Frank Bsirske: So weit möchte ich eigentlich nicht gehen. Es ist ein Indiz dafür, dass hier doch ausgesprochen unterschiedliche Interessen aufeinander getroffen sind. Und es ist sicherlich enttäuschend, dass hier das vorläufige Scheitern der Kommission zu registrieren ist. Ich sage bewusst "vorläufig", denn ich bin sicher, an diesem Thema muss weiter und wieder gearbeitet werden. Wir werden sicherlich auch einen neuen Anlauf brauchen, einen Anlauf, der dann vielleicht für die beamtenpolitische Seite und das Thema des Ladenschlusses auch noch mal zum Überdenken von Positionen führt, aber insgesamt sicherlich zu einer Neuordnung der Zuständigkeiten und Kompetenzen und einer klareren Abgrenzung zwischen den Kompetenzen von Bund und Ländern führen sollte.
Finthammer: Aber muss man jetzt nicht fürchten, dass der Versuch durch dieses Scheitern nicht wieder auf die lange Bank geschoben wird, dass jetzt die Traute fehlt, das Thema noch mal offensiv anzugehen?
Bsirske: Ich würde mir das nicht wünschen, denn wir brauchen eine Klärung und wir brauchen auch eine Verständigung im Bereich der Bildungspolitik vor dem Hintergrund dessen, was in Europa passiert. Und da kommt einem koordinierten Auftreten der Bundesrepublik, einem koordinierten Auftreten zwischen Bund und Ländern sicherlich auch eine wichtige Bedeutung für die Zukunft zu, allemal auch deswegen, weil das Bildungspolitik-Thema eines der wichtigsten und bestimmenden Themen sein muss. Also, ich würde mir wünschen, dass hier in absehbarer Zeit noch mal ein neuer Anlauf gemacht wird.
Finthammer: In einem Punkt könnten Sie persönlich oder Ihre Gewerkschaft ja vielleicht sogar froh sein: Die Reform wollte ja das Beamtenrecht künftig den Ländern anheim stellen, die nach einer Auflösung trachten. Davon kann jetzt ja keine Rede mehr sein. Ist das ein Punkt, über den Sie froh sind?
Bsirske: Das ist sicherlich ein Punkt, über den ich nicht unglücklich bin. Und deswegen hatte ich vorhin auch gesagt, dass bei einem Neuanlauf auch das, was da Gegenstand der Verständigung gewesen ist, noch einmal überdacht werden sollte. Worum geht es in der Sache? Es geht darum, dass ein Rückfall in Kleinstaaterei droht, die Bandbreite der Regelungen im Besoldungsrecht sehr weit auseinander gehen würde, wenn es zu einer kompletten Delegation von Aufgabenverantwortung auf die Länder beim Besoldungs- und Versorgungsrecht käme. Man muss ja sehen, dass mit den Vorschlägen, die von ver.di, dem Beamtenbund und dem Bundesinnenminister zur Reform des Beamtenrechts gemacht worden sind, bereits eine Bandbreite von 20 Prozent Besoldungsunterschied eröffnet wäre. Und das schien offensichtlich einigen Ministerpräsidenten immer noch nicht ausreichend genug. Sie wollten darüber hinaus föderale Zuständigkeiten. Und das muss natürlich insbesondere aus der Perspektive finanzschwächerer Länder, aus der Perspektive insbesondere auch der ostdeutschen Länder misstrauisch machen, denn Gehaltsbänder, die um 30 Prozent zwischen benachbarten Bundesländern differieren, die lösen natürlich auch schon unterschiedliche Attraktivität aus für die Wahl des Standortes, lösen eine Wanderungsbewegung aus von qualifizierten Kräften in das Nachbarland, wo so deutlich höhere Löhne und Vergütungen gezahlt werden. Und ob das im Sinne des Erfinders sein kann und im Sinne der finanzschwächeren, kleineren Bundesländer, daran habe ich doch große Zweifel.
Finthammer: Herr Bsirske, das letzte Wochenende vor Weihnachten brachte ja in einigen politischen Feldern wichtige Entscheidungen. Die Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben den Weg frei gemacht für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Begrüßen Sie diesen Schritt?
Bsirske: Ja, auch wenn im Detail sehr viele Fragen noch offen sind. Wir haben sehr viele türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande, wir haben eine Türkei, die eine wichtige Brücke auch zu den arabischen Staaten darstellt, die sich Europa zugewandt hat. Und ich glaube, es macht durchaus Sinn, ernsthaft auszuverhandeln, ob eine Integration dieses Landes und seiner Menschen in eine erweiterte Europäische Union Sinn macht. Da sind viele Fragen zu klären, aber ich glaube, es lohnt, diesen Fragen nachzugehen.
Finthammer: Schauen wir da noch mal genauer hin. Nun gibt es ja gerade in Blick auf die Türkei viele Ängste, Sorgen und Vorbehalte, die bis in tief greifende kulturelle und religiöse Wurzel hineinreichen. Glauben Sie, dass da ein wirklicher Annäherungsprozess in den nächsten 10 oder 15 Jahren überhaupt stattfinden kann?
Bsirske: Die kulturellen Unterschiedes sind sicherlich sehr groß. Und ob wir über einen Zeitraum von 10 Jahren bei der Frage der Integration sprechen, das erscheint mir auch zweifelhaft. Die Frage ist ja, ob der zeitliche Bogen nicht doch weiter gespannt werden muss, aber die Sache selbst - der Grundsatz, um den geht's eben jetzt, und es geht um die Ausgestaltung dann auch der Regelungen im Detail, und ich glaube, es ist richtig, dass diese Frage jetzt angepackt wird.
Finthammer: Aber muss man nicht fürchten, dass gerade aus politisch ökonomischen Interessen diese kulturellen und religiösen Schwierigkeiten und Differenzen übertüncht werden sollen?
Bsirske: Auszuschließen ist an diesem Punkt nichts. Aber um so mehr, glaube ich, lohnt es, es auszuloten und genau hinzugucken und die Bedingungen zu klären, unter denen eine Integration dieses Landes in die Europäische Union gelingen kann.
Finthammer: Gespräche sollen ja ergebnisoffen sein. Wären Sie auch mit einem Scheitern einverstanden, mit der entsprechenden Begründung natürlich?
Bsirske: Nun, wenn man auf die zurückliegenden Jahre schaut, dann ist ja für den Demokratisierungsprozess in der Türkei selbst, für die Verankerung gewerkschaftlicher Rechte, auch für eine kulturelle Öffnung in diesem Land die Frage der Integration in die Europäische Union ein ganz, ganz wichtiger Faktor gewesen. Die Aussicht, in die Europäische Union hineinzukommen, hat hier auch die Bereitschaft deutlich gefördert, demokratische Rechte im Lande zuzulassen. Diesen Prozess - denke ich - sollte man fördern. Und insofern spricht auch von der innertürkischen Seite viel dafür, aus Sicht der arbeitenden Menschen - sage ich mal - diesen Prozess auszuloten und nicht zum Scheitern zu bringen. Ob das dann gelingt, bleibt abzuwarten. Wenn die Frage der demokratischen Rechte und der Schutz von Minderheiten nicht geklärt wird, das ist ja deutlich geworden, wenn die Frage von Zypern nicht im gemeinsamen Sinne geklärt werden kann, dann wird es keine Integration dieses Landes in die Europäische Union geben können. Aber das auszuloten, das macht - glaube ich - doch Sinn.
Finthammer: Gehen wir zurück zu innenpolitischen Ereignissen und einem, das auch kurz vor diesem Wochenende vollzogen wurde: Ihren tarifpolitischen Entscheidungen, die Sie mit der Großen Tarifkommission von ver.di in Kassel getroffen haben. Von radikalen Forderungen - ich denke da mal an die sechs Prozent von 2002 - ist ja nun wirklich gar keine Rede mehr. Im Gegenteil, Sie wollen noch nicht einmal den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst kündigen. Ist das angesichts von leeren Kassen der öffentlichen Haushalte der neue handzahme Kurs von ver.di, oder worum geht es Ihnen dabei?
Bsirske: Nun, bei dem letzten Tarifabschluss vom Januar 2003 hatten wir uns ja verständigt darauf, das Projekt einer umfassenden Tarifrechtsreform in Angriff zu nehmen. Nicht aus taktischen Gründen, sondern weil beide Seiten, sowohl die Arbeitgeberseite, als auch wir - ver.di - davon überzeugt sind, dass eine Tarifrechtsreform notwendig ist und Sinn macht. Und bei dieser Reform geht es ja um die Neuordnung sowohl der Arbeitsbedingungen, der Arbeitszeitbestimmungen, wie auch der Lohnfindungsregeln im öffentlichen Dienst, von denen wir ja wissen, dass es praktisch nirgendwo kompliziertere Regeln gibt, als im Tarifrecht des öffentlichen Dienstes, das alleine 17.000 Eingruppierungsmerkmale kennt. Das wollen wir durchschaubarer gestalten, vereinfachen. Wir wollen einheitliche Regeln für Arbeiter und Angestellte schaffen und einen Zustand beenden, der aus der Vergangenheit kommt, je nach Statusgruppe unterschiedlichste Ausstattung, Ausgestaltungen der Arbeitsbedingungen und Entlohnungsbedingungen vorsieht. Also ein ambitioniertes, ehrgeiziges Projekt, das auch ernst gemeint ist und jetzt in Angriff genommen wird ...
Finthammer: . . . wird denn da auch definitiv die Leistungsorientierung im Mittelpunkt stehen?
Bsirske: . . . auch die stärkere Ausprägung leistungsabhängiger Komponenten, die Hereinnahme leistungsabhängiger Bezahlungsbestandteile gehört zu diesem Gesamtpaket. Hier haben wir uns auch schon sehr weitgehend verständigt. Insofern - das war ja der Ausgangspunkt Ihrer Frage - geht es hier nicht um handzahme Gewerkschaft, sondern es geht um die Umsetzung eines Projektes, das beide Seiten für notwendig halten und das ohne die Verbindung zur Tarifrunde überhaupt nicht angepackt werden kann.
Finthammer: Die Arbeitgeber haben die klare Absicht, zur 42-Stundenwoche zurückzukehren, wie sie das bei den Beamten teilweise schon vorexerzieren oder vorexerzieren wollen. Ist die 42-Stundenwoche für Sie ein Tabu?
Bsirske: Ich halte die Einführung der 42-Stundenwoche für blanken Unsinn und für das Falscheste, das man in der gegenwärtigen Situation tun muss - einer Situation, die ja geprägt ist durch 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Und das war Herr Koch, der sich in die Öffentlichkeit gestellt hat und die Einführung der 42-Stundenwoche für die Beamten im Land Hessen mit dem Hinweis versehen hat, dass nun im Beamtenbereich 7.500 Arbeitsplätze eingespart werden könnten. Rechnet man das auf den Tarifbereich um, dann reden wir über 150.000 Arbeitsplätze, die bei den Ländern wegfallen würden. Und rechnet man das auf den gesamten öffentlichen Dienst um, dann würde eine 10-prozentige Arbeitszeitverlängerung zwischen 400.000 und 500.000 Arbeitsplätze kosten.
Finthammer: Aber muss man die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst nicht doch ein Stück weit anders bewerten als in der privaten Wirtschaft? Natürlich gibt es die Produktivitätsgewinne, die sind auch gesucht, die sind gewollt. Aber die Argumente der Gegenseite lautet ja auch, dass es langfristig dennoch ein Weg ist, um Arbeitsplätze zu sichern - ob der begrenzten finanziellen Ressourcen der öffentlichen Haushalte.
Bsirske: Es ist eine eigentümliche Logik, die Arbeitsplätze zu sichern, indem man Hunderttausende davon streicht und wegfallen lässt. Natürlich haben wir ein Finanzierungsproblem auf der Länderseite, freilich eines, das in hohem Maße von der Arbeitgeberseite und vom Gesetzgeber selbst herbeigeführt worden ist. Denken Sie nur an die Unternehmenssteuerreform, die Steuereinnahmen in der Größenordnung zwischen 60 und 70 Milliarden Euro alleine in den Jahren 2001 bis 2003 gekostet hat. Das ist natürlich Geld, das dann für gesellschaftliche Aufgaben fehlt. Und eine Verknappung der öffentlichen Einnahmen herbeizuführen, um es anschließend als Argument einzusetzen gegen die Beschäftigten, und darauf hinzuweisen, dass nun die öffentlichen Haushalte klamm sind, das ist eine Logik, mit der man im Prinzip gewissermaßen immer wieder von neuem den Handlungsdruck auf Lohnkürzungen selbst schaffen kann. Und dieser Logik - denke ich - muss man sich entziehen, wenn man eine langfristige und mittelfristige Perspektive der Sicherung von Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gewährleisten will. Was also wäre die Alternative? Aus meiner Sicht eine bessere staatliche Finanzausstattung darüber zu gewährleisten, dass die starken Schultern in der Gesellschaft auch größere Lasten tragen müssen als die schwachen Schultern in der Gesellschaft. Und da sind wir bei solchen Themen wie der Besteuerung großer Vermögen wie Erbschaften. Wir sind bei der Besteuerung von Unternehmen, wo die Bundesrepublik in den letzten Jahren jedenfalls Motor der Steuersenkung, und nicht etwa Getriebener der Steuersenkung im Unternehmenssteuerbereich war und wo wir mittlerweile die niedrigste beziehungsweise zweitniedrigste Steuerquote aller Industriestaaten in der Bundesrepublik aufweisen.
Finthammer: Stellen wir diesen tarifpolitischen Forderungen mal die tarifpolitische Realität des vergangenen Jahres gegenüber. Die Gewerkschaften haben im ablaufenden Jahr ihre Tarifpolitik überwiegend in und aus der Defensive geführt, sagt das gewerkschaftsnahe WSI-Institut. Der Anfang wurde in der Metall- und Elektroindustrie gemacht - mit Zugeständnissen bei Löhnen und bei der Arbeitszeit. Andere Branchen folgten. Der Trend zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik geht in jedem Fall weiter. Und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt lobt schon den wachsenden Pragmatismus der Gewerkschaften. Müssen Sie nicht Arbeitsplatzsicherung unter schlechteren Bedingungen als den gegenwärtig einzigen tarifpolitischen Erfolg des abgelaufenen Jahres beschreiben?
Bsirske: Wir haben ja mit dem Blick auf den öffentlichen Dienst gerade darüber geredet, dass sich die Situation durchaus unterschiedlich darstellt. Mit dem Projekt einer umfassenden Tarifrechtsreform betreiben wir aktiv Gestaltung, und zwar Gestaltung der Zukunft . . .
Finthammer: . . . aber die hat zum Beispiel die Metall- und Elektroindustrie auch schon hinter sich gebracht mit den neuen Strukturen, wo Arbeiter und Angestellte angeglichen worden sind, was ja auch ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Reform ist - was die Metallarbeitgeber nicht daran gehindert hat, deutliche Zugeständnisse der letzten Tarifrunde zu fordern.
Bsirske: Ja, wir gehen an diesem Punkt jetzt an die Initiative, und zwar nicht reaktiv, sondern aktiv gestaltend. Und ich glaube, auch das gehört zur Wirklichkeit des Jahres 2004. Und auf der anderen Seite haben Sie vollkommen recht. In diesem Jahr hat das Thema Sicherung eine zentrale Rolle gespielt. Wir haben ja unterschiedlichste Regelungen erlebt im Verlaufe dieses Jahres. In unserem Organisationsbereich bei ver.di beispielsweise die Regelung der Telekom, wo Arbeitszeitverkürzung mit Teillohn-Ausgleich mehrere zehntausend Arbeitsplätze gesichert hat - aus meiner Sicht ein Erfolg gemeinsamer Verhandlungen. Und dann haben wir zugleich in anderen Bereichen Abschlüsse, die im Prinzip zu nachgehenden betrieblichen Runden geführt haben und den Flächentarifvertrag unter Druck gebracht haben, so wie Sie das völlig zutreffend beschreiben. Also, ein buntes Bild, ein differenziertes Bild der Tarifentwicklung im Jahre 2004.
Finthammer: Bleibt das Bild auch bunt und differenziert, wenn wir es mal auf die politische Ebene weiter drehen? Noch im Frühjahr 2004 wollten Sie den Kanzler der rot-grünen Bundesregierung das Fürchten lehren. 600.000 Demonstranten im April, das war eine sehr stattliche Zahl, in der Tat. Doch die Energie, die Sie daraus ziehen wollten, hat sich im Laufe des Jahres nicht umsetzen können. Hartz IV ist in den wesentlichen Grundzügen nicht geändert worden. Die Debatte um den Ausbildungspakt haben Sie nicht verhindern können - beziehungsweise den Ausbildungspakt haben Sie nicht verhindern können. Die Mindestlohnregelungen sind gescheitert. Kurz: Alle politischen Projekte des Jahres, mit denen sich die Gewerkschaften in der Auseinandersetzung noch stark identifiziert haben, sind ja, nüchtern betrachtet, mehr oder weniger auf der Strecke geblieben.
Bsirske: Ich würde nicht so weit gehen wie Sie, hier eine Null-Bilanz gewissermaßen aufzumachen. Wenn wir das Thema der Demonstration von Anfang April im Verlauf des Jahres dann weiter verfolgen, dann ist gewissermaßen der Ball ja wieder aufgenommen worden mit den Montagsdemonstrationen in den neuen Bundesländern, die doch in dieser Breite und auch Beteiligung - ich glaube - nicht nur die Presse überrascht haben, sondern auch die politisch Verantwortlichen. Dass jemand, wie der sächsische Ministerpräsident derart durcheinander ist, dass er sagt, er wolle sich dann doch wohl beteiligen an den Demonstrationen gegen Hartz IV, und anschließend von seiner Partei schwere Prügel bezieht, ist ja ein Indiz dafür, dass hier auch Wirkung erzielt worden ist in die Öffentlichkeit hinein bei der Beeinflussung des öffentlichen Klimas und auch bei den materiellen Wirkungen. Immerhin war ja von der Bundesregierung beabsichtigt, einen Monat lang überhaupt keine Zahlungen vorzunehmen, und das hätte für Hunderttausende von Menschen bedeutet einen Ausfall der Unterstützungszahlungen für einen Monat, dass hier ein Erfolg zu verzeichnen war insofern, als dann doch jetzt dieser Monat gezahlt wird. Das schreibe ich der Haben-Seite von den Demonstrationen zugute. Das ist das Thema Hartz IV . . .
Finthammer: . . . aber ist da nicht doch ein riesiges Ungleichgewicht zwischen Haben- und Sollseite, was man in diesem Jahr verzeichnen muss?
Bsirske: Das ist sicherlich keine wirklich euphorisch zu nehmende Bilanz, keine Frage. Wir sind mitten in einer auf längerer Distanz - zeitlicher Distanz - angelegten gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in einer Umbruchssituation gewissermaßen, wo es starke Kräfte gibt, die die Uhr rückwärts laufen lassen wollen. Hier gegenzusteuern, das ist die Aufgabe aller, die sich für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft einsetzen. Das ist keine leichte Aufgabe, und das ist vor allen Dingen keine Aufgabe, die in einer Demonstration gewissermaßen zu einem durchschlagenden Erfolg führt. Wenn Sie darauf hinweisen, haben Sie vollkommen recht. Auf der anderen Seite geht es darum, um Themen zu ringen, auch Handlungsbedarfe zu identifizieren. Und Sie haben ja soeben das Thema "Mindestlohn" angesprochen. Hier haben wir ja doch eine Entwicklung verzeichnen können, die aus der Perspektive des beginnenden Jahres 2004 durchaus überraschend gewesen ist. Bis dahin war die Notwendigkeit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes überhaupt kein Thema. Und ich glaube, dass im Verlaufe diesen Jahres deutlich geworden ist - deutlicher geworden ist für viele Menschen -, welchen Handlungsbedarf es auf diesem Feld in unserer Gesellschaft gibt, weil die Löhne in den freien Fall zu geraten drohen, auch durch Hartz IV, durch neue Zumutbarkeitsregeln, durch die so genannte Dienstleistungsfreizügigkeit in der EU, und hier besteht Handlungsbedarf.
Finthammer: Aber am Ende wurde der Mindestlohn auf die lange Bank geschoben.
Bsirske: Am Ende hat man sich zunächst mal nicht darauf verständigen können, noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen zu können und zu wollen. Ja - aber der Geist, der Geist ist aus der Flasche. Das Thema des Mindestlohnes wird Thema bleiben, und dieser Geist wird nicht in die Flasche zurückkommen. Dazu wollen wir beitragen im Interesse all der Menschen, die an der Armutsgrenze arbeiten und der Gefahr ausgesetzt sind, dass Arbeit arm macht - eine gesellschaftliche Situation, die wir nicht zulassen wollen, die aber genau auf der Tagesordnung steht, wenn man für eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Bruttolohn von 800, 850 oder 860 Euro rechnen muss, so wie das in vielen Branchen der Fall ist.
Finthammer: "Das Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften ist kaputt", sagt der Frankfurter Gewerkschaftsforscher Josef Esser. Die Gewerkschaften wüssten nur noch nicht, wie sie mit dieser "schleichenden Scheidung" umgehen sollten. Gibt es denn für Sie, Herr Bsirske, überhaupt noch gesellschaftspolitische Themen, von denen Sie sagen könnten: "Da ziehen wir mit der rot-grünen Bundesregierung auch künftig noch an einen Strang"?
Bsirske: Die Bürgerversicherung ist so ein Thema. Wenn die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin völlig zu recht das Thema einer stärkeren Besteuerung großer Erbschaften aufwirft, ist das ein solches Thema. Das Thema der Bildungspolitik, der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Ausweitung vorschulischer öffentlicher Kinderbetreuung, Betreuungsangebote, ist ein solches Thema. Und ich bin sicher, das Thema des Mindestlohnes wird ein solches Thema bleiben. Also, bei allen Differenzen, die es in Sachen Hartz IV und Agenda 2010 gibt, gibt es sehr wohl Themen, die gemeinsam zu konkretisieren sich mit Rot-Grün und mit Gewerkschaften lohnt.
Finthammer: Die Bundesregierung rechnet zum Jahreswechsel mit einem reibungslosen Übergang zum neuen Arbeitslosengeld. Wie sehen denn Ihre nächsten Schritte in Blick auf die Arbeitsmarktreform aus? Planen Sie weitere Proteste, oder hoffen Sie auf ein Einlenken der Regierung, die ja zu Gesprächen Anfang Februar bereit sein will?
Bsirske: Nun, die Regierung hat sich da ja sehr eindeutig positioniert. Sie hat erklärt, sie will gewählt werden nicht trotz Hartz IV, sondern wegen Hartz IV. Härter kann man es ja nicht formulieren. Insofern ist nicht damit zu rechnen, dass beim Kanzleramt oder in der Regierung darüber nachgedacht wird, kurzfristige Änderungen vorzunehmen. Ich bin auf der anderen Seite sicher, dass die Menschen ernüchtert sein werden, wenn sie sehen, was ab Anfang des Jahres passiert., weil Hunderttausenden von Menschen damit rechnen müssen, dass sie überhaupt keine Leistungen mehr beziehen, nachdem die Arbeitslosenhilfe gestrichen ist. Und hinzu kommen die neuen Zumutbarkeitsregeln, die es ermöglichen, Arbeitslosengeldempfänger Arbeitsplätze zuzuweisen für Löhne, die noch 30 Prozent unter dem ortsüblichen Lohn liegen. Das ist genau das Thema von Arbeit, die arm zu machen droht. Und das wird auf Widerstand stoßen in der Gesellschaft. Und das schreit danach, verlangt danach, dass hier Leitplanken eingezogen werden, die den freien Fall der Löhne die Verarmungsprozesse in der Gesellschaft verhindern.
Finthammer: Morgen will sich die Wahlalternative "Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" zum Ergebnis der Urabstimmung über die Parteigründung äußern. Schaut man auf deren programmatische Grundlagen, dann findet man viele Punkte, die sich mit Ihren Forderungen eigentlich überschneiden. Lassen Sie das Bündnis künftig weiterhin links liegen?
Bsirske: Wir arbeiten mit Parteien im demokratischen Spektrum an unterschiedlichsten Punkten zusammen und sind umgedreht nicht verlängerter Arm irgendeiner Partei. Diese Linie werden wir beibehalten. Wir sind parteipolitisch unabhängig, allerdings in den politischen Themen nicht neutral, sondern dem Anliegen unserer Mitglieder verpflichtet. Das wollen wir auch in Zukunft zur Sprache bringen und werden gucken, wo wir für diese Anliegen Bündnispartner in der Gesellschaft finden.
Finthammer: Heißt das etwa in Blick auf 2006, dass Rot-Grün möglicherweise ohne Ihre Unterstützung, ohne Ihre aktive Unterstützung wird auskommen müssen?
Bsirske: Wir haben einen kritisch konstruktiven Dialog mit der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Politik in den letzten Monaten gepflegt. Das werden wir fortsetzen und fortsetzen müssen, weil Kritik notwendig ist dort, wo eine Politik gemacht wird, die die Lasten sozial höchst einseitig verteilt und in ihrer ökonomischen Wirkung schädlich ist, weil Kaufkraftentzug die Binnenmarktschwäche noch weiter forciert, deren Wirkung unser eigentliches Problem ökonomisch gegenwärtig ist.
Finthammer: Aber muss man jetzt nicht fürchten, dass der Versuch durch dieses Scheitern nicht wieder auf die lange Bank geschoben wird, dass jetzt die Traute fehlt, das Thema noch mal offensiv anzugehen?
Bsirske: Ich würde mir das nicht wünschen, denn wir brauchen eine Klärung und wir brauchen auch eine Verständigung im Bereich der Bildungspolitik vor dem Hintergrund dessen, was in Europa passiert. Und da kommt einem koordinierten Auftreten der Bundesrepublik, einem koordinierten Auftreten zwischen Bund und Ländern sicherlich auch eine wichtige Bedeutung für die Zukunft zu, allemal auch deswegen, weil das Bildungspolitik-Thema eines der wichtigsten und bestimmenden Themen sein muss. Also, ich würde mir wünschen, dass hier in absehbarer Zeit noch mal ein neuer Anlauf gemacht wird.
Finthammer: In einem Punkt könnten Sie persönlich oder Ihre Gewerkschaft ja vielleicht sogar froh sein: Die Reform wollte ja das Beamtenrecht künftig den Ländern anheim stellen, die nach einer Auflösung trachten. Davon kann jetzt ja keine Rede mehr sein. Ist das ein Punkt, über den Sie froh sind?
Bsirske: Das ist sicherlich ein Punkt, über den ich nicht unglücklich bin. Und deswegen hatte ich vorhin auch gesagt, dass bei einem Neuanlauf auch das, was da Gegenstand der Verständigung gewesen ist, noch einmal überdacht werden sollte. Worum geht es in der Sache? Es geht darum, dass ein Rückfall in Kleinstaaterei droht, die Bandbreite der Regelungen im Besoldungsrecht sehr weit auseinander gehen würde, wenn es zu einer kompletten Delegation von Aufgabenverantwortung auf die Länder beim Besoldungs- und Versorgungsrecht käme. Man muss ja sehen, dass mit den Vorschlägen, die von ver.di, dem Beamtenbund und dem Bundesinnenminister zur Reform des Beamtenrechts gemacht worden sind, bereits eine Bandbreite von 20 Prozent Besoldungsunterschied eröffnet wäre. Und das schien offensichtlich einigen Ministerpräsidenten immer noch nicht ausreichend genug. Sie wollten darüber hinaus föderale Zuständigkeiten. Und das muss natürlich insbesondere aus der Perspektive finanzschwächerer Länder, aus der Perspektive insbesondere auch der ostdeutschen Länder misstrauisch machen, denn Gehaltsbänder, die um 30 Prozent zwischen benachbarten Bundesländern differieren, die lösen natürlich auch schon unterschiedliche Attraktivität aus für die Wahl des Standortes, lösen eine Wanderungsbewegung aus von qualifizierten Kräften in das Nachbarland, wo so deutlich höhere Löhne und Vergütungen gezahlt werden. Und ob das im Sinne des Erfinders sein kann und im Sinne der finanzschwächeren, kleineren Bundesländer, daran habe ich doch große Zweifel.
Finthammer: Herr Bsirske, das letzte Wochenende vor Weihnachten brachte ja in einigen politischen Feldern wichtige Entscheidungen. Die Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben den Weg frei gemacht für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Begrüßen Sie diesen Schritt?
Bsirske: Ja, auch wenn im Detail sehr viele Fragen noch offen sind. Wir haben sehr viele türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande, wir haben eine Türkei, die eine wichtige Brücke auch zu den arabischen Staaten darstellt, die sich Europa zugewandt hat. Und ich glaube, es macht durchaus Sinn, ernsthaft auszuverhandeln, ob eine Integration dieses Landes und seiner Menschen in eine erweiterte Europäische Union Sinn macht. Da sind viele Fragen zu klären, aber ich glaube, es lohnt, diesen Fragen nachzugehen.
Finthammer: Schauen wir da noch mal genauer hin. Nun gibt es ja gerade in Blick auf die Türkei viele Ängste, Sorgen und Vorbehalte, die bis in tief greifende kulturelle und religiöse Wurzel hineinreichen. Glauben Sie, dass da ein wirklicher Annäherungsprozess in den nächsten 10 oder 15 Jahren überhaupt stattfinden kann?
Bsirske: Die kulturellen Unterschiedes sind sicherlich sehr groß. Und ob wir über einen Zeitraum von 10 Jahren bei der Frage der Integration sprechen, das erscheint mir auch zweifelhaft. Die Frage ist ja, ob der zeitliche Bogen nicht doch weiter gespannt werden muss, aber die Sache selbst - der Grundsatz, um den geht's eben jetzt, und es geht um die Ausgestaltung dann auch der Regelungen im Detail, und ich glaube, es ist richtig, dass diese Frage jetzt angepackt wird.
Finthammer: Aber muss man nicht fürchten, dass gerade aus politisch ökonomischen Interessen diese kulturellen und religiösen Schwierigkeiten und Differenzen übertüncht werden sollen?
Bsirske: Auszuschließen ist an diesem Punkt nichts. Aber um so mehr, glaube ich, lohnt es, es auszuloten und genau hinzugucken und die Bedingungen zu klären, unter denen eine Integration dieses Landes in die Europäische Union gelingen kann.
Finthammer: Gespräche sollen ja ergebnisoffen sein. Wären Sie auch mit einem Scheitern einverstanden, mit der entsprechenden Begründung natürlich?
Bsirske: Nun, wenn man auf die zurückliegenden Jahre schaut, dann ist ja für den Demokratisierungsprozess in der Türkei selbst, für die Verankerung gewerkschaftlicher Rechte, auch für eine kulturelle Öffnung in diesem Land die Frage der Integration in die Europäische Union ein ganz, ganz wichtiger Faktor gewesen. Die Aussicht, in die Europäische Union hineinzukommen, hat hier auch die Bereitschaft deutlich gefördert, demokratische Rechte im Lande zuzulassen. Diesen Prozess - denke ich - sollte man fördern. Und insofern spricht auch von der innertürkischen Seite viel dafür, aus Sicht der arbeitenden Menschen - sage ich mal - diesen Prozess auszuloten und nicht zum Scheitern zu bringen. Ob das dann gelingt, bleibt abzuwarten. Wenn die Frage der demokratischen Rechte und der Schutz von Minderheiten nicht geklärt wird, das ist ja deutlich geworden, wenn die Frage von Zypern nicht im gemeinsamen Sinne geklärt werden kann, dann wird es keine Integration dieses Landes in die Europäische Union geben können. Aber das auszuloten, das macht - glaube ich - doch Sinn.
Finthammer: Gehen wir zurück zu innenpolitischen Ereignissen und einem, das auch kurz vor diesem Wochenende vollzogen wurde: Ihren tarifpolitischen Entscheidungen, die Sie mit der Großen Tarifkommission von ver.di in Kassel getroffen haben. Von radikalen Forderungen - ich denke da mal an die sechs Prozent von 2002 - ist ja nun wirklich gar keine Rede mehr. Im Gegenteil, Sie wollen noch nicht einmal den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst kündigen. Ist das angesichts von leeren Kassen der öffentlichen Haushalte der neue handzahme Kurs von ver.di, oder worum geht es Ihnen dabei?
Bsirske: Nun, bei dem letzten Tarifabschluss vom Januar 2003 hatten wir uns ja verständigt darauf, das Projekt einer umfassenden Tarifrechtsreform in Angriff zu nehmen. Nicht aus taktischen Gründen, sondern weil beide Seiten, sowohl die Arbeitgeberseite, als auch wir - ver.di - davon überzeugt sind, dass eine Tarifrechtsreform notwendig ist und Sinn macht. Und bei dieser Reform geht es ja um die Neuordnung sowohl der Arbeitsbedingungen, der Arbeitszeitbestimmungen, wie auch der Lohnfindungsregeln im öffentlichen Dienst, von denen wir ja wissen, dass es praktisch nirgendwo kompliziertere Regeln gibt, als im Tarifrecht des öffentlichen Dienstes, das alleine 17.000 Eingruppierungsmerkmale kennt. Das wollen wir durchschaubarer gestalten, vereinfachen. Wir wollen einheitliche Regeln für Arbeiter und Angestellte schaffen und einen Zustand beenden, der aus der Vergangenheit kommt, je nach Statusgruppe unterschiedlichste Ausstattung, Ausgestaltungen der Arbeitsbedingungen und Entlohnungsbedingungen vorsieht. Also ein ambitioniertes, ehrgeiziges Projekt, das auch ernst gemeint ist und jetzt in Angriff genommen wird ...
Finthammer: . . . wird denn da auch definitiv die Leistungsorientierung im Mittelpunkt stehen?
Bsirske: . . . auch die stärkere Ausprägung leistungsabhängiger Komponenten, die Hereinnahme leistungsabhängiger Bezahlungsbestandteile gehört zu diesem Gesamtpaket. Hier haben wir uns auch schon sehr weitgehend verständigt. Insofern - das war ja der Ausgangspunkt Ihrer Frage - geht es hier nicht um handzahme Gewerkschaft, sondern es geht um die Umsetzung eines Projektes, das beide Seiten für notwendig halten und das ohne die Verbindung zur Tarifrunde überhaupt nicht angepackt werden kann.
Finthammer: Die Arbeitgeber haben die klare Absicht, zur 42-Stundenwoche zurückzukehren, wie sie das bei den Beamten teilweise schon vorexerzieren oder vorexerzieren wollen. Ist die 42-Stundenwoche für Sie ein Tabu?
Bsirske: Ich halte die Einführung der 42-Stundenwoche für blanken Unsinn und für das Falscheste, das man in der gegenwärtigen Situation tun muss - einer Situation, die ja geprägt ist durch 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Und das war Herr Koch, der sich in die Öffentlichkeit gestellt hat und die Einführung der 42-Stundenwoche für die Beamten im Land Hessen mit dem Hinweis versehen hat, dass nun im Beamtenbereich 7.500 Arbeitsplätze eingespart werden könnten. Rechnet man das auf den Tarifbereich um, dann reden wir über 150.000 Arbeitsplätze, die bei den Ländern wegfallen würden. Und rechnet man das auf den gesamten öffentlichen Dienst um, dann würde eine 10-prozentige Arbeitszeitverlängerung zwischen 400.000 und 500.000 Arbeitsplätze kosten.
Finthammer: Aber muss man die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst nicht doch ein Stück weit anders bewerten als in der privaten Wirtschaft? Natürlich gibt es die Produktivitätsgewinne, die sind auch gesucht, die sind gewollt. Aber die Argumente der Gegenseite lautet ja auch, dass es langfristig dennoch ein Weg ist, um Arbeitsplätze zu sichern - ob der begrenzten finanziellen Ressourcen der öffentlichen Haushalte.
Bsirske: Es ist eine eigentümliche Logik, die Arbeitsplätze zu sichern, indem man Hunderttausende davon streicht und wegfallen lässt. Natürlich haben wir ein Finanzierungsproblem auf der Länderseite, freilich eines, das in hohem Maße von der Arbeitgeberseite und vom Gesetzgeber selbst herbeigeführt worden ist. Denken Sie nur an die Unternehmenssteuerreform, die Steuereinnahmen in der Größenordnung zwischen 60 und 70 Milliarden Euro alleine in den Jahren 2001 bis 2003 gekostet hat. Das ist natürlich Geld, das dann für gesellschaftliche Aufgaben fehlt. Und eine Verknappung der öffentlichen Einnahmen herbeizuführen, um es anschließend als Argument einzusetzen gegen die Beschäftigten, und darauf hinzuweisen, dass nun die öffentlichen Haushalte klamm sind, das ist eine Logik, mit der man im Prinzip gewissermaßen immer wieder von neuem den Handlungsdruck auf Lohnkürzungen selbst schaffen kann. Und dieser Logik - denke ich - muss man sich entziehen, wenn man eine langfristige und mittelfristige Perspektive der Sicherung von Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gewährleisten will. Was also wäre die Alternative? Aus meiner Sicht eine bessere staatliche Finanzausstattung darüber zu gewährleisten, dass die starken Schultern in der Gesellschaft auch größere Lasten tragen müssen als die schwachen Schultern in der Gesellschaft. Und da sind wir bei solchen Themen wie der Besteuerung großer Vermögen wie Erbschaften. Wir sind bei der Besteuerung von Unternehmen, wo die Bundesrepublik in den letzten Jahren jedenfalls Motor der Steuersenkung, und nicht etwa Getriebener der Steuersenkung im Unternehmenssteuerbereich war und wo wir mittlerweile die niedrigste beziehungsweise zweitniedrigste Steuerquote aller Industriestaaten in der Bundesrepublik aufweisen.
Finthammer: Stellen wir diesen tarifpolitischen Forderungen mal die tarifpolitische Realität des vergangenen Jahres gegenüber. Die Gewerkschaften haben im ablaufenden Jahr ihre Tarifpolitik überwiegend in und aus der Defensive geführt, sagt das gewerkschaftsnahe WSI-Institut. Der Anfang wurde in der Metall- und Elektroindustrie gemacht - mit Zugeständnissen bei Löhnen und bei der Arbeitszeit. Andere Branchen folgten. Der Trend zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik geht in jedem Fall weiter. Und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt lobt schon den wachsenden Pragmatismus der Gewerkschaften. Müssen Sie nicht Arbeitsplatzsicherung unter schlechteren Bedingungen als den gegenwärtig einzigen tarifpolitischen Erfolg des abgelaufenen Jahres beschreiben?
Bsirske: Wir haben ja mit dem Blick auf den öffentlichen Dienst gerade darüber geredet, dass sich die Situation durchaus unterschiedlich darstellt. Mit dem Projekt einer umfassenden Tarifrechtsreform betreiben wir aktiv Gestaltung, und zwar Gestaltung der Zukunft . . .
Finthammer: . . . aber die hat zum Beispiel die Metall- und Elektroindustrie auch schon hinter sich gebracht mit den neuen Strukturen, wo Arbeiter und Angestellte angeglichen worden sind, was ja auch ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Reform ist - was die Metallarbeitgeber nicht daran gehindert hat, deutliche Zugeständnisse der letzten Tarifrunde zu fordern.
Bsirske: Ja, wir gehen an diesem Punkt jetzt an die Initiative, und zwar nicht reaktiv, sondern aktiv gestaltend. Und ich glaube, auch das gehört zur Wirklichkeit des Jahres 2004. Und auf der anderen Seite haben Sie vollkommen recht. In diesem Jahr hat das Thema Sicherung eine zentrale Rolle gespielt. Wir haben ja unterschiedlichste Regelungen erlebt im Verlaufe dieses Jahres. In unserem Organisationsbereich bei ver.di beispielsweise die Regelung der Telekom, wo Arbeitszeitverkürzung mit Teillohn-Ausgleich mehrere zehntausend Arbeitsplätze gesichert hat - aus meiner Sicht ein Erfolg gemeinsamer Verhandlungen. Und dann haben wir zugleich in anderen Bereichen Abschlüsse, die im Prinzip zu nachgehenden betrieblichen Runden geführt haben und den Flächentarifvertrag unter Druck gebracht haben, so wie Sie das völlig zutreffend beschreiben. Also, ein buntes Bild, ein differenziertes Bild der Tarifentwicklung im Jahre 2004.
Finthammer: Bleibt das Bild auch bunt und differenziert, wenn wir es mal auf die politische Ebene weiter drehen? Noch im Frühjahr 2004 wollten Sie den Kanzler der rot-grünen Bundesregierung das Fürchten lehren. 600.000 Demonstranten im April, das war eine sehr stattliche Zahl, in der Tat. Doch die Energie, die Sie daraus ziehen wollten, hat sich im Laufe des Jahres nicht umsetzen können. Hartz IV ist in den wesentlichen Grundzügen nicht geändert worden. Die Debatte um den Ausbildungspakt haben Sie nicht verhindern können - beziehungsweise den Ausbildungspakt haben Sie nicht verhindern können. Die Mindestlohnregelungen sind gescheitert. Kurz: Alle politischen Projekte des Jahres, mit denen sich die Gewerkschaften in der Auseinandersetzung noch stark identifiziert haben, sind ja, nüchtern betrachtet, mehr oder weniger auf der Strecke geblieben.
Bsirske: Ich würde nicht so weit gehen wie Sie, hier eine Null-Bilanz gewissermaßen aufzumachen. Wenn wir das Thema der Demonstration von Anfang April im Verlauf des Jahres dann weiter verfolgen, dann ist gewissermaßen der Ball ja wieder aufgenommen worden mit den Montagsdemonstrationen in den neuen Bundesländern, die doch in dieser Breite und auch Beteiligung - ich glaube - nicht nur die Presse überrascht haben, sondern auch die politisch Verantwortlichen. Dass jemand, wie der sächsische Ministerpräsident derart durcheinander ist, dass er sagt, er wolle sich dann doch wohl beteiligen an den Demonstrationen gegen Hartz IV, und anschließend von seiner Partei schwere Prügel bezieht, ist ja ein Indiz dafür, dass hier auch Wirkung erzielt worden ist in die Öffentlichkeit hinein bei der Beeinflussung des öffentlichen Klimas und auch bei den materiellen Wirkungen. Immerhin war ja von der Bundesregierung beabsichtigt, einen Monat lang überhaupt keine Zahlungen vorzunehmen, und das hätte für Hunderttausende von Menschen bedeutet einen Ausfall der Unterstützungszahlungen für einen Monat, dass hier ein Erfolg zu verzeichnen war insofern, als dann doch jetzt dieser Monat gezahlt wird. Das schreibe ich der Haben-Seite von den Demonstrationen zugute. Das ist das Thema Hartz IV . . .
Finthammer: . . . aber ist da nicht doch ein riesiges Ungleichgewicht zwischen Haben- und Sollseite, was man in diesem Jahr verzeichnen muss?
Bsirske: Das ist sicherlich keine wirklich euphorisch zu nehmende Bilanz, keine Frage. Wir sind mitten in einer auf längerer Distanz - zeitlicher Distanz - angelegten gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in einer Umbruchssituation gewissermaßen, wo es starke Kräfte gibt, die die Uhr rückwärts laufen lassen wollen. Hier gegenzusteuern, das ist die Aufgabe aller, die sich für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft einsetzen. Das ist keine leichte Aufgabe, und das ist vor allen Dingen keine Aufgabe, die in einer Demonstration gewissermaßen zu einem durchschlagenden Erfolg führt. Wenn Sie darauf hinweisen, haben Sie vollkommen recht. Auf der anderen Seite geht es darum, um Themen zu ringen, auch Handlungsbedarfe zu identifizieren. Und Sie haben ja soeben das Thema "Mindestlohn" angesprochen. Hier haben wir ja doch eine Entwicklung verzeichnen können, die aus der Perspektive des beginnenden Jahres 2004 durchaus überraschend gewesen ist. Bis dahin war die Notwendigkeit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes überhaupt kein Thema. Und ich glaube, dass im Verlaufe diesen Jahres deutlich geworden ist - deutlicher geworden ist für viele Menschen -, welchen Handlungsbedarf es auf diesem Feld in unserer Gesellschaft gibt, weil die Löhne in den freien Fall zu geraten drohen, auch durch Hartz IV, durch neue Zumutbarkeitsregeln, durch die so genannte Dienstleistungsfreizügigkeit in der EU, und hier besteht Handlungsbedarf.
Finthammer: Aber am Ende wurde der Mindestlohn auf die lange Bank geschoben.
Bsirske: Am Ende hat man sich zunächst mal nicht darauf verständigen können, noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen zu können und zu wollen. Ja - aber der Geist, der Geist ist aus der Flasche. Das Thema des Mindestlohnes wird Thema bleiben, und dieser Geist wird nicht in die Flasche zurückkommen. Dazu wollen wir beitragen im Interesse all der Menschen, die an der Armutsgrenze arbeiten und der Gefahr ausgesetzt sind, dass Arbeit arm macht - eine gesellschaftliche Situation, die wir nicht zulassen wollen, die aber genau auf der Tagesordnung steht, wenn man für eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Bruttolohn von 800, 850 oder 860 Euro rechnen muss, so wie das in vielen Branchen der Fall ist.
Finthammer: "Das Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften ist kaputt", sagt der Frankfurter Gewerkschaftsforscher Josef Esser. Die Gewerkschaften wüssten nur noch nicht, wie sie mit dieser "schleichenden Scheidung" umgehen sollten. Gibt es denn für Sie, Herr Bsirske, überhaupt noch gesellschaftspolitische Themen, von denen Sie sagen könnten: "Da ziehen wir mit der rot-grünen Bundesregierung auch künftig noch an einen Strang"?
Bsirske: Die Bürgerversicherung ist so ein Thema. Wenn die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin völlig zu recht das Thema einer stärkeren Besteuerung großer Erbschaften aufwirft, ist das ein solches Thema. Das Thema der Bildungspolitik, der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Ausweitung vorschulischer öffentlicher Kinderbetreuung, Betreuungsangebote, ist ein solches Thema. Und ich bin sicher, das Thema des Mindestlohnes wird ein solches Thema bleiben. Also, bei allen Differenzen, die es in Sachen Hartz IV und Agenda 2010 gibt, gibt es sehr wohl Themen, die gemeinsam zu konkretisieren sich mit Rot-Grün und mit Gewerkschaften lohnt.
Finthammer: Die Bundesregierung rechnet zum Jahreswechsel mit einem reibungslosen Übergang zum neuen Arbeitslosengeld. Wie sehen denn Ihre nächsten Schritte in Blick auf die Arbeitsmarktreform aus? Planen Sie weitere Proteste, oder hoffen Sie auf ein Einlenken der Regierung, die ja zu Gesprächen Anfang Februar bereit sein will?
Bsirske: Nun, die Regierung hat sich da ja sehr eindeutig positioniert. Sie hat erklärt, sie will gewählt werden nicht trotz Hartz IV, sondern wegen Hartz IV. Härter kann man es ja nicht formulieren. Insofern ist nicht damit zu rechnen, dass beim Kanzleramt oder in der Regierung darüber nachgedacht wird, kurzfristige Änderungen vorzunehmen. Ich bin auf der anderen Seite sicher, dass die Menschen ernüchtert sein werden, wenn sie sehen, was ab Anfang des Jahres passiert., weil Hunderttausenden von Menschen damit rechnen müssen, dass sie überhaupt keine Leistungen mehr beziehen, nachdem die Arbeitslosenhilfe gestrichen ist. Und hinzu kommen die neuen Zumutbarkeitsregeln, die es ermöglichen, Arbeitslosengeldempfänger Arbeitsplätze zuzuweisen für Löhne, die noch 30 Prozent unter dem ortsüblichen Lohn liegen. Das ist genau das Thema von Arbeit, die arm zu machen droht. Und das wird auf Widerstand stoßen in der Gesellschaft. Und das schreit danach, verlangt danach, dass hier Leitplanken eingezogen werden, die den freien Fall der Löhne die Verarmungsprozesse in der Gesellschaft verhindern.
Finthammer: Morgen will sich die Wahlalternative "Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" zum Ergebnis der Urabstimmung über die Parteigründung äußern. Schaut man auf deren programmatische Grundlagen, dann findet man viele Punkte, die sich mit Ihren Forderungen eigentlich überschneiden. Lassen Sie das Bündnis künftig weiterhin links liegen?
Bsirske: Wir arbeiten mit Parteien im demokratischen Spektrum an unterschiedlichsten Punkten zusammen und sind umgedreht nicht verlängerter Arm irgendeiner Partei. Diese Linie werden wir beibehalten. Wir sind parteipolitisch unabhängig, allerdings in den politischen Themen nicht neutral, sondern dem Anliegen unserer Mitglieder verpflichtet. Das wollen wir auch in Zukunft zur Sprache bringen und werden gucken, wo wir für diese Anliegen Bündnispartner in der Gesellschaft finden.
Finthammer: Heißt das etwa in Blick auf 2006, dass Rot-Grün möglicherweise ohne Ihre Unterstützung, ohne Ihre aktive Unterstützung wird auskommen müssen?
Bsirske: Wir haben einen kritisch konstruktiven Dialog mit der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Politik in den letzten Monaten gepflegt. Das werden wir fortsetzen und fortsetzen müssen, weil Kritik notwendig ist dort, wo eine Politik gemacht wird, die die Lasten sozial höchst einseitig verteilt und in ihrer ökonomischen Wirkung schädlich ist, weil Kaufkraftentzug die Binnenmarktschwäche noch weiter forciert, deren Wirkung unser eigentliches Problem ökonomisch gegenwärtig ist.