Montag, 29. April 2024

Archiv


Verachtung der Provinz

Peter Iljitsch Tschaikowsky hat die Oper "Eugen Onegin" als musikalisches Kammerspiel konzipiert und nicht in einem monumentalen Kompositions- und Aufführungsstil seiner Zeit. Ingo Kerkhof hat das Werk - optisch noch einmal entschlackt - in Hannover inszeniert.

Von Georg-Friedrich Kühn | 16.04.2013
    Mit einem Schuss beginnt’s. Und man denkt, nun ist man gleich mitten im Stück. Aber es trudelt nur eine etwas verstörte junge Frau im dunkelblauen Kleid auf die Bühne, setzt sich auf die Stufen, beginnt einen Apfel zu schälen und mit einem Buch sich in eine Schaukel zu verziehen. Aha Tatjana.

    Äpfel werden immer wieder geschält, gegessen, weitergereicht. Tische werden aufgestellt, verschoben, gedeckt, abgedeckt. Lenski, der Nachbar und Liebhaber von Tatjanas Schwester Olga, wird bei seinem Besuch gleich auf die Leiter gebeten, um eine Glüh-Birne überm Tischchen mit den Marmelade-Koch-Utensilien auszuwechseln. Und dabei verkündet er, wie verliebt er ist, in Olga.

    So sinnig-sinnlich geht’s immer zu. Wenn die Bäuerinnen und Bauern im Tanzlied ihren Erntedank darbringen, stehen sie wie angewurzelt auf der Bühne. Der wunderbare Chor der Beerenpflückerinnen ertönt gleich ganz aus dem Off. Und beim Meisterstück der Oper, der Polonaise zu Beginn des 3. Akts bleibt der Vorhang die meiste Zeit geschlossen – und öffnet sich dann nur für eine gelangweilt lümmelnde Party-Gesellschaft.

    Nein, von innen heraus, aus der Musik gedacht sind diese "Lyrischen Szenen" Tschaikowskis in der neuen Hannoveraner Inszenierung von Ingo Kerkhof nicht.

    Und leider bleibt von einer so abgeplatteten Szene auch die musikalische Ausführung dieses "Eugen Onegin" nicht unberührt.

    Ivan Repusic am Pult vermag zumal etwa der gespenstischen Polonaise kaum Kraft abzugewinnen. Onegin ist da auf der Flucht vor seiner Schuld zurückgekehrt nach Sankt Petersburg, trifft Tatjana wieder als nun verheiratete Gremina, und der Geist des beim Duell erschossenen Freundes Lenski verfolgt ihn noch immer.

    Musikalisch besser gelungen der morgendliche Sonnenaufgang nach Tatjanas Briefszene. Allerdings lässt die Intonation bei den Streichern an den solistischen Stellen oft zu wünschen übrig. Sara Eterno als Tatjana kann von den Sängern am ehesten überzeugen mit einem von Schärfe freilich nicht ganz freien Sopran.

    Eher steif bleiben die Männer, insbesondere der Onegin von Adam Kim, auch stimmlich. Olga (Julie-Marie Sundal) muss sich immer nervös im Gesicht kratzen, darf aber Lenski beim Duell zuschauen. Fremd bleiben die Figuren einander, selbst beim Namenstag-Ball. Da werden – wieder mal – Tischchen aufgestellt. Man sitzt. Tatjana bekommt zu dem Couplet von Triquet eine Torte auf den Schoß gepflatscht. Der kratzt die Reste dann wieder ab und verteilt sie in Schälchen. Guten Appetit!

    Anne Neusers rostfarbene Bühne begnügt sich mit circa einer Handvoll Lichtstimmungen. Der Fluss von Tschaikowskis drängender Partitur wird durch unnötige Vorhänge immer wieder unterbrochen. Von Szenenbeifall allerdings kaum. Erst am Schluss gibt es freundlichen Applaus des Publikums und ein paar schüchterne Buhs fürs Regieteam.

    Eine "authentische Interpretation", vermerkt der Regisseur im Programmheft, könne er nicht liefern. Das hat auch niemand verlangt. Eine Interpretation darf man aber schon erwarten. Hier aber wird ein Stück nur ziemlich lust- und hilflos, klischeehaft-routiniert abgespult. Man könnte das ja als modisch abhaken, wüsste man nicht, dass es ungleich sensibler geht – sogar an einem sehr viel kleineren Haus. Und das macht schon traurig.