb habe ich das ganz bewusst anders aufgezogen. Das ist das Drama Familie, der Hort der Missverständnisse, der Leiden, der Freuden. Das spielt sich alles ab. Aristoteles und Hollywood, wir sind immer bei dem alten Thema und das ist auch das, was uns interessiert, weil jeder eine Familie hat. Und jeder zieht aus ihr seine Traumata, seine Freuden, seine Ziele, sein Leben. Das hat doch einen großen Einfluss auf das eigene Leben, was man da macht, auch wenn es ganz anders verläuft – entweder d’accord oder Absetzung davon."

    Zwei Gestrandete konfrontieren sich mit den Scherben ihres Lebens. Der weltberühmte Sänger fällt in ein Nichts, denn die Bühne bedeutete ihm Alles, der Sohn ist aus der Unsichtbarkeit nie herausgetreten. Nun sitzen beide an einem Tisch, räumlich weit voneinander entfernt und verspeisen witzigerweise die gleiche Speise, Hasenkeule mit Rotkohl. Der Vater erzählt der trinkfreudigen aber auch schläfrigen Mutter des Kneipenwirts Episoden aus seinem Leben und hüllt sich in dunkle Gedanken; der Sohn will wenigstens einmal in seinem Leben den Vater, der ihn als Erwachsenen zweimal von der Tür gewiesen hat, in einem ausgedachten Dialog zur Rede stellen. Will wissen, warum sein Vater ihn aus seiner Familie ausgesperrt hat.

    Vater- und Sohn-Kapitel sind abwechselnd hintereinander gesetzt, immer verschränkt durch ein überleitendes Wort: "Wolfgang – der längst den verhassten Zweit-Vornamen Amadeus abgelegt hat – warf die Tür zu". Das folgende Vater-Kapitel beginnt mit dem Satz: "Die Tür zur Gaststube sprang auf". Das letzte Schlüsselwort in diesem fein ziselierten Roman zwischen Vater und Sohn kreist um das Dunkel: Das Wolfgang-Kapitel endet mit:"Es wurde dunkel um ihn". Später erfährt der Leser, der Sohn ist in jener Nacht am Herzinfarkt gestorben. Der Vater sitzt immer noch in der Kneipe und das Kapitel beginnt mit den Worten: "Wie dunkel es plötzlich um ihn war."

    Beide, Vater und Sohn, sind von Einsamkeit eingehüllt, beide finden keinen Ausweg. Der Vater geht nach diesem Abend noch in seine Garderobe in der Oper, um sie für den Nachfolger zu räumen. Dort findet er einen Brief vor, den er selbst, vier Seiten lang handgeschrieben, im Jahr 1946 an den Ehemann von Wolfgangs Mutter geschrieben hatte, in dem er seinen Fehltritt eingesteht und jede Hilfe und Unterstützung anbietet, die er nie geleistet hat. Wolfgang hat diesen Brief von seiner Mutter geerbt und auf verschlungenen Wegen gerät der Brief nach dem Tod des Sohns wieder in die Hände des Absenders. Für den einst umjubelten Sänger ist das Leben sinnlos geworden, er bestellt ein Taxi und lässt sich vom Fahrer nach Wittenbergen bringen, wo Ernst Barlachs vom Vater bewundertes Theaterstück "Armer Vetter" spielt. Ein Stück, das auch nicht gut ausgeht. Dolf König legt sich an die Elbe und sucht im Wasser den Tod.

    Mit höchster Präzision, frei von pathetischen Schnörkeln, ohne jede Sentimentalität erzählt Roswitha Quadflieg konzentriert und mit poetisch leiser Stimme auf nicht einmal 100 Seiten ihre kleine und doch so große Geschichte.

    "Ja, das ist fast schon mein Running Gag, ich schreibe Eine-Nacht-Bücher. Erstmal interessiert mich die Reduzierung, ich bin ja auch ein bisschen durch Beckett verseucht in dem Ansatz von Literatur. Nicht das Ausgebreitete – also Thomas Mann wäre das Gegenteil, sondern dieses Schweigen am liebsten. Zwischen den beiden Buchdeckeln muss sich ja etwas abspielen. Ich versuche aber die Geschichten, die ich mir vornehme, möglichst knapp zu erzählen. Ich will nicht sagen einfach, sondern knapp. Es gibt ja ein Zitat – ich glaube es ist von Goethe – ‚Ich hab heute keine Zeit, Dir einen kurzen Brief zu schreiben, drum schreib ich Dir einen langen.‘ Das ist ja viel schwieriger, dieses Herausfiltern und zum Wesentlichen zu kommen. Das ist das, was mich am Schreiben fasziniert, so hat es angefangen, dieses Herausfiltern der richtigen Worte aus einem Berg von ganz vielen Möglichkeiten. Das finde ich einfach spannend im Gegensatz zu diesen 600-Seiten-Büchern, die wir ja zu Hauf haben."

    Und nicht ohne verschmitzte Koketterie fügt Roswitha Quadflieg hinzu:

    "Die kurzen, die knappen Formen, die man in einer Nacht schaffen kann, wenn man will, und man muss nicht erst krank werden, damit man das Buch lesen kann."

    Roswitha Quadflieg: "KönigsSohn", Stroemfeld Verlag, 95 Seiten, 19,80 Euro