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Verdi singen

Giuseppe Verdi krempelte mit neuen Sängertypen die Oper zur Mitte des 19. Jahrhunderts um. Doch entgegen einem noch häufig zu hörenden Vorurteil war Verdi nicht der Totengräber des bel canto, sondern ein Modernisierer. Eine Tagung in Wien reflektierte nun "die Kunst, Verdi zu singen."

Von Frieder Reininghaus |
    Giuseppe Verdi war kein besonderer Freund Wiens. Nur einmal besuchte er die Hauptstadt der Habsburger Monarchie. Im Gegenzug freilich wurden die Opern Verdis in der Regel schon bald nach den Uraufführungen in Italien bzw. Paris an der Donau auf den Spielplan gesetzt – sie füllten die Theater. Das Publikum feierte sie stürmisch und liebte sie. Die Gründe für Verdis Wien-Distanz waren überwiegend politischer Natur: Der Komponist war Repräsentant des "Risorgimento", der kulturellen und politischen Bewegung für die "nationale Wiedergeburt" Italiens (er wollte daher die Herrschaft der Habsburger und der römisch-katholischen Kurie beendet sehen).

    Im Zuge (oder Windschatten) dieser mehr oder minder demokratischen "Bewegung" fand ein Paradigmenwechsel für die musikdramatischen Stimmen statt: Sieghart Döhring, Herausgeber der Enzyklopädie des Musiktheaters, erläuterte dies jetzt bei der Verdi-Konferenz in Wien hinsichtlich der Tenöre. Die rückten vom überwiegend Heroischen ab und hatten im fortschreitenden 19. Jahrhundert zunehmend auch lyrische Facetten zu entwickeln: "Naturpoesie im Schatten des Todes". Auch der Stimmcharakter der Primadonnen veränderte sich: Gegenüber dem lichten Sopran, über den Henriette Sontag in den 1820er-Jahren oder Giuditta Pasta in den Dreißigern verfügten, setzten sich dunklere, zum Mezzo tendierende Stimmen durch wie die von Marie Falcon oder von Pauline Viardot-García (sie verfügte in idealer Weise über alle Lagen von der satten Tiefe des Contralto über die mittleren des Mezzosoprans bis hinauf zu stolzen Höhen).

    Daniel Brandenburg (Universität Salzburg) ergänzte:

    "Verdi hat einen größeren Realismus in den Operngesang hineingebracht, allerdings auf der Basis dessen, was wir als italienische Gesangsschule kennen. Das ist kein Verismo, aber ein größerer Realismus, der in der Folgezeit – nach dem Zweiten Weltkrieg – missverstanden und wesentlich vergröbert worden ist. Zurück zu den Quellen!"

    Verdi bereitete, so lässt sich resümieren, mithin den Verismo der nachfolgenden Generation vor – Mascagni, Leoncavallo, Puccini –, machte aber nur punktuell und wohl dosiert von dessen Mitteln Gebrauch. Weiters wurde bei der Wiener Konferenz der deutsche Verdi-Gesang im frühen 20. Jahrhundert am Beispiel der Sopranistin Meta Seinemeyer erläutert, dann auch die übrige Frühgeschichte der Schallplattenaufzeichnung soweit sie Verdi betrifft. Da konkurrierten neben dem von Toscaninis neusachlichem Ideal angesteckten Enrico Caruso auch ältere Sänger, die noch mit Verdi selbst musiziert hatten – also mit großem Rubato sangen, ggf. kräftig trillerten und hoch virtuose Kadenzen einfügten.

    Wien wäre nicht Wien, wenn es sich nicht gebührend selbst feiern bzw. feiern lassen würde: Ein Redakteur der marktführenden Opernfachzeitschrift gab eine Einführung in die höheren Künste des Stimmfetischisten-Byzantinismus. Er schmeichelte den Veteranen, die noch einmal die Gnadensonne der Aufmerksamkeit durch ein ergeben lauschendes Publikum genossen. Dabei bewies Christa Ludwig Berliner Schlagfertigkeit, die allerdings längst eine kakanische Färbung angenommen hat. Der mexikanische Tenor Ramón Vargas (Jahrgang 1960) erinnerte sich ebenfalls an seine großen Zeiten, ist aber gleichfalls kein theoretischer Leuchtturm.

    Der Wiener Staatsopern-Intendant und neue Vorsitzende der Europäischen Musiktheater-Akademie Dominique Meyer verwies im Gespräch mit dem Bariton Leo Nucci, der auch zum "Urgestein" der Wiener Staatsoper gehört, nochmals darauf, wie sehr Verdi nicht "musicista" sein wollte sondern Autor – also in einer Reihe genannt mit Shakespeare, Schiller und Victor Hugo. Das ist ein Aspekt, den es im jetzt näher rückenden Jubiläumsjahr im Auge zu behalten lohnt. Ansonsten zeichnet sich ab, dass Verdi in den Jubiläums-Konkurrenz der nächsten Zeit einen schweren Stand haben wird (nicht nur neben Richard Wagner, dessen 200. Geburtstag gleichfalls auf- und abgefeiert) – auch gegenüber jüngeren Formen der Musikkultur. Vor der Tür des Mahlersaals im Treppenhaus der Staatsoper probte ein Mädchenchor in alpenländischer Tracht sein Ständchen.