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Verblasster Mythos Grundgesetz?

Das Volk, also der Souverän, dem selbst noch die Verfassung untertan sein muss, war hellauf begeistert. Mit entfesseltem Beifall und Ausrufen der Zufriedenheit endete das Spiegelforum im Kleinen Konzertsaal am Gendarmenmarkt, in dem nicht weniger als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Generalkritik ausgestellt worden war.

Von Arno Orzessek |
    Kompliziert ist indessen die Interpretation des auffällig lauten Beifalls? Wollten die Leute die phasenweise populistische, aber nicht nur dann sehr witzige Diskussion belohnen? Wollten sie Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem und Ex-Kollege Dieter Grimm unterstützen, die zum peinlichsten Umgang mit dem Grundgesetz in der bestehenden Form raten? Wollten sie Leibniz-Präsident Hans-Olaf Henkel belobigen, der am liebsten noch heute einen Verfassungs-Konvent berufen würde, um in einem totalen Re-Engineering, wie er es nannte, alles besser zu machen? Oder galt ihre Neigung schließlich dem Sozialdemokraten und Multi-Ex-Ämter-Inhaber Klaus von Dohnanyi, dem es unheimlich wichtig ist, betriebswirtschaftliche Elemente zur Förderung der Konkurrenz unter Ländern und Menschen in den heiligen Text des Staates aufzunehmen?

    Ob so oder so - es steht fest, dass der Mythos des Grundgesetzes als bester deutscher Verfassung aller Zeiten in der aktuellen Wirtschaftskrise rapide verblasst. Der politische Katechismus dieses Landes, den Jürgen Habermas so klug ausgedacht fand, dass er den Verfassungspatriotismus zur Staatsräson erheben wollte, gilt plötzlich als Hemmklotz, der die Auflösung des pathologischen Reformstaus verhindert.

    Der Spiegel zerfledderte jüngst Grundgesetz-Regelungen im Dutzend, Ex-Bundespräsident Roman Herzog forderte zumindest rasche und tiefgreifende Änderungen und der Historiker Arnulf Baring rief in der FAZ unter dem Motto "Wir sind das Volk" praktisch die Revolution aus, um den unfähigen Politikern das Heft aus der Hand zu nehmen - was ohne Gewalt auch nur über eine neue Grundgesetzgebung zu schaffen wäre.

    Geht man ins Einzelne, steht die Verfassung wegen zahlreicher hässlicher Verstöße gegen das Wohl der Allgemeinheit unter Anklage. Sie gestehe den Parteien, Verbänden und Gewerkschaften zuviel Macht zu, heißt es; sie erlaube mit dem Bundesrat eine Neben-Regierung und die Blockade-Politik der Ministerpräsidenten; sie leiste den Länder-Kartellen Vorschub, statt föderale Konkurrenz zu unterstützen; sie verhindere Plebiszite, fördere Überregulierung, Bürokratismus, Unmündigkeit und vieles mehr zu Deutschlands Nachteil.

    Und damit stellt sich die tatsächlich fundamentale Frage, ob die Diskussion über die Krise der Wirtschafts- und Sozialsysteme als Verfassungs-Debatte zu des Pudels Kern vorstößt - oder nur ein kluges Ausweichmanöver ist, bei dem sich die politisch Verantwortlichen ausnahmsweise auf ein gemeinsames Feindbild einigen, nämlich die Struktur des Grundgesetzes.

    Es ist nicht zu übersehen, dass die lautesten Verfassungs-Beschwerden aus den Kreisen der Wirtschaft und - im parteipolitischen Spektrum - eher von der Union als von Rot-Grün kommen. Wenn nämlich in Zeiten der wirtschaftlichen Krise im großen Stil am Grundgesetz herum operiert würde, stünden Zielvorstellungen wie Effizienz, Entflechtung, De-Regulierung und Liberalisierung im Mittelpunkt.

    Man erinnere sich: Als nach der Wende der historisch gebotene Moment für eine Verfassungsdiskussion gekommen war, lehnte die regierende schwarz-gelbe Koalition vom Datenschutz über die Festlegung des Rechts auf Wohnung und Arbeit bis hin zum Plebiszit alle Vorschläge ab. Man fürchtete die Festlegung sozialer Staatsziele. Wenn Hans-Olaf Henkel nun einen Verfassungskonvent fordert und Klaus von Dohnanyi Politik und Recht ökonomisch disziplinieren will, denken sie natürlich an Veränderungen in umgekehrter Richtung - an Veränderungen, die - kriminell verkürzt - den Sozialstaat zum Wirtschaftsstaat machen.

    Vielleicht wird das eines Tages sogar notwendig sein. Vorläufig jedoch gilt, was in Berlin Wolfang Hoffmann-Riem und Dieter Grimm, aber auch CDU-Präside Wolfgang Schäuble anmahnten: Nämlich die bestehende Verfassung in den kritischen Punkten wie der diffusen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, die nachträglich eingefügt wurde, auf den Ursprungstext zurückzuschneiden und ansonsten nur Einzelprobleme anzugreifen.

    Das Grundgesetz - so lässt sich der Berliner Kommentar der juristisch Beschlagenen zusammenfassen - darf in der wirtschaftlichen Krise nicht zum Spielball ökonomischer Interessen werden und es muss vor dem Einfluss von Pseudo-Revoluzzern wie Hans-Olaf Henkel geschützt werden. Aber ansonsten sind alle Korrekturen geboten, die dem Gemeinwohl dienen.

    Wahrscheinlich applaudierten die Menschen im Konzerthaus, weil mit der Heiligsten Kuh der Deutschen so forsch umgesprungen wurde, wie es lange nicht möglich schien, nun aber bitter nötig ist.

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