- Musikbeispiel: Giorgio Mainerio - Pass'e mezzo della Paganina e Saltarello
"Das völlig verrückte Venedig"- so ungefähr lautet der übersetzte Titel der neuesten CD des 'Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra', eine weitere optisch wie musikalisch exquisite Veröffentlichung des nun bereits fünf Jahre bestehenden französischen Labels Alpha.
Frei nach dem Motto "ut pictura musica", – " Musik ist Malerei, Malerei ist Musik" -, wird jeder Produktion ein außergewöhnliches Bild aus der Zeit, in der die Musik entstand, zur Seite gestellt. In diesem Fall ist das Vittore Carpaccios "Heilung eines Besessenen" oder "Das Wunder der Reliquie des Heiligen Kreuzes auf der Rialto-Brücke", das um 1496 entstand. Auf diesem überbordenden Gemälde ist die höhere Gesellschaft der Republik Venedig zur Zeit der Dogen in all' ihren Facetten dargestellt, die geistlichen wie weltlichen Herrscher ebenso wie die Edelleute oder aber auch die Gondolieri. Und so, wie sich hier die Serenissima präsentiert, lässt sich auch die Musik des "Goldenen Zeitalters" charakterisieren, die mit der Kirchenmusik in San Marco ihre höchste Kunstform fand. Daneben entwickelte sich aber auch, als eine Art Gegenbewegung, eine phantastische und extravagante Musik, wie sie auf dieser CD zu hören ist. Hier noch einmal zwei Tänze von Giorgio Mainerio: Ballo Anglese und Saltarello.
- Musikbeispiel: Giorgio Mainerio - Ballo Anglese e Saltarello
Das Ensemble Capriccio Stravagante wurde 1986 von dem amerikanischen Cembalisten Skip Sempé gegründet und besteht in mehreren Formationen von 3 bis 30 Ausführenden mit dem Schwerpunkt Renaissance und Barock-Musik. Die Musiker kommen aus ganz Europa, Amerika und Kanada und sind allesamt ausgewiesene Spezialisten historischer Aufführungspraxis, die die Freiheit des individuellen und des kollektiven Musizierens vereint. Charakteristisch ist ein kraftvoller, lebendiger, prächtiger und differenzierter Klang. Nur schade, daß dieser "Sound" bei der Aufnahme nicht eingefangen werden konnte, und alles etwas dumpf klingt.
Für Skip Sempé geht es dabei in erster Linie um die Frage, ob die Ausführung ausdrucksvoll gelingt oder nicht, was zugegebenermaßen immer eher eine Frage des Geschmacks denn der historischen Tatsachen ist. Denn gerade im Bereich der Renaissance Musik sind die Musiker, wie schon ihre Kollegen vor 500 Jahren auf Kreativität und Improvisation angewiesen.
"Die Partitur", so Sempé, "ist das Werk des Komponisten, die Aufführung das Werk des Interpreten". So steht in den Drucken oft die Überschrift: "per ogni sorte di strumenti", für alle Arten von Instrumenten. Da gibt es jedoch ganz unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten, und jedes Instrument, das ausgewählt wird, erfordert wiederum eine spezifische Behandlung. So ist Renaissance- Musik oft zuallererst einmal eine Frage des Arrangements, wobei auch vokale Musik instrumental aufgeführt wird. Und auch wenn die Musik auf dem Papier relativ einfach aussieht, müssen doch viele musikalische Entscheidungen getroffen werden. Diese sind weder intellektueller, noch historischer oder musikologischer Art, so Sempé, sondern stehen ausschließlich in Zusammenhang mit der Interpretation und der Aufführung. Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten durch die Entdeckung zum Beispiel vergessenen Repertoires und neue Kenntnisse im Instrumentenbau, viel zu einem besseren Verständnis der fundamentalen Probleme beigetragen, die die Aufführung des frühen Repertoires erfordern. Durch neue Sichtweisen mussten so aber auch viele bis dahin gültige Regeln und Normen aufgegeben werden. Und trotz aller historischen Kenntnisse sollte die Spontaneität und auch die Lust am Improvisieren und Verzieren nie außer acht gelassen werden.
Neu an der Musik der Renaissance war auch zum Beispiel die Entwicklung des Bass-Fundamentes. Und gerade die Erfindung der tiefen Bass-Instrumente ermöglichte einen neuen Klang, neue Ensemble-Zusammenstellungen und Aufführungsmöglichkeiten.
In dieser Aufnahme wird dem mit mehrfach besetzten Violen Rechnung getragen, hinzu kommen Violinen, Flöten, Horn (Cornetto), Chittarone, Gitarre, Trompete, Orgel und Regal, Cembalo und Virginal, Harfe und Pauken.
Die Musiker unter der Leitung von Skip Sempé haben dabei einen Klang kreiert, den es , so Sempé selbstbewusst, bis jetzt noch nicht gab. Dies war möglich, nicht durch die Entscheidung auf historischen Instrumenten zu spielen, sondern durch das Zusammenspiel von außergewöhnlichen Musikern, die, trotz eines musikalischen Leiters, die Freiheit haben, ihren individuellen musikalischen Ausdruck zu entwickeln.
Das Spielen auf historischem Instrumentarium reiche allein nicht aus, die Beherrschung der Klangfülle sei eines der vielen Geheimnisse des Singens und das hätten die Instrumentalisten des 16. und 17. Jahrhunderts versucht zu imitieren.
Sempé geht es darum, den Geist der Musik und der Zeit wieder aufleben zu lassen, darum wissend, daß der Begriff der Authentizität bei dieser Musik nicht greift. Denn gerade bei der Musik der Renaissance handelt es sich zum großen Teil auch um eine Neuschöpfung der Interpreten.
Hören Sie hier zum Abschluss noch das Madrigal "So ben mi ch'ha bon tempo" von Orazio Vecchi, gesungen von Guillemette Laurens und anschließend ein sogenanntes Finale, eine Art Potpourri mit Stücken verschiedener Komponisten, darunter auch das bekannte "Tedesca e Saltarello" von Giorgio Mainerio. Es spielt das Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra
unter der Leitung von Skip Sempé.
- Musikbeispiel: Orazio Vecchi & finale (versch.) - So ben mi ch'ha bon tempo
DIE NEUE PLATTE im Deutschlandfunk. Wir stellten Ihnen heute italienische Tanzsätze aus der Zeit von 1550 bis 1630 vor, gespielt vom "Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra" unter der Leitung von Skip Sempé. Diese CD erschien beim französischen Label Alpha unter dem Titel "Venezia Stravagantissima" und enthält Tänze, Canzone und Madrigale der Spät-Renaissance.
Zuletzt erklang das Madrigal "So ben mi ch'ha bon tempo" von Orazio Vecchi, gesungen von Guillemette Laurens sowie ein instrumentales Finale mit Stücken verschiedener Komponisten, das mit einem Trauermarsch von Incerto endete.
Weitere Informationen:
Titel: "Venezia Stravagantissima"
Ensemble: Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra
Leitung: Skip Sempé
Label: Alpha
Labelcode: LC 00516
Bestell-Nr.: Alpha 049