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Verarbeitung eines Traumas

Wolfgang Ruge war ein bekannter DDR-Historiker. Er ist 1996 in Potsdam gestorben. 2003 erschienen seine Erinnerungen unter dem Titel "Berlin-Moskau-Sosswa". Sein Sohn, der Schriftsteller Eugen Ruge, hat das Buch jetzt überarbeitet und mit einem lesenswerten Nachwort versehen.

Von Robert Baag | 16.01.2012
    Sein neues Leben beginnt für den 16-jährigen Wolfgang Ruge wie das nächste Kapitel in einem revolutionär-romantischen Abenteuerroman:

    Dann die entscheidenden 20 oder 30 Schritte. Fasziniert starre ich auf den großen Holzbogen, der den nicht befahrenen Schienenstrang aus der alten in die neue Welt überspannte. Zwar konnte ich die fremdländischen Buchstaben nicht lesen und die Worte nicht verstehen, doch wusste ich, was dort stand: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch." Mich übermannte ein unbeschreibliches Gefühl – wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag. So betrat ich meine neue Welt.

    Der kühl-abweisende Empfang durch die sowjetischen Grenzer und Zöllner jenseits der finnischen Grenze kann Ruge und seinen Bruder Walter keineswegs befremden. "Revolutionäre Wachsamkeit" ist eine Selbstverständlichkeit für die beiden begeisterten Berliner Jungkommunisten, die soeben, 1933, über Skandinavien aus Nazi-Deutschland geflohen sind.

    Auch die Eltern der beiden haben in Stalins Sowjetunion vor Hitlers Gestapo Zuflucht gesucht. Sie arbeiten in der Komintern, der "Kommunistischen Internationale", mit deren Hilfe die Weltrevolution unter Moskauer Führung vorangetrieben werden soll.

    Der zunächst fast harmlos, in Teilen gar kolportagehaft daherkommende Einstieg in die Autobiografie des späteren DDR-Historikers Ruge verwandelt sich rasch in eine faszinierende, oft schonungslos grausame Zeitreise, die fast ein Vierteljahrhundert umspannen wird. Sie gibt den Blick eines seit Kindertagen gläubigen Kommunisten auf die sowjetische Wirklichkeit der 30er- bis 50er-Jahre wieder, seine schnell einsetzende Ernüchterung, der aber – anders als etwa sein Vater nach dem Krieg – nicht in der Bundesrepublik leben will, sondern sich 1956 bewusst die DDR für seine Rückkehr aus der UdSSR aussucht.

    Wie ist es Wolfgang Ruge nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 als "Germaniec", als "Deutschländer" ergangen, der - inzwischen Sowjetbürger deutscher Nationalität - das Schicksal der nach Kasachstan und Sibirien zwangsumgesiedelten und in die sogenannte "Trudarmija" buchstäblich zu Sklavenarbeit gepressten Russlanddeutschen hat teilen müssen? Solidarität der deutschstämmigen Häftlinge untereinander, so Ruges Erfahrung, ist keineswegs die Regel. Vor allem die knapp ein Jahrzehnt zuvor schon zwangskollektivierten wolgadeutschen Bauern – im damaligen Politsprech: "Kulaken" - schotten sich ab, ignorieren die hungernden Mitgefangenen.

    Noch während des tagelangen strapaziösen Eisenbahntransports ins Arbeitslager...

    ... beobachte ich, wie die Ex-Kulaken sich in jeder freien Minute um die eisernen Öfchen drängeln und kochen, brutzeln und braten. Ständig essen sie Kartoffeln mit Knödeln (das ist das wolgadeutsche Nationalgericht), Fleischtaschen oder Plätzchen. So rächen sich die Opfer der "liquidierten Klasse" an uns, die sie als Nutznießer der Kollektivierung oder gar als Bannerträger kommunistischer Ideen betrachten.

    Jahre später räumt Ruge einsichtsvoll ein:

    Ich bleibe der "Deutschländer", ein Fremdkörper, für die meisten undurchschaubar. Sie können nicht begreifen, warum ich aus Europa, das sie mit Wohlleben und Technik identifizieren, in ihr ärmliches Land gekommen bin.

    Besonders fesselnd zu lesen sind seine lakonisch gehaltenen, scharfen Beobachtungen zum Moskauer Emigrantenalltag Mitte, Ende der 30er-Jahre. Da gibt es zwar eine dünne Schicht privilegierter Politflüchtlinge, Spitzenfunktionäre der KPD wie etwa der spätere DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Doch auch unter ihnen grassiert spätestens seit 1936 die Angst vor Haft, Verbannung oder Genickschuss durch Stalins Geheimpolizei NKWD.

    Andrej Wyschinskij, sowjetischer Generalstaatsanwalt und enger Vertrauter des Diktators Stalin hat zuvor in den Schauprozessen gegen die alte Garde der Bolschewiki, der Freunde, Weggefährten und Gesinnungsgenossen Lenins, das Leitmotiv des sogenannten "Großen Terrors" vorgegeben:

    "Verräter und Spione, die unsere Heimat dem Feind verkauft haben, sind zu erschießen wie tollwütige Hunde. Unser Volk fordert nur eins: Zerquetscht die verfluchte Natternbrut!"

    Wolfgang Ruges Erinnerungen lassen den Eiseshauch spüren, die beklemmende Atmosphäre, die sich nach dem Wüten Wyschinskijs nicht nur über Moskau, sondern über das ganze Land zu legen beginnt. Hautnah erlebt Ruge die stete Ungewissheit, ob, wie und wann es auch ihn trifft.

    Schließlich die jahrelange Lagerhaft im Nord-Ural als Zwangsarbeiter, als "Trudarmist": Sie hätte ihn eigentlich später – wieder in Freiheit – einen ähnlichen Weg gehen lassen können wie Wolfgang Leonhard, vier Jahre jünger als Ruge und damals ebenfalls junger kommunistischer Polit-Emigrant in Moskau: Leonhard flieht als eigentlich vielversprechender DDR-Nachwuchskader schon Ende der vierziger Jahre aus Stalins Machtbereich.

    "Die Revolution frisst ihre Kinder" - hieß seine damals weltweit für Aufsehen sorgende Abrechnung mit dem Stalinismus. In der Reihe "Gedächtnis der Nation" erinnert sich Leonhard:

    "Es gibt hunderte von deutschen Kommunisten, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind zur selben Zeit als ich auch da war, wo der Vater verhaftet war, Vater und Mutter, Familienmitglieder erschossen wurden. Das hat ihre politische Überzeugung nicht ins Wanken gebracht. Es hat sogar Fälle gegeben, wo nach der Wende sich frühere deutsche Kommunisten weigerten, in Interviews mitzuteilen, was sie alles in der Sowjetunion erlebt haben. Also, das ist nicht irgendeine politische Überzeugung, sondern es geht so tief wie im Mittelalter ein religiöser Glaube."

    "Wolfgang Leonhard war Zeuge des Terrors. Wolfgang Ruge hat den Terror erlebt..."

    ...hebt dagegen Ruges Sohn Eugen im Nachwort hervor. Sein Vater habe nie einen Zweifel daran gelassen...,

    ...dass der Stalinismus ein verbrecherisches System war, (dennoch) hat er den Glauben bewahrt an eine Gesellschaft ohne Konkurrenz, ohne erniedrigende Ungleichheit, ohne die Herrschaft des Geldes. (...) Gewiss, eine Veröffentlichung in der DDR war unmöglich. Und eine Veröffentlichung im anderen, westlichen Deutschland, das er bis zum Schluss als das fremde, ja sogar als das gegnerische empfand, kam für Wolfgang Ruge nicht in Frage. (...) Und wer will einen Menschen, der 15 Jahre in Lager und Verbannung zugebracht hat, verpflichten, um der Wahrheit willen weitere Repressionen auf sich zu nehmen?

    Wolfgang Ruges Ringen mit dem Erlebten in Stalins Sowjetunion, zeitgleich mit dem Entschluss sein Leben später dennoch in einem post-stalinistischen Herrschaftssystem fortzusetzen - es wäre sicher spannend gewesen über diesen inneren Konflikt Ausführlicheres zu erfahren. Doch selbst sein Sohn kann am Ende nur mutmaßen...

    ...dass seine Erlebnisse nicht nur schwer oder ernüchternd waren, sondern - ich erlaube mir, dieses allzu oft gebrauchte Wort zu verwenden - traumatisch. Wolfgang Ruge hat, so glaube ich, zeitlebens nach einer angemessenen Form für die Verarbeitung seines Traumas gesucht. Und das ist der zweite Grund für die komplizierte Entstehungsgeschichte dieses im Grunde nie fertig gewordenen Buches.

    Ein Buch, das zweifellos seinen würdigen Platz in der Reihe jener Literatur finden wird, die andere Zeitzeugen des Stalin’schen Terrorsystems wie etwa Alexander Solschenizyn, Varlam Shalamov, Margarete Buber-Neumann oder auch Jevgenija Ginzburg veröffentlicht haben. Wolfgang Ruge hat Neues dazu beigetragen, ergänzt vermeintlich schon Bekanntes um wesentliche bislang unbeachtete Details. Ruge hat ein wichtiges, ein spannendes Buch hinterlassen.

    Wolfgang Ruge: "Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion".
    Rowohlt Verlag, 496 Seiten, 24,95 Euro. ISBN: 978-3-498-05791-6