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Verborgene Reserven der Fruchtbarkeit

Medizin. - Bei Frauen mit Kinderwunsch tickt ab Mitte 30 die biologische Uhr. Will heißen: Die Fruchtbarkeit nimmt dann rapide ab, selbst wenn die Frauen noch so fit und aktiv sind und sich jung fühlen. Jedes Mädchen kommt bei der Geburt mit einem begrenzten Vorrat an Eizellen auf die Welt und der erschöpft sich in den mittleren Jahren irgendwann. So wurde die zeitliche Grenze der Fruchtbarkeit bislang begründet. Doch die Begründung ist falsch, wie sich jetzt in der aktuellen "Nature" herausstellt.

Von Grit Kienzlen |
    Es ist eine Lehrmeinung, die als Fakt in jedem Biologie-Buch nachzulesen ist, von allen Fachleuten akzeptiert seit so langer Zeit, dass die ursprüngliche Quelle schon nicht mehr zu finden ist, erzählt der Bostoner Mediziner Jonathan Tilly:

    Das Dogma gibt es schon seit mehr als 50 Jahren, eigentlich fast ein ganzes Jahrhundert. Danach behalten Männer die Fähigkeit, Keimzellen, also Spermien, zu produzieren, ihr Leben lang, während Frauen der Luxus eines sich selbst erneuernden Vorrats an Keimzellen verwehrt ist. Dem Dogma zufolge sind sie von Geburt an mit einem begrenzten Fundus an Keimzellen, also unreifen Eizellen, ausgestattet und dieser Pool muss ausreichen, um ihren Bedürfnissen, sich fortzupflanzen zu genügen.

    Diese Lehrmeinung wollten die Forscher um Jonathan Tilly am Massachusetts General Hospital gar nicht in Frage stellen, als sie ihre Arbeit zum Absterben von Eizellen bei Mäusen begannen. Eizellen gehen im Eierstock in großen Mengen zugrunde. Das ist normal und lange bekannt. Die Bostoner Forscher haben nun erstmals nachgezählt, wie viele Eizellen davon genau betroffen sind. Dabei stellten sie zu ihrer eigenen Verblüffung fest, dass im Eierstock der Mäusin im Laufe ihres Lebens mehr Eizellen absterben, als sie bei der Geburt hat.

    Bei der Untersuchung ging es am Anfang um reine Mathematik. Wenn man sich die Zahlen und Veränderungen im Eizellen-Vorrat anschaut, wird offensichtlich, dass das Dogma einfach nicht stimmen kann.

    Das machte Jonathan Tilly stutzig. Im Eierstock der Mäuse suchte und fand er Stammzellen, die genau wie in den Hoden der Männchen ständig neue Keimzellen produzieren, wenn auch in viel geringerem Umfang. Seine Erkenntnisse sicherte er durch vier unterschiedliche Versuchsanordnungen ab:

    Klar, als wir uns aufmachten einen der fundamentalsten Grundsätze in unserem Fachgebiet ins Wanken zu bringen, fühlten wir uns verpflichtet, der Wissenschaftler-Gemeinde eine wasserdichte Geschichte zu präsentieren. In gewisser Weise liefern wir nun einen Overkill. Denn egal welchen unsere Datensätze Sie anschauen - es läuft immer auf den selben Schluss hinaus: Die Eizellenproduktion läuft weiter.

    Entsprechend reagieren die medizinischen Fachgesellschaften heute mit vorsichtiger Begeisterung. Vorsichtig, weil sie, wie immer in der Wissenschaft, die Bestätigung der Experimente durch andere Forschergruppen abwarten müssen. Aber dem Bostoner Team wird Glauben geschenkt und vor allem gehen die Mediziner davon aus, dass die Erkenntnisse von der Maus sich auch beim Menschen werden bestätigen lassen. Jonathan Tilly glaubt das auch.


    We have every reason to believe that the findings that we have reported now in mice, will hold true in humans.

    Ein Indiz dafür liefern seine eigenen Experimente mit Busulphan, einem Chemotherapeutikum, von dem bekannt ist, dass es die Stammzellen im Hoden von Mäusemännern abtötet, nicht aber die reifen Spermien. Bei den Weibchen zeigte sich dasselbe Bild: Nach Busulphan-Behandlung starben die jetzt entdeckten Ei-Stammzellen ab und die Mäuse wurden nach drei Wochen, als die vorhandenen Eizellen zur Neige gingen, unfruchtbar. Dieses Busulphan findet auch in der Krebstherapie Anwendung:

    Wir haben uns also noch einmal die klinischen Studien mit verschiedenen Chemotherapeutika angesehen und stellten fest: Wenn Busulphan zum Medikamentencocktail gehörte, verloren die Frauen mit hundertprozentiger Sicherheit ihre Fruchtbarkeit. Bei Frauen, die einen anderen Cocktail ohne Busulphan, sondern mit anderen Zellgiften enthalten hatten, ging die Fruchtbarkeit nur in 50 Prozent der Fälle verloren.

    Diese Analyse zeigt auch, welche weitreichenden Folgen die Erkenntnisse der Bostoner Forscher haben könnten. Wenn es Ei-Stammzellen gibt, dann könnte man sie beispielsweise vor einer Krebsbehandlung entnehmen und später zurück transplantieren um die Fruchtbarkeit zu erhalten. Möglicherweise ließe sich sogar der Beginn der Menopause mit ihrer Hilfe verschieben. Der Phantasie der Fortpflanzungsmediziner ist eine Grenze weniger gesetzt.