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Verdis leidender Volkstribun

Es gibt Verdi-Opern mit so verworrener Handlung, dass man das Programmheft entmutigt zur Seite legt. Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" ist so ein sperriges Werk, aber es reizt in seiner Mittelstellung zwischen Belcanto- und veristischer Oper. Jetzt kam es zur gleichen Zeit in Paris heraus und in Amsterdam.

Von Frieder Reininghaus |
    So oder so – jede Inszenierung dieser Verdi-Oper muss damit umgehen, dass (und mitunter wird dies lauthals verhandelt) sich Genua im lang andauernden Kriegszustand mit Venedig befindet (auch im Kampf gegen Florenz, Pisa und fast dem ganzen Rest der Welt). Immer wieder zeigen sich heftige Zusammenstöße der politischen Parteien – im Ratsaal und auf der Straße. Schwiegervater, Schwiegersohn und sein vormals bester Freund verschwören sich gegen den Mann im Zentrum des Geschehens. Patrizier contra Plebejer.

    An diesen Aspekt des noch einmal von Herzen politischen Verdi-Werks (und dessen Aktualität) erinnern das Plakat und die Fotos des Pariser Programmbuchs ebenso wie Details der Inszenierung von Johan Simons. Da gehen die Blicke aus dem neuen Pariser Opernhaus hinaus auf die Place de la Bastille mit den Spuren der jüngsten Protestwelle gegen die neue Arbeitsmarktpolitik der französischen Regierung.

    Flugblätter und zertretene Plastikbecher übersäen den Boden.
    Mit historischen Dimensionen und Simone Boccanegras nationalem Einheitspathos hat Regisseur Simons nichts im Sinn. Er ließ Bert Neumann ein fernsehgerechtes Wahlkampflokal bauen, das von einer Bühne mit dem übermächtigen Konterfei des Dogen Fiesco bestimmt und einem imposanten Silberglitzervorhang gerahmt wird. Bei dieser Installation, einem Zitat der nun auch schon wieder verflossenen Ära Berlusconi, bleibt es – über alle Wechsel der Zeit und der vom Libretto vorgesehenen Handlungsorte hinweg.

    Nur wird eben nach Boccanegras Machtantritt das Riesen-Portrait des Fiesco durch dessen Konterfei in einer elektronisch geschönten Version ersetzt. Vor, neben und hinter der Bühne auf der Bühne wird parlamentiert und geputscht, beschwichtigt und verschworen, gefangen gesetzt und vergiftet – die Pariser Reduktion der optischen Mittel resultiert wohl aus der Absicht, den "ewigen Kreislauf" von Aufstieg und Verfall von Macht, die Kurzzeitigkeit menschlichen Glücks et cetera zu verdeutlichen. Leider stehen die Protagonisten, wenn sie nicht allzu theatral leiden, zu diesem Behuf so viel herum wie einst bei der legendären "Sänger-Oper", bei der die Regisseure kaum wagten, die teueren Stars außer zur Entgegennahme der Gage zu bewegen.

    Die Ruhe und Stabilität der Verhältnisse auf der Bühne wurde musikalisch genutzt. Sylvain Cambreling führte mit sichtlicher Anstrengung, Bemühung um Genauigkeit im Detail und Gespür für die Strömungsgeschwindigkeiten in den großen Tableaus zur Glanzleistung des Orchesters. Auch ohne Neil Shicoff, der die Partie des Aristokraten Gabriele Adorno absagte, war das Herren-Team in Paris vom Feinsten: Der noch junge Steffano Secco bewährte sich als Verschwörer und Liebhaber, kann aber rollenbedingt nicht so gewichtig wirken wie der väterliche Jacopo Fiesco, dem Ferruccio Furlanetto alle wünschenswerte Seriosität wie die Entschiedenheit des Herrschaftswillens verleiht.

    Carlos Alvarez beglaubigt ihm gegenüber den Aufsteiger Simon, der die Stunden der Liebe und der Macht zu nutzen weiß, mit seinen Versöhnungs- und Einheits-Appellen scheitert. Die Nuancierungen dieser zwei Männerstimmen und ihrer Darsteller allein schon macht den Abend hörens- und sehenswert – hinzu kommt die anmutige Ana María Martínez, die als Maria alias Amelia nach leichten Startschwierigkeiten den weiblichen Gegenpart zur Männerstimmenwelt mit jugendfrischer Bravour bestritt.

    Der auf Aktualisierung bedachten, freilich dem eigenen Transpositionsmodell erliegenden Pariser Realisierung der Verdi-Oper von 1857, in der Klassenkämpfe und Appelle zu nationaler Einigung nachhallen, steht eine restlos entpolitisierte Neuinszenierung in Amsterdam gegenüber. Der Berliner Staatsopernintendant Peter Mussbach ließ Erich Wonder eine schräge Ebene setzen, über und unter der sich sieben Nischen auftun. In und zwischen ihnen enthüllt sich die wechselvolle Lebensgeschichte der Maria/Amelia und, als Regie-Zutat, das Sterben ihrer als stumme Figur eingeführten Mutter sowie deren Fortleben im Gedächtnis von Simon und Jacopo – alles Historische und das geographische Kolorit wurden weggekürzt.

    Die Choristen der Konfliktparteien erscheinen samt und sonders wie Lemuren – ihrem Singen und Kämpfen wurde der höhere und tiefere Sinn ausgetrieben (Mussbach lässt nicht einmal Erinnerung an Klassenkämpfe zu – auch den Wechsel zwischen Außen- und Innenansicht nicht, den der Komponist ausdrücklich nachträglich eingearbeitet hat, um, wie er schrieb, der "monotonia di tanti interni" entgegenzuwirken).

    Zum Ausgleich entfaltet sich das Farbspiel auf den Tüchern, welche die schrägen Kammern begrenzen, in betörender Schönheit: von dunklen Blautönen zum Prolog wechselt das Licht zu grün-beige dominierten Naturfarben zu dem ohne Zäsur sich anschließenden 1. Akt – und in unterschiedlichen Kombinationen kehren die Fermente des schönen Scheins wieder. Der Hinweis auf einen Zeitsprung von 25 Jahren unterbleibt; erahnbar wird er vielleicht dadurch, dass dem Auftritt der massiv-übergewichtigen Sängerin Angela Marambio der eines grazilen Kindes vorangeht. Überhaupt stellt die Inszenierung diese Sopranistin weithin an die Seite und rückt – dies mag psychoanalytisch motiviert sein – immer wieder die stumme Mutter-Figur in die Mitte der Protagonisten.

    Das Rotterdams Philharmonisch Orkest, das Ingo Metzmacher bei dieser Produktion leitet, spielt in einer anderen Liga als das Pariser Opern-Orchester. Doch animiert er es zu elastischem Spiel; auch verfügt er mit Andrzej Dobber und Roberto Scandiuzzi gleichfalls über zwei profunde Protagonisten (über andere schweige des Sängers Höflichkeit). Da es sich bei der Oper im Allgemeinen und bei dieser im besonderen um ein Gesamtkunstwerk handelt, bleibt das Ganze ein Desiderat – musikalisch nicht voll befriedigend, szenisch deplaziert und enthirnt.