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Verdichtung wie im Reagenzglas

Die populäre amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates schöpft in ihren Werken viel aus der Geschichte ihres Landes und aus der eigenen Biographie. Ihr neuer, dreiteiliger Roman "Ausgesetzt" ist bisher der persönlichste und verweist doch auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge.

Von Tanya Lieske | 19.07.2005
    Wir befinden uns an einer Universität im Bundesstaat New York. Man schreibt die frühen sechziger Jahre. Anellia, die Ich-Erzählerin dieses Romans, ist 19 Jahre alt, so alt wie Joyce Carol Oates es damals auch war. Anellia kommt aus einer zerrütteten Familie, der Vater trinkt. Sie braucht ein Stipendium, um an der Eliteuniversität Philosophie studieren zu können. Im ersten Teil dieses dreiteiligen Romans unternimmt Anellia allerhand Klimmzüge, um die soziale Kluft zwischen sich und den gutbürgerlichen Studentinnen zu überwinden. Sie setzt alles daran, in die elitäre Schwesterngemeinschaft "Kappa Gamma Pi" aufgenommen zu werden, die man sich wie eine studentische Geheimverbindung mit magischen Ritualen vorzustellen hat.

    "Bei meiner Initiation war ich so ängstlich und benommen, dass mir fast schlecht wurde. Wie alle Kandidatinnen hatte ich zwei Tage lang nicht schlafen dürfen, hatte fasten und die für die "Hell Week", die Woche, in der die Kandidatinnen getestet wurden, gegebenen Anweisungen strikt befolgen müssen. Aus Angst, in letzter Minute doch noch abgelehnt zu werden, erduldete ich alle Prüfungen und Schikanen gehorsam."
    Doch dann revoltiert die Ich-Erzählerin gegen ihren Willen zur Anpassung. Sie provoziert mehrere Skandale, auch den Ausschluss aus Kappa Gamma Pi. Schließlich wird sie die Geliebte eines schwarzen Studenten und geht damit eine unschickliche Verbindung ein. Im dritten Teil des Romans, Oates hat ihn "Ausweg" genannt, lässt Anellia auch diese Revolte hinter sich. Sie reist quer durch Amerika, um den sterbenden Vater zu sehen. Sie dringt zu ihren familiären Wurzeln vor, also zu sich selbst. Sie sagt:

    "Der Fliege zeigen, wie sie aus der Flasche herausfindet? Zerbrich die Flasche."

    "Ausgesetzt" ist der Roman einer Bewusstwerdung, ein Initiationsroman. Biografische Fährten sind für Joyce Carol Oates dann interessant, wenn sie auf größere Zusammenhänge verweisen. Im vorliegenden Fall hält sie die Epoche der frühen sechziger Jahre fest, sie beschreibt den Mief an den Universitäten kurz bevor die Bürgerrechtsbewegung einsetzt, kurz bevor die Studentenrevolte Amerika umkrempeln würde. Oates, die genau wie Anellia ein Philosophiestudium absolviert hat, erforscht auch die Frage, wie und zu welchen Bedingungen persönliche Freiheit verwirklicht werden kann. Für die Schriftstellerin Joyce Carol Oates ist das Schreiben ein Mittel, um solchen Fragen nachzugehen, es entsteht so eine Verdichtung wie im Reagenzglas.

    "Ich schreibe wirklich gerne und viele Stunden täglich. Ich glaube, dass Menschen einander nicht stärker ansprechen können als durch die Literatur, die sehr emotionale und intensive Bilder in uns wachruft, und die eine höchst realistische Atmosphäre schaffen kann. Das ist für mich ein wichtiges und ganz ernstzunehmendes Abenteuer. Es ist keine Arbeit, sondern eine Berufung."

    In mehr als vierzig Jahren des Schreibens hat Joyce Carol Oates so einen ganzen Kosmos geschaffen. Man hat sie die Chronistin des weißen Amerikas genannt, ihr Blick reicht von den Planwagen, die nach Westen ziehen bis zu den einstürzenden Twintowers von New York. Dabei sind es die Soll- und Bruchstellen der Geschichte, die Oates besonders faszinieren, die Verschiebungen im Magma, bevor es zu einer weiteren Eruption kommt. Wie kaum eine andere Autorin versteht sie es, die große mit der kleinen Geschichte zu verbinden. Ihre Figuren sind typisch für die Zeit, in der sie leben, trotzdem treten sie dem Leser ganz unverwechselbar entgegen. Die Epoche kreuzt sich mit dem Trauma. Bei Anellia sind es die verstorbene Mutter und der trinkende, abwesende, tot geglaubte Vater, deren gemeinsame Vorgeschichte wiederum bis zur Judenverfolgung im Deutschland der dreißiger Jahre reicht.

    "Mich interessiert dabei, wie die Gewalttat einer Generation sich auf die nächste und die übernächste Generation auswirkt. Und wie sie die Entwicklung einer Familie und das Leben der Menschen verändert. Ich schreibe selten direkt über Gewalt, sondern über ihre Folgen vor allem für die Frauen und Kinder."

    Anellia, die übrigens gar nicht so heißt, sondern die sich diesen Namen selbst gegeben hat mit allen beabsichtigten Konnotationen der Null, des Nichts und der Annihilierung, ist bereits eine Außenseiterin, bevor sie sich selbst brandmarkt. Sie nimmt den zehn Jahre älteren Schwarzen Vernor Matheius zum Liebhaber, genau genommen erniedrigt sie sich so lange, bis Vernor sich ihrer annimmt, und sie noch weiter erniedrigt. Anellias sexueller Aufbruch stellt also eine Rückkehr dar in erstarrte patriarchalische Strukturen. Hier sieht man, wie raffiniert Joyce Carol Oates zu Werke geht. Sie thematisiert die Verbindung der Weißen mit dem Schwarzen in allen Facetten nur nicht in der einen. Sie hat der Versuchung widerstanden, aus Anellia und Vernor eine tragische Liebesikone der frühen sechziger Jahre zu machen.

    Anellia geht. Sie lässt den egomanischen Vernor hinter sich. Sie veröffentlicht ihre erste Sammlung mit Kurzgeschichten, der Lebensweg der Schriftstellerin zeichnet sich bereits ab.
    Aufgrund dieser vielen biografischen Parallelen dürfte "Ausgesetzt" Joyce Carol Oates persönlichster Roman sein. Oates, die sich als Autorin einem erzählerischen Naturalismus verschrieben hat, geht hier verschlüsselter als sonst zu Werke. In den drei Teilen des Romans setzt sie Schlaglichter, die fragmentarischen Charakter haben. Die Bezüge zur Zeit, den Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, muss der Leser selbst herstellen. Reiht man das Buch in den Kanon der Autorin ein, findet es mühelos seinen Platz und seine Bedeutung. Auf sich allein gestellt, wirkt dieser Roman weniger geschlossen als seine Vorgänger.

    Joyce Carol Oates: Ausgesetzt
    Fischer Verlag
    335 Seiten gebunden
    19,90 Euro