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Vehemente Begründung der abnehmenden Gewalt

Steven Pinker stellt in seinem 1200 Seiten umfassenden Buch die These auf, dass Gewalt - auch historisch betrachtet - immer mehr abnimmt. Aber eine wirklich überzeugende Erklärung für die nach wie vor vorhandene Gewalt in den meisten Kulturen bietet die Studie nicht.

Vorgestellt von Thomas Kleinspehn | 13.01.2012
    "Gewalt ist ein zentrales Thema für jeden, der sich für die menschliche Natur interessiert. Viele Menschen fürchten, dass wir zu endlosen Kriegen und Streitigkeiten verdammt sind, wenn es die menschliche Natur tatsächlich gibt."

    Diese Angst beherrscht aus der Sicht von Steven Pinker nicht nur den Nachbarn um die Ecke, sondern auch jene Kulturpessimisten, die nicht zuletzt in der Ausbreitung von Gewalt den Untergang unserer Zivilisation heraufziehen sehen. Gegen sie schreibt der in Kanada geborene und heute in Harvard lehrende populäre Psychologe mit Vehemenz an.

    Gegen alle Propheten vom Untergang des Abendlandes von Spengler bis in die Gegenwart richtet er seine These über die Abnahme von Gewalt im Verlauf der Geschichte. Zwar hätten wir es ohne Zweifel auch heute noch mit verschiedenen Formen von Gewalt zu tun. Wenn man jedoch heutige Kriege und andere Gewaltekzesse etwa mit denen des Mittelalters oder weiter zurückliegenden Epochen vergleiche, zeige sich, dass die Kurve von Gewalttätigkeit kontinuierlich abnehme. Die Menschen lebten in einer Illusion, wenn sie glaubten, das Gegenteil sei der Fall.

    "Die Tatsache, dass wir lange Zeit ohne großen Krieg gelebt haben, bedeutet noch lange nicht, dass sich gerade neue Spannungen bilden, die sich bald entladen werden. Das ist nicht zu erwarten. Natürlich sind Kriege, auch große Kriege, weiterhin möglich, aber sie sind unwahrscheinlicher geworden. Besonders der Zeitraum seit dem Zweiten Weltkrieg hat alle bisherigen Rekorde an kontinuierlichen Friedenszeiten gebrochen. Seitdem gibt es keine Kriege zwischen den großen Mächten in Westeuropa oder zwischen den höher entwickelten Staaten. Und nicht nur das, auch hat man sich in diesem Zeitraum weniger auf Kriege vorbereitet. Im Verhältnis zur Bevölkerung hat das Militär kontinuierlich abgenommen. Und auch in der Bevölkerung selbst gibt es eine Anti-Kriegshaltung, die so groß ist wie nie zuvor. Wenn sie also den langen Zeitraum des Friedens zusammen mit dem Meinungswandel betrachten, dann denke ich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg geringer geworden ist, sie liegt aber natürlich nicht bei Null."

    Dies ist im Kern die einzige These, die Pinker versucht, in seinem opulenten neuen Buch zu belegen. Dafür wildert er in Bereichen, in denen er mal mehr, mal weniger zu Hause ist. Das sind vor allem die Geschichte und die Evolutionstheorie. Darwins Theorie und seine Nachfolge mögen ihm als Psychologen zunächst einmal näher stehen. Die Ergebnisse historischer Studien bereitet er in einer Ausführlichkeit aus, als müsste er sich durch die Masse der Daten selbst erst noch überzeugen. In den ersten fünf Kapiteln beschreibt Pinker das, was er selbst die "Orgie des Blutvergießens" nennt. Da passieren Kriege und Stammesfehden, Mord und Massenmord, Folter und Vergewaltigungen, Genozide und Terrorismus Revue, letztlich nicht wirklich getrennt nach Art, Wirkung und Hintergrund. Der Tod ist der gemeinsame Nenner.

    Gegenüber all diesen Schreckensbildern der Vergangenheit erscheint dann die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage als Phase des "langen Friedens", wie ein Kapitel des Buches heißt. Bis ins 21. Jahrhundert nahmen vor allem die Kriege zwischen den großen Staaten immer mehr ab.

    "Nur, wenn sie auf die Gewaltereignisse schauen und sie ins Verhältnis zur Bevölkerung setzen, können sie überhaupt Aussagen darüber machen, ob die Gewaltrate zugenommen oder abgenommen hat oder gar gleich geblieben ist. Diese Statistiken zeigen, dass die Gewalt in den letzten Jahrhunderten stark abgenommen hat. Im Mittelalter beispielsweise war es 30 Mal wahrscheinlicher, dass man umgebracht wurde, als es heute im 21. Jahrhundert der Fall ist."

    Man kann in Pinkers Buch Dutzende von Tabellen studieren und erläutert bekommen, in denen er beispielsweise die Anzahl der Konflikte ins Verhältnis zu den Opfern setzt oder die Bevölkerungszahlen korreliert mit den Toten in Kriegen. Bezogen auf die Gewaltausbrüche, deren Dauer und die Zahl der Toten ergeben sich tendenziell eine Verringerung von Gewaltaktionen zwischen 1400 und 2000, mit einigen Abweichungen im 17., 19. Jahrhundert und vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser mathematischen Zusammenstellung sind manche Ergebnisse überzeugend oder zumindest plausibel, manche sind dagegen nur Schätzungen. Das bestreitet der Autor auch nicht, führt ihn aber auch nicht dazu, vorsichtiger zu interpretieren.

    Die Befriedung der Welt findet Pinker jedoch nicht nur auf der Ebene von Staaten, sondern belegt sie mit ähnlichen Methoden auch innerhalb von Gesellschaften. Morde und andere körperliche Gewaltverbrechen nähmen ebenfalls ab. Dabei ist Pinker durchaus davon überzeugt, dass es Aggression als anthropologische Konstante bei allen Menschen gebe. Verschiedene Formen von Gewalt diskutiert er aber nicht systematisch. Hier ist er nicht nur Neurowissenschaftler und beruft sich zudem auf Evolutionstheorien seit Darwin, sondern zieht auch die Flut von psychologischen Tests in der Folge des Milgram-Experiments heran, die die menschliche Gewaltbereitschaft belegen sollen.

    "Die Menschen haben nach wie vor Gewaltfantasien. Wenn sie gefragt werden, würden die meisten zugeben, dass sie gelegentlich oder öfters fantasiert haben, jemanden zu töten, den sie nicht mögen. Wir lieben durchaus Gewaltgeschichten in Unterhaltungsmedien. Besonders kleine Jungen spielen gerne Gewaltszenen. Und in den Teilen der Welt, wo die Institutionen zusammenbrechen, kehrt die Gewalt zurück. Gewalt kann also als eine Form des Verhaltens zurückgedrängt werden, aber in unserer Psyche ist eine Tendenz zur Gewalt nach wie vor vorhanden."

    Gesellschaften nach dem Mittelalter hätten nach und nach Mechanismen zur Kontrolle entwickelt. Damit meint Pinker einmal die rationale Ordnung der Wirtschaft und die Macht des Staates zur Regelung von Konflikten. Das habe zur Folge, dass der "innere Dämon" des Menschen eingegrenzt werde. Rachegefühle werden von Mitgefühl für ein Gegenüber zumindest gebrochen. Gewalt ist im Prinzip geächtet.

    Hier folgt der kanadische Psychologe im Grunde den Thesen des Soziologen Norbert Elias aus den späten 30-er Jahren. Auch er hatte von Affektkontrolle und dem Gewaltmonopol des Staates gesprochen. Pinker wendet jedoch das Argument, das bei Elias noch eine sozialpsychologische Seite hat und auch Ambivalenzen nicht ausschließt, überwiegend idealistisch. Für ihn haben sich Aufklärung und Humanismus durchgesetzt.

    Hobbes Leviathan und die Kantsche Vernunftphilosophie gehen eine Symbiose ein. Menschen können aus seiner Sicht einsehen, dass es für sie günstiger ist, auf Gewalt weitgehend zu verzichten. Man müsse sie nur ausreichend überzeugen.

    "Es ist sogar möglich, dass Kriege zwischen den Ländern genauso verschwinden wie die Sklaverei oder die Menschenopfer, dass die Mächtigen in den einzelnen Ländern beschließen, dass das eine barbarische Praxis ist und sie für immer verbannen. Das bedeutet sicher nicht, dass es keine Morde mehr geben würde, keine Bürgerkriege oder kein Terrorismus, weil sich das mehr auf der Ebene des Individuums und nicht der Politik abspielt. Aber die Raten können verringert werden und die institutionalisierten Formen von Gewalt können durchaus verschwinden."

    Ein solches Erklärungsmodell schließt in der Konsequenz aus, dass verdrängte Gewalt sich verlagern und auf einer anderen Ebene wiederkehren könnte, wovon Freud noch überzeugt war.

    "Ich glaube, dass sich Freud darin getäuscht hat, dass Gewalt ein Verlangen ist, das in jedem Fall befriedigt werden muss. Dem steht entgegen, dass viele Trends in die gleiche Richtung gehen. In Westeuropa zum Beispiel gibt es seit 1945 kaum noch Kriege. Aber das bedeutet nicht, dass deswegen zum Beispiel mehr Kinder geschlagen würden. Auch die Gewalt gegenüber Kindern hat abgenommen. Gewaltsame Formen von Strafen sind in Mitteleuropa ebenfalls zurückgegangen. Und es gibt weniger häusliche Gewalt, weniger Frauen werden von ihren Ehemännern geschlagen. Daran kann man sehen, dass alle Formen von Gewalt zurückgegangen sind und es ist nicht so, dass eine geringer geworden ist und deshalb durch andere Formen diese kompensiert werden und deswegen sich ausbreiten würden."

    Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg keine unmittelbaren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den industriellen Großmächten gegeben hat. Auch ist Europa trotz des Balkankrieges seitdem relativ friedlich. Pinker argumentiert hier durchaus überzeugend.

    Doch in seiner umfangreichen Studie taucht kaum einmal die Frage auf, ob sich die Konflikte etwa um Rohstoffe nicht längst verlagert haben von den westlichen Industrienationen auf unterentwickelte Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika. Oder ob Gewalt zwischen Menschen nicht lediglich unsichtbar geworden, aber damit nicht weniger vorhanden ist. Etwa, wenn Macht und Gewalt sich auf einer psychischen Ebene durchsetzt - im hierarchischen Verhalten zwischen Menschen oder im Kampf des Ichs gegen sich selbst zum Beispiel in psychischen Krankheiten. All das spielt in Pinkers mit missionarischem Eifer vorgetragenen Vision von der möglichen Eindämmung der Gewalt keine Rolle.

    Wenn man sich schließlich durch 1200 Seiten vollgepackt mit Tabellen und mathematischen Formeln sowie den Zusammenfassungen von unzähligen Gewaltstudien hindurchgekämpft hat, kann man sich fragen, was einem der Autor vermitteln wollte. Man kann dann wahrscheinlich nicht mehr an einem orthodoxen Kulturpessimismus festhalten. Aber eine wirklich überzeugende und interdisziplinär begründete Erklärung für die nach wie vor vorhandene Gewalt in den meisten Kulturen hat man auch nicht.

    Buchinfos:
    Steven Pinker: "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit",
    Frankfurt/Main, Fischer Verlag 2011, Preis: 26,00 Euro