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Ver.di: Kein Ende der Streiks im öffentlichen Dienst in Sicht

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di rechnet nicht mit einem baldigen Ende der Streiks im öffentlichen Dienst. Er habe derzeit keine Signale für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen, sagte ver.di-Chef Bsirske im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Bei den Bundesländern gebe es starke Kräfte, die nicht an Gesprächen interessiert seien und auf tariflose Zustände setzten. Daher werde ver.di den Arbeitskampf fortsetzen, notfalls auch während der Fußball-Weltmeisterschaft, betonte Bsirske. Die Streikkasse sei gut gefüllt.

Moderation: Gerhard Schröder |
    Gerhard Schröder: Herr Bsirske, der 1. Mai - ein Tag der gewerkschaftlichen Mobilisierung, ein Kampf- und Feiertag, entstanden im den Kampf um den 8-Stunden-Tag vor über 100 Jahren. Für ver.di in diesem Jahr sicher ein besonderer Tag, denn der öffentliche Dienst erlebt den längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf kommunaler Ebene haben Sie mit den Arbeitgebern zwar einen Kompromiss im Kampf um längere Arbeitszeiten erzielen können, auf Länderebene aber geht der Streit weiter. Gibt es da inzwischen Signale für eine Annäherung, Signale überhaupt für eine Aufnahme der Gespräche?

    Frank Bsirske: Nein, im Moment nicht. Hinter den Kulissen auf Länderseite gibt es intensive Diskussionen, das ist wohl auch notwendig. Eine Reihe von Ländern signalisiert deutlich ein Interesse, zu Verhandlungen zu kommen und auch zu einer Einigung zu kommen, signalisiert, kein Interesse an tariflosen Zuständen zu haben. Aber es gibt nach wie vor eine andere Linie auf Länderseite, die im Zweifelsfalle tariflose Zustände sogar bevorzugt und meint, auf Tarifregelungen insgesamt verzichten zu können.

    Schröder: Und wie will ver.di diese Seite, die für vertragslose Zustände ist, wieder an den Verhandlungstisch zwingen?

    Bsirske: Nun, wir sind ja dabei. Wir sind in der elften Streikwoche an den Universitätskliniken, und wir schätzen die Einnahmeverluste an den Universitätskliniken, die in den Streik einbezogen sind, auf etwa 150 - 160 Millionen Euro. Das ist schon spürbar.

    Schröder: Reicht das denn aus, um zum Beispiel den Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft der Länder, Niedersachsens Finanzminister Möllring, tatsächlich zum Einlenken zu bewegen? Der hat ja angekündigt, er könne sich einen Abschluss bis zum Sommer vorstellen, wenn man die Jahreszahl offen lässt. Reicht möglicherweise Ihre Durchschlagskraft auf Länderebene einfach nicht aus?

    Bsirske: Das wird zu prüfen sein in den nächsten Wochen. Elf Wochen Streik zeigen Wirkung, keine Frage - nicht nur an den Universitäten und Universitätskliniken, nicht nur im Finanzkassenbereich, auch bei Kfz-Zulassungsstellen etwa. Hier bleibt mal abzuwarten, wie sich die Dinge auf der Arbeitgeberseite entwickeln werden. Klar ist aber auch, da sind Kräfte am Werk, die sehr Grundsätzliches im Auge haben. Herr Möllring hat ja keinen Zweifel dran gelassen, dass er diese Auseinandersetzung bei den Ländern versteht als eine Pilotauseinandersetzung für die Privatwirtschaft, indem der öffentlich Dienst praktisch eine Bresche schlägt in Richtung 42-Stunden-Woche. Er hat zugleich ausdrücklich deutlich gemacht, wie er eigentlich sich die Gestaltung der Arbeitsbeziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, jedenfalls im öffentlichen Dienst, für die Zukunft vorstellt, indem er sagte, dass der Gesetzgeber für die Beamten die Arbeitsbedingungen und die Entlohnungsbedingungen festlegt und dann die Angestellten und Arbeiter zu folgen haben - der Gesetzgeber diktiert, die Tarifbeschäftigten müssen spuren. Wenn die Gewerkschaften das unterschreiben, dann ist es gut, wenn sie es nicht unterschreiben, ist es auch gut, sagt Möllring, dann ist man vielleicht sogar flexibler ohne Tarifverträge. Das sind neue Töne in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Bundesrepublik, jedenfalls allemal, was den öffentlichen Dienst angeht. Und insofern, glaube ich, wird diese Auseinandersetzung weit über die Grenzen des öffentlichen Dienstes hinaus Bedeutung haben, und entsprechend grundsätzlich hart wird sie auch ausgefochten, weil es um eine Zäsur geht für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik in Zukunft.

    Schröder: Was treibt denn Herrn Möllring? Ist es die Finanznot der Länder? Oder ist es die Machtprobe mit den Gewerkschaften, will er die in die Knie zwingen?

    Bsirske: Nun, da wird sicherlich Machtpolitik betrieben. Immerhin muss man ja eine solche Haltung erstmal beziehen, zu sagen, wir schlagen hier eine Durchbruchschlacht für die gesamte Privatwirtschaft. Das nimmt ja einen Gedanken, ein Motiv des bayerischen Ministerpräsidenten von 2004 auf. Stoiber hatte erklärt, dass im öffentlichen Dienst die 42-Stunden-Wolche eingeführt werden müsse als Muster für die gesamte Volkswirtschaft, weil es nicht angehen könne, dass wir die kürzesten Arbeitszeiten in der Welt hätten und hier die Lohnkostenseite in Angriff genommen werden müsse im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Bei näherem Hinsehen zeigt sich natürlich, das ist alles blanker Humbug. Was die Arbeitszeiten anbetrifft, die tariflichen und die tatsächlichen Wochenarbeitszeiten, liegt die Bundesrepublik im Mittelfeld der Europäischen Union. Was die Lohnkostenentwicklung anbetrifft, da gibt es eine ganze Reihe von Ländern mit höheren Lohnkosten. Das wird souverän übersehen, offensichtlich, weil man die Gunst der Stunde der Massenarbeitslosigkeit nutzen will, und die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf eine neue Basis stellen will.
    Schröder: Sie sagen, hier wollen die Arbeitgeber eine Zäsur. Gleichzeitig schaffen sie ja auch Fakten. Bei Neueinstellungen auf Länderebene werden längst 40, 41 oder 42 Stunden vereinbart. Es überrascht doch, dass der Streik so wenig Widerhall findet, vielleicht auch, dass ver.di ihn so wenig machtvoll organisieren kann. In der Öffentlichkeit findet er kaum einen Widerhall. Müssten Sie jetzt nicht noch stärker mobilisieren, oder können Sie nicht?

    Bsirske: Ja, nun wissen wir ja, dass in den Medien Auseinandersetzungen auch ihre Konjunkturen haben. Ich setze darauf, dass die Wirkung anhaltend und spürbar bleibt und die Länder, die hier mit den Wirkungen des Streiks konfrontiert sind, über kurz oder lang auch zu Verhandlungen bereit sind und zu einer Verhandlungslösung, denn am Ende - das ist immer unsere Position gewesen - sollte nicht einseitiges Diktat stehen dürfen, sondern ein Kompromiss am Verhandlungstisch.

    Schröder: Wie könnte denn eine Kompromissformel aussehen, die für ver.di und für die Länder akzeptabel ist?

    Bsirske: Nun, wir haben ja das Problem der Meistbegünstigungsklausel, also einer Klausel, die besagt, dass jede Einigung, die wir mit einem Bundesland treffen, welche günstiger ist als das, was mit Kommunen und Bund vereinbart worden ist, auch den kommunalen Arbeitgebern und dem Bund anzubieten ist. Dafür müssen wir eine intelligente Lösung entwickeln, ein Paket schnüren. Es wird jetzt im Grunde davon abhängen, dass sich die Kräfte auf Länderseite durchsetzen, die an einer Verhandlungslösung interessiert sind, die keine tariflosen Zustände auf Dauer wollen, und die auch die Wirkung des Streiks in besonderer Weise spüren.

    Schröder: Aber das heißt, Sie können den Ländern eigentlich kaum mehr anbieten, als Sie den Kommunen angeboten haben.

    Bsirske: Ich denke, es lassen sich schon intelligente Lösungen finden, wenn denn die Bereitschaft überhaupt eine Verhandlungslösung zulassen zu wollen da ist. Und das ist genau das Problem, dass nach wie vor auf Arbeitgeberseite starke Kräfte da sind, die im Prinzip diktieren wollen oder auf tariflose Zustände setzen, und damit gewissermaßen ein neues Kapitel in der Tarifgeschichte der Bundesrepublik im öffentlichen Dienst aufgeschlagen wünschen.

    Schröder: Das heißt, ver.di stellt sich auf einen noch längeren Arbeitskampf ein. Wie lange können Sie denn überhaupt durchhalten, wie gut ist die Streikkasse gefüllt?

    Bsirske: Das ist kein Problem, dieser Streik wird nicht über die Streikkasse entschieden. Was die Streikkasse angeht, können Sie davon ausgehen, dass wir einen Streik dieser Größenordnung auch eineinhalb Jahre ohne Weiteres bestreiten könnten. Die Streikkasse ist überhaupt nicht strapaziert durch diese Auseinandersetzung, obwohl natürlich auch in der Größenordnung von Millionenbeträgen Streikunterstützung gezahlt wird. Aber nicht die Streikkasse entscheidet über diesen Arbeitskampf.

    Schröder: Sie können sich einen Streik auch während der Fußballweltmeisterschaft vorstellen?

    Bsirske: Ich würde mir wünschen, dass wir vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft zu einer Einigung mit den Ländern gekommen sind, damit wir uns gemeinsam auf das Sportereignis konzentrieren können und das Tarifereignis bis dahin bewältigt ist. Aber ob das der Fall sein wird, das bleibt abzuwarten.

    Schröder: Die Mitgliederzahlen sinken. Wird das nicht zum Problem für Verdi, für die Durchschlagskraft von Verdi.

    Bsirske: Wenn die Mitgliederzahlen bei aktiv Erwerbstätigen dauerhaft zurück gehen, gibt es sicherlich Probleme. Und niedrige Organisationsgrade eben immer mit der Gefahr verbunden sind, in einen Zustand kollektiver Bettelei zu verfallen statt aus einer auch von der Arbeitgeberseite ernst zu nehmenden Stärke und Verhandlungsposition heraus verhandeln zu können. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass sich im Zuge dieses Arbeitskampfes 25 Tausend Kolleginnen und Kollegen in Verdi neu organisiert haben in den betroffenen Streikbereichen. Ich sage, willkommen im Team, das hilft uns gemeinsam, die Interessen durchsetzen zu können…

    Schröder: …der Streik als Mobilisierungsfaktor.

    Bsirske: Faktor ja, natürlich, weil sich in solchen Auseinandersetzungen die Entscheidung, organisiere ich mich gewerkschaftlich oder nicht, sehr konkret stellt und zuspitzt.
    Schröder: Eine Möglichkeit ist ja auch, dass die Tarifgemeinschaft der Länder komplett auseinander bricht. Schließen Sie es aus, dass Sie in Zukunft einzelne Tarifabschlüsse auf Länderebene abschließen und wäre das die schlechteste Alternative?

    Bsirske: Das schließe ich überhaupt nicht aus. Das wäre nicht die wünschenswerteste Alternative aber ganz sicher auch nicht die schlechteste. Die schlechteste Alternative ist, dass wir in dauerhaft tariffreie Zustände kommen, wo es nicht mehr gelingt, in einem Kernbereich des Öffentlichen Dienstes überhaupt akzeptable Tarifverträge durchzusetzen und die Arbeitgeberseite sozusagen nach Gutshofmanier die Dinge einseitig diktiert. Das ist aus meiner Sicht die schlechteste Lösung. Das ist eine Lösung, an der eine Reihe von Bundesländern offensichtlich auch nicht interessiert ist. Da wird auch schon der Wert von Tarifverträgen erkannt. Und insofern ist es sicherlich eine Alternative zu einer Gesamteinigung der Tarifgemeinschaft der Länder, dass man mit einem Teil, einer Gruppe von Ländern oder auch einzelnen Ländern tarifiert - alles immer noch besser, als in zentralen Tariffragen in regelungsfreie Räume zurück zu fallen.

    Schröder: Die Tariflandschaft im Öffentlichen Dienst ist ja ohnehin jetzt schon ziemlich zersplittert. Da gelten unterschiedliche Tarife und Arbeitszeitregelungen für Beamte und Angestellte im Osten wie im Westen. Lässt sich das überhaupt wieder zurück drehen? Ist das Bild, die Vorstellung von einem einheitlichen Öffentlichen Dienst überhaupt noch zeitgemäß?

    Bsirske: Zeitgemäß schon. Und man muss ja auch sehen, dass es auch Entwicklungen gegeben hat im Laufe der letzten eineinhalb Jahre, die zu einer Vereinheitlichung auch beigetragen haben. Wir haben mit dem Bund beispielsweise einheitlich 39 Stunden vereinbart, was für den Westen eine halbe Stunde Arbeitszeitverlängerung einschloss, für den Osten aber eine Stunde Arbeitszeitreduzierung. Also, es geht durchaus auch in eine andere Richtung. Also, es geht. Auf der anderen Seite gibt es offensichtlich starke Kräfte, die auf eine Differenzierung hin arbeiten, auf eine Föderalisierung der Regelung, auf Wettbewerbsföderalismus setzen. Und Wettbewerbsföderalismus ist eben immer ein Rahmen, der die Starken begünstigt und die Schwachen, die Kleinen benachteiligt, weil im Zweifelsfall bei anziehender Konjunktur die großen Bundesländer, die finanzstärkeren Bundesländer immer größere Möglichkeiten haben, auch für die Attraktivität eines Wechsels von am Arbeitsmarkt nachgefragten Arbeitskräften zu Ihnen zu sorgen. Wir beobachten solche Entwicklungen im Bereich der Lehrer ja schon jetzt, wo aus Niedersachsen ein Trend in Richtung Nordrhein-Westfalen und aus Thüringen ein Trend in Richtung der süddeutschen Bundesländer zielt, einfach weil dort bessere Bedingungen geboten werden als in dem Ausgangsland.

    Schröder: Sie haben von Zäsuren gesprochen. Das berührt ja nicht nur die Tariflandschaft, sondern auch die gesetzliche Landschaft, zum Beispiel beim Kündigungsschutz. Die Große Koalition will den lockern. Die Details sind aber noch nicht ganz klar, sind auch noch umstritten. Denken Sie, dass es da tatsächlich zu weitreichenden Lockerungen kommt?

    Bsirske: Dass hier im Grunde eine Chimäre geritten wird, liegt auf der Hand. Alle Initiativen zur Verschlechterung des Kündigungsschutzes haben ja nicht zu einem Aufbau von Beschäftigung geführt und sind am Arbeitsmarkt verpufft. Kein Wunder, weil die Frage des Kündigungsschutzes unter Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit nicht der Faktor ist, der über Beschäftigungsausmaß und Beschäftigungsaufbau entscheidet. Alle Erfahrungen haben gezeigt, dass eine Verschlechterung des Kündigungsschutzes nicht zu einer Beschäftigung führt sondern nur zu mehr Verunsicherung, zu auch einer Einschüchterung der unter Bedingungen des verschlechterten Kündigungsschutzes Arbeitenden. Insofern ist natürlich das, was in Frankreich passiert ist, beachtlich. Dort hat ja die Regierung die Aushebelung des Kündigungsschutzes in den ersten beiden Beschäftigungsjahren für unter 25jährige auf die Tagesordnung gesetzt mit dem Ergebnis einer ganz breiten, von großen Teilen der Bevölkerung getragenen Protestwelle und der Konsequenz, dass das die Gesetzesinitiative wieder zurückgezogen werden musste, während hier eine Aufhebung des Kündigungsschutzes nicht nur für die unter 25jährigen möglicherweise auf die Tagesordnung gesetzt wird, sondern für alle Beschäftigten und der Proteststurm bislang ausgeblieben ist.

    Schröder: Wie kommt das? Rechnen Sie hier noch mit französischen Verhältnissen?

    Bsirske: Nein, ich glaube, dass die Mentalität der Deutschen doch etwas anders ist als die der Franzosen. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass die französische Linke geschlossen gegen das Projekt mobilisiert hat, inklusive der Sozialdemokraten in Frankreich, der Sozialisten, während hier das Projekt verabredet ist in einer Großen Koalition unter Einfluss der SPD. Das sind natürlich auch andere politische Rahmenbedingungen, die es schwerer machen, solche Verabredungen zu Fall zu bringen. Die Auseinandersetzung aber, dass hier Einschüchterung von Arbeitenden erleichtert wird ohne dass Aussicht besteht, darüber in irgend einer Form zu Arbeitsplatzaufbau zu kommen, diese Auseinandersetzung, die werden wir dieser Bundesregierung nicht ersparen. Und wir müssen dann einmal abwarten, wie die Reaktionen auf diese Auseinandersetzung dann politisch wie gesellschaftlich ausfallen wird.

    Schröder: Die Große Koalition ist jetzt ein halbes Jahr knapp im Amt. Wie fällt dann da Ihre Bilanz aus? Wir haben da ja ganz gemischte Signale, Anhaltspunkte, zum einen ein Investitionsprogramm, das den Gewerkschaften sicherlich auch nahe ist, auf der anderen Seite Punkte wie die Rente mit 67, die ausgerechnet ein Sozialdemokrat durchgesetzt hat. Erkennen Sie schon eine klare Richtung, eine klare Handschrift in der Großen Koalition?

    Bsirske: Die Bilanz fällt naturgemäß gemischt aus. Man ist ja versucht, denjenigen, die da über das Projekt einer Rente mit 67 entscheiden, mal zu wünschen, eine Woche lang im Krankenhaus auf der Intensivstation zu arbeiten oder eine Woche als Müllwerker 15 oder 20 Kilometer jeden Tag hinter dem Müllwagen her zu laufen und Mülltonnen zu laden. Es ist ja kein Zufall, dass dies ein Punkt ist, der viele unter schwierigen, belastenden - nicht nur körperlich belastenden, sondern auch psychisch belastenden - Bedingungen Arbeitenden verbittert, um so mehr klar ist, dass hier ja im Kern in einer Situation, wo 60 Prozent der deutschen Betriebe überhaupt niemanden mehr beschäftigen, der älter ist als 50, wir darüber reden, dass viele, viele Arbeitslose in Zukunft noch zwei Jahre länger arbeitslos sein dürften und dafür mit weniger Rente bezahlt werden. Also, das ist schon eine Maßnahme, die die Menschen zu Recht, finde ich, verbittert und die ganz sicher auf der Minusseite der Bilanz dieser Koalition verzeichnet werden muss. Sie haben das Thema Investitionsprogramm angesprochen. Das ist ja eine ganz zaghafte Abkehr von dem Kurs der Ablehnung von Investitionsinitiativen in der Ära Schröder. Die Abkehr ist notwendig, die Abkehr ist begrüßenswert, aber hier wird gekleckert statt zu klotzen. Hier wird viel zu zögerlich, viel zu zaghaft agiert, wo eigentlich entschlossenes Handeln notwendig wäre. Wenn man dazu hinzunimmt, dass mit der Absicht, die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr zu erhöhen, gewissermaßen auch wieder die Konjunktur negativ beeinträchtigende Impulse gesetzt werden, wenn man mit hinzu nimmt, dass bei Arbeitslosen, bei Beamten, bei Rentnern, auch Konsumkraft entzogen wird, muss man sich schon Sorgen machen, ob das zarte Pflänzchen Aufschwung, das wir gegenwärtig beobachten können, nicht die Nahrungszufuhr dann im nächsten Jahr wieder abgeklemmt bekommt. Und das ist sicherlich hochproblematisch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung im Lande und eine Bilanz der Großen Koalition in den nächsten Monaten.

    Schröder: Selbst der Aufschwung, der sich nun abzeichnet, wird ja kaum dazu führen, dass neue Jobs entstehen. Was müsste denn da aus Ihrer Sicht geschehen?

    Bsirske: Nun, wir haben ja großen Handlungsbedarf in der Gesellschaft, im Bereich der Bildung beispielsweise, im Bereich von Forschung und Entwicklung, im Bereich von Investitionen in Infrastruktur. Gucken Sie sich mal die Schulgebäude in vielen Kommunen an. Hier ist jede Menge Investitionsbedarf, im Abwassernetz beispielsweise und in vielen anderen Bereichen, wo sinnvolle Maßnahmen kombiniert werden könnten mit beschäftigungspolitischen Effekten, wenn man bereit wäre, ein Zukunftsinvestitionsprogramm ganz anderer Größenordnung aufzulegen als das schüchtern zaghafte, das die Bundesregierung jetzt mit fünf bis sechs Milliarden jedes Jahr für die Dauer der Legislaturperiode ins Auge gefasst hat.

    Schröder: Das würde aber bedeuten: Noch mehr Schulden. Und genau das will Steinbrück, der Finanzminister, ja nicht.

    Bsirske: Das muss nicht zwingend bedeuten noch mehr Schulden. Wenn es finanziert werden kann durch eine Steuerpolitik, die die Lasten auch stärker auf die Schultern derer legt, die große Vermögen besitzen, die zu Spitzenverdienern gehören und wenn die Unternehmensgewinne in stärkerer Weise besteuert würden, als das gegenwärtig der Fall ist. Herr Steinbrück hat es ja fertig gebracht, in einer ersten Grundsatzrede vor der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung mittlerweile die niedrigste Steuerquote in der Europäischen Union hätte neben der Slowakei. Er hat bei der Gelegenheit vergessen zu sagen, dass wir auch die vierthöchste Arbeitslosigkeit haben neben besagter Slowakei, Polen und Griechenland. Das steht auch durchaus in einem Zusammenhang, weil eine Politik, die die notwendigen Impulse für die Konjunktur nicht setzt, gleichzeitig aber auf Steuereinnahmen in Milliardenhöhe verzichtet, wir haben alleine im Bereich Unternehmensbesteuerung Einnahmenverzicht in der Größenordnung von knapp 100 Milliarden Euro in den letzten vier Jahren verzeichnet. Eine solche Politik begibt sich natürlich auch der Möglichkeit, gegen zu steuern und für Beschäftigungsimpulse zu sorgen und muss sich nicht wundern, dass am Ende die Haushaltslöcher größer sind als vorher.

    Schröder: Unbestreitbar ist doch, dass die Belastung des Faktors Arbeit in Deutschland relativ hoch ist. Wäre es da nicht sinnvoll, so wie es ja zur Zeit auch diskutiert wird, die Finanzierung der Sozialsysteme stärker über Steuern laufen zu lassen, wie das jetzt zum Beispiel durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer geplant ist und damit auch gleichzeitig mehr Wettbewerbsfähigkeit herzustellen?

    Bsirske: Wir sind sowohl was die Höhe der Sozialleistungen angeht wie die Höhe der Abgabenbelastung, also Steuern plus Sozialabgaben auf einem Mittelplatz, im Mittelfeld der Europäischen Union, Platz 7, Platz 8. Man liegt eigentlich grundlegend richtig, wenn man die Bundesrepublik im Mittelfeld der Europäischen Union verortet mit Ausnahme der Arbeitslosigkeit und mit Ausnahme der Exporterfolge. Da sind wir auf einem ziemlich vorderen Platz beziehungsweise beim Export absolut Weltspitze. Zweitens: Ich glaube, dass es Sinn macht, die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme noch einmal zu überdenken und auf eine breitere Grundlage zu stellen. Durch die Verschlechterung in der Rentenversicherung, dem Nachholfaktor von Müntefering, beispielsweise die Rente mit 67, haben wir ja mittlerweile die Situation, wo jemand, der nur 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes bekommt, und das sind Millionen von Menschen in unserem Lande, selbst wenn er 40 Jahre ununterbrochen arbeitet, nur eine Rente erreicht auf Sozialhilfeniveau. Und das macht schon deutlich, dass wir hier aktiv werden müssen, den Menschen in den unteren Einkommensbereichen auch zusätzliche Sicherungsmöglichkeiten schaffen müssen in Richtung Rente und zu diesem Zweck die Rentenversicherung, aber auch die Krankenversicherung auf eine breitere Grundlage stellen müssen. Kapitaleinkünfte müssen einbezogen werden beispielsweise in der Krankenversicherung und wir müssen Selbständige, künftige Beamte, auch Politiker, einbeziehen in die sozialen Sicherungssysteme und den meines Erachtens untragbaren Zustand beenden, dass da Politiker über die Rentengesetzgebung entscheiden, die von dem, was sie da entscheiden, selbst überhaupt nicht betroffen sind.