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Venezianischer Karneval mitten in Paris

Es ist eine hervorragende Ersteinspielung des Opera ballet "Le Carnaval de Venise" des Barockkomponisten André Campra. Die gelungene Aufnahme macht Lust, dieses vor Ideen nur so sprühende Werk auf einer Bühne zu erleben.

Von Sabine Radermacher |
    Venezianischer Karneval mitten in Paris, so lautete im Jahr 1699 das Erfolgsmodell des französischen Barockkomponisten André Campra: Sein Opéra-ballet "Le Carnaval de Venise" wurde jetzt von dem Ensemble Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet beim spanischen Label Glossa eingespielt, das in Deutschland vom Verlag "Note Eins" vertrieben wird. Es ist eine fulminante Erstaufnahme, die wir Ihnen jetzt vorstellen wollen. Im Studio begrüßt Sie dazu Sabine Radermacher

    1. MUSIK: Ouverture + I,1 "Hastez-vous” CD1<1-2> 3'06"
    L'Ordonnateur: Luigi di Donato (Bass)
    Choeurs et Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung


    Als der französische Komponist André Campra 1699 in Paris die Ballettoper "Le Carnaval de Venise" kreierte, hatte König Ludwig der XIV. in Versailles gerade einen radikalen Richtungswechsel vorgenommen. "Schluss mit lustig" war die neue Devise: statt Divertissement und Tanz sollten dort fortan Ernst und Buße herrschen. Von Paris aus besehen, war Versailles damals zwar weit entfernt, und doch musste Campras Bühnen-Ausflug in den Venezianischen Karneval wie eine Flucht erscheinen: ein Ausbruch zu anderen, auch musikalisch neuen Ufern. Schon zwei Jahre zuvor, 1697, hatte der Südfranzose Campra mit "L'Europe galante" einen triumphalen Erfolg in Paris gefeiert. Es war sein erster Beitrag zur damals recht neuen Gattung "Opéra ballet" gewesen, einer drei- bis vieraktigen Mischform aus Oper und Tanz, aus Tragödie und Komödie, aus Sagenwelt und realem Leben, deren Hauptattraktionen originelle Balletteinlagen und virtuose Arien waren und zwar auch und vor allem solche in italienischer Sprache und im italienischen Stil. Anders als im eher revueartigen Opéra-ballet üblich, besitzt "Le Carnaval de Venise" aber auch eine wirkliche durchgehende Handlung. Das Libretto stammt von François Regnard, einem renommierten Komödiendichter, der hier zum ersten und einzigen Mal für die Opernbühne schrieb und dabei Klamauk und Commedia dell'Arte gekonnt mit ganz großem Gefühl kombinierte. Alles beginnt damit, dass die beiden venezianischen Freundinnen Isabelle und Léonore eines schönen Tages feststellen: Sie lieben denselben Mann.

    2. MUSIK: I,2 "Dans ce beau jour” CD1 <18> 2:24
    Isabelle: Salomé Haller (Sopran)
    Léonore: Marina de Liso (Mezzosopran)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung


    Das war der Beginn des Opéra-ballet "Le Carnaval de Venise" von André Campra in der neuen Ersteinspielung mit dem Ensemble Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet. Die Sopranstin Salomé Haller und die Mezzosopranistin Marina de Liso buhlen dort, als venezianische Schönheiten Léonore und Isabelle, mit allen Mitteln um den offenbar sehr betörenden Léandre. Der ist in dieser Aufnahme mit dem Bassisten Alain Buet allerdings hörbar zu alt besetzt. Als Léandre sich – überraschend spontan – für Isabelle entscheidet, kennt Léonore kein Halten mehr. Sie erzählt alles dem empfindsamen Rodolphe, von dessen unerfüllter Liebe zu Isabelle sie nur zu genau weiß. Für die Partie des Rodolphe – hier samtweich gesungen von dem englischen Bassbariton Andrew Foster-Williams – griff André Campra tief ins tragische Fach der großen französischen Oper nach dem Vorbild Lullys, hauchte ihr aber gleichzeitig Leben ein, abseits von höfischer Pose.

    3. MUSIK: II,1 "Vous qui ne souffrez point” CD1 <24+25> 3'58
    Léonore: Marina de Liso (Mezzosopran)
    Rodolphe: Andrew Foster-Williams (Bass)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung


    André Campras Opéra-ballet "Le Carnaval de Venise", uraufgeführt 1699 an der Académie Royale de Musique in Paris, gleicht einem barocken "Roadmovie", einer musikalischen Verfolgungsjagd durch ein Postkarten-Venedig. Gekränkte Gefühle, Eifersucht und mediterrane Rachegelüste sind die Motoren der gut zweistündigen Handlung, die letztlich vor allem dazu dient, Campra ein ganzes Feuerwerk an musikalischen Einfällen abbrennen zu lassen. Man muss sich wirklich wundern, dass nicht schon früher jemand auf die Idee gekommen ist, dieses kurzweilige Meisterwerk auf CD aufzunehmen. Hervé Niquet und seine engagiert klangschön aufspielenden und singenden Mitstreiter des Concert Spirituel schöpfen bei dieser Ersteinspielung mit Wonne aus der vielfältigen Partitur zwischen Tragédie lyrique, Ballet de cour und musikalischer Commedia dell'Arte. So wird die eigentliche Handlung immer wieder durch den Auftritt allerlei Masken und allegorischer Figuren unterbrochen, als führen sie zufällig in einer Gondel vorbei:

    4. MUSIK: II,3 Marche de la Fortune CD1 <27> 2:27
    Choeur et Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung


    Mit "Le Carnaval de Venise" trieben der damals 39-jährige Komponist André Campra und sein Librettist François Regnard die für die Gattung Opéra-ballet so typische – im damaligen Frankreich aber durchaus kühne Öffnung für musikalische Fremdeinflüsse – auf die Spitze. Regnard hatte lange Jahre für die Pariser Comédie Italienne geschrieben, war im italienischen Fach daher bestens bewandert – und zwar vor und hinter den Kulissen. So ließ er fast den kompletten dritten Akt von "Le Carnaval de Venise" in einem venezianischen Opernhaus spielen und bot Campra damit die Gelegenheit, über weite Strecken im pseudo-italienischen Stil zu komponieren:

    5. MUSIK: III,5 "Lungi da me” CD2 <16> 2:45
    Euridice: Sarah Tynan (Sopran)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung


    Die Neue Platte im Deutschlandfunk. Wir stellten Ihnen heute die hervorragende Ersteinspielung des Opera ballet "Le Carnaval de Venise" von André Campra vor: eine gelungene Aufnahme mit nur kleinen Einschränkungen, die Lust macht, dieses vor Ideen nur so sprühende Werk auf einer Bühne zu erleben. Die musikalische Gesamtleitung hat Hervé Niquet. Diese Produktion erschien jetzt beim spanischen Label Glossa.
    Im Studio verabschiedet sich Sabine Radermacher und wünscht noch einen schönen Sonntagmorgen.

    Musikliste

    André Campra: Le Carnaval de Venise
    Opéra ballet
    Le Concert Spirituel
    Leitung: Hervé Niquet
    Label: Glossa
    Labelcode: 00690
    Bestellnummer: GCD 921622
    EAN: 8 424562 91622 4

    1. MUSIK: Ouverture + I,1 "Hastez-vous” CD1<1-2> 3'06"
    L'Ordonnateur: Luigi di Donato (Bass)
    Choeurs et Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung

    2. MUSIK: I,2 "Dans ce beau jour” CD1 <18> 2:24
    Isabelle: Salomé Haller (Sopran)
    Léonore: Marina de Liso (Mezzosopran)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung

    3. MUSIK: II,1 "Vous qui ne souffrez point” CD1 <24+25> 3'58
    Léonore: Marina de Liso (Mezzosopran)
    Rodolphe: Andrew Foster-Williams (Bass)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung

    4. MUSIK: II,3 Marche de la Fortune CD1 <27> 2:27
    Choeur et Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung

    5. MUSIK: III,5 "Lungi da me” CD2 <16> 2:45
    Euridice: Sarah Tynan (Sopran)
    Orchestre du Concert Spirituel
    Hervé Niquet, Leitung