Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv


Verdrängte Gräueltaten

Der 2. Weltkrieg begann keineswegs, wie viele hierzulande glauben, im September 1939. Im Osten Afrikas bekamen die Menschen schon früher den faschistischen Eroberungs- und Vernichtungswahn zu spüren. Am 3. Oktober 1935 schlugen Mussolinis Truppen in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, mit modernem Vernichtungsarsenal und bis dahin ungekannter Brutalität zu. Im Nachkriegsitalien mochte man an diese Gräueltaten nicht mehr erinnert werden. Hatten Partisanen doch immerhin den faschistischen Diktator an einer Tankstelle aufgeknüpft und konnte man sich auf einen aktiven Widerstand berufen, der mutig und unter großen Opfern sich der Achse Berlin-Rom in den Weg zu stellen versucht hatte. Es hat lange gedauert, bis die Versuche, sich der eigenen Geschichte zu stellen auch Gehör fanden. Eine juristische Bearbeitung der Verbrechen hat allerdings bis heute kaum stattgefunden. 70 Jahre nach den kolonialistischen Massakern hat eine Historikerkonferenz in der Schweiz sich des Themas angenommen. Die Beiträge dieser Tagung sind jetzt in einem Sammelband erschienen, herausgegeben von Aram Mattioli und Asfa-Wossen Asserate.

Von Ruth Jung | 17.09.2007
    Am Morgen des 23. Dezember 1935 ( ... ) erschienen einige Flugzeuge am Horizont. Ich war nicht sonderlich beunruhigt, denn an Bombenangriffe hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. An diesem Morgen jedoch warfen die Flugzeuge keine Bomben ab, sondern eigenartige Fässer, die, sobald sie den Boden berührten, explodierten. Bevor ich begriff, was geschah, waren hunderte meiner Männer mit einer fremdartigen Flüssigkeit benetzt und schrien vor Schmerz. Ihre nackten Füße, Hände und Gesichter waren von Blasen überzogen. Diejenigen, die aus dem Fluss getrunken hatten, wälzten sich am Boden und kämpften stundenlang mit dem Tod. ( ... ) Meine Offiziere hatten sich um mich versammelt und verlangten nach Instruktionen. Doch ich war wie betäubt; ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen sagen und wie man gegen einen Regen kämpfen sollte, der verbrennt und tötet.

    Der todbringende Regen war Yperit, Senfgas, über das Land gebracht von Flugzeugen der italienischen Luftwaffe. Allein zwischen dem 23. Dezember 1935 und dem 29. März 1936 detonierten 300 Tonnen Senfgas auf äthiopischem Boden.

    Über die Auswirkungen der zu dieser Zeit völkerrechtlich bereits geächteten Waffe gibt der Zeugenbericht von Ras Immirù Haile Selassie Aufschluss, den der Historiker und Journalist Angelo Del Boca 1965 in Addis Abeba aufgezeichnet hat. Seit Mitte der 60er Jahre bemüht sich Del Boca um die Aufarbeitung der verdrängten Vergangenheit. Den massenhaften Einsatz chemischer Waffen vor allem gegen die äthiopische Zivilbevölkerung wollte man in Italien nämlich nicht wahrhaben.

    Dass es sich beim italienischen Faschismus keineswegs um eine harmlosere Spielart faschistischer Diktatur gehandelt hat, sondern von Anfang an um ein auf territoriale Eroberung ausgerichtetes, rassistisch begründetes mörderisches Unternehmen, das zum Modell werden sollte für den folgenden Vernichtungskrieg, dies ist die zentrale These und Klammer der zwölf Beiträge des Sammelbandes.

    Italiens Aggression gegen das Kaiserreich Äthiopien stellt ein Schlüsselereignis in der Gewaltgeschichte der Weltkriegsepoche dar ( ... ) Was auf den ersten Blick als verspäteter Feldzug in der langen Geschichte kolonialer Expansion anmutet, war in Wahrheit und in der Tat ein mit ausgeklügelter Logistik, immensem Aufwand und moderner Technologie geführter Eroberungskrieg, der das Tor zu neuen Dimensionen organisierter Gewalt aufstieß.

    schreibt der Schweizer Historiker Aram Mattioli. 2005 legte Mattioli eine grundlegende Studie über den Abessinienkrieg als Experimentierfeld der Gewalt vor; nun firmiert er zusammen mit dem äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate als Herausgeber der Beiträge deutscher, italienischer und äthiopischer Autoren, die den italienischen Eroberungsfeldzug unter vielfältigen Aspekten auszuleuchten versuchen. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass auch der italienische Faschismus eine todbringende Diktatur war; dass dieser Tod vor allem Afrikaner traf, ist in Italien selbst jedoch noch immer ein Tabuthema. In seinem Beitrag "Yperit-Regen. Der Giftgaskrieg" räumt Angelo Del Boca daher gründlich auf mit dem Mythos der "brava gente". Die Mehrzahl der vermeintlich braven Italiener nämlich, stellt der Autor zornig fest, sei in ein mörderisches System verstrickt gewesen, das über zwanzig Jahre andauerte und dessen Grundlage der Rassismus war.

    Die Bevölkerungspolitik ist für Italien und andere von der weißen Rasse bevölkerte Länder eine Frage über Leben und Tod. ( ... ) Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren eventuelle Verteidiger.

    tönte Mussolini 1935. Mit größter Brutalität und Menschenverachtung mordeten Mussolinis Soldaten im Namen Italiens in dem ostafrikanischen Land, das zum Völkerbund gehörte. Angeführt wurden sie bei der am 3. Oktober 1935 einsetzenden Aggression von Vize-König Rodolfo Graziani, befehligt vom späteren Ministerpräsidenten Pietro Badoglio und gesegnet von Papst Pius XI. Mit allen Mitteln ging die Besatzungsmacht schließlich daran, ein imperiales Großraumprojekt durchzusetzen und installierte zu diesem Zweck ein Apartheidsystem, das, wie Gabriele Schneider in ihrem Beitrag aufzeigen kann, über Jahre perfekt funktionierte:

    Hier wurde die Segregation mit einer Intensität betrieben, die manches von dem antizipierte, was seit 1948 unter dem Begriff "Apartheid" vollzogen wurde: die rassentrennende Politik Südafrikas und der Versuch, die Privilegien einer weißen Minderheit mittels der rigorosen Ausgrenzung der schwarzen Mehrheit zu sichern.

    Wie die italienische Gesellschaft im Innern zu mobilisieren war, mit welchen Mitteln der Konsens hergestellt wurde, das erhellt Petra Terhoeven am Beispiel der sogenannten Giornata della Fede vom 18. Dezember 1935. Am Erfolg dieser Aktion lasse sich nachweisen, wie groß die Zustimmung gerade auch von Frauen zum Überfall auf Äthiopien gewesen war. An jenem Tag folgten Italienerinnen massenhaft dem Aufruf, ihren goldenen Ehering für das Vaterland zu spenden. Eröffnet wurde die kollektive Ringspende in Rom von Königin Elena. Als einen besonderen italienischen Erinnerungsort definiert Terhoeven diesen Tag; in den ausgewerteten hundert Zeitzeugenberichten jedoch findet die Historikerin keinerlei Hinweise auf ein Bewusstsein über den historischen Hintergrund der Aktion - den Abessinienkrieg:

    Der beziehungsweise die einzelne erschien als Spielball skrupelloser Mächte. Ohne jede Möglichkeit der Einflussnahme und entsprechend auch ohne jegliche Verantwortung für das allgemeine Geschehen erlebte er die Geschichte als eine Kette leidvoller Erlebnisse. ( ... ) Es gelingt den Berichterstattern auch, die gesamte Kolonialpolitik des italienischen Faschismus und vor allem die ganz überwiegend begeisterte Aufnahme dieser Politik in der Bevölkerung auszublenden. ( ... ) Bemerkenswerterweise hält sich denn auch kein einziger der zur Verfügung stehenden Erinnerungsberichte mit dem eigentlichen problematischen Hintergrund der Goldsammlung auf: mit der Völkerrechtswidrigkeit des Angriffs auf Äthiopien und der Art der italienischen Kriegführung.

    Mit der Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien befasst sich der renommierte Zeithistoriker Wolfgang Schieder. Seit der Entdeckung des sogenannten "Schranks der Schande" Mitte der 90er Jahre sei dies öffentlich Thema und Gegenstand einer "merkwürdig aufgeregten Debatte" geworden.

    In jenem Schrank im Militärarchiv in Rom fanden sich über 900 von den Alliierten angelegte Dokumente über Kriegsverbrechen in Italien. Verbrechen, die in Deutschland hätten geahndet werden müssen, wie Schieder meint, und die nun mit erheblicher Verspätung in Italien verfolgt werden. Das Versagen der Weltgemeinschaft, das sabotierte Kriegsverbrechertribunal gegen Pietro Badoglio und andere hochrangige Militärs, die auf der Kriegsverbrecherliste einer Kommission der Vereinten Nationen standen, bleibt indessen ein beispielloser Skandal, der sicher nicht allein dadurch zu erklären ist, dass Italien ein doppeltes Problem in seiner Erinnerungskultur zu bewältigen habe, wie Wolfgang Schieder schreibt:

    Es ist die doppelte Erfahrung faschistischer Gewaltherrschaft einerseits und nationalsozialistischer Unterdrückung andererseits, welche den Umgang der Italiener mit ihrer faschistischen Vergangenheit so schwer machte. Die Versuchung war groß, hier den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Vergangenheit pauschal zu entsorgen, ohne sich lange mit der Trennung des von 1922 bis 1945 angehäuften Geschichtsmülls zu befassen.

    Inzwischen stinkt der Müll zum Himmel und die Zeit scheint reif für eine unverstellte Sicht auf die Geschichte. Allzu lang war sie Zankapfel unterschiedlicher Kräfte, die sich um die Deutungshoheit stritten. Zu diesen Kräften zählt Wolfgang Schieder auch die institutionalisierte Resistenza-Erinnerungskultur. Wenn man bedenkt, dass bis Mitte der 90er Jahre Politiker und Journalisten, allen voran die graue Eminenz des italienischen Journalismus Indro Montanelli, der als Freiwilliger in Abessinien gewesen war, in der Öffentlichkeit hartnäckig die Giftgaseinsätze bestritten, dann wird klar, dass die historische Forschung noch einiges zu tun hat. Zum Beispiel die Rolle der Schwer- und Chemieindustrie herauszuarbeiten: Wer hat das Yperit hergestellt und daran verdient? Aber auch die Frage nach der Rolle Englands und der Alliierten bei der Verhinderung der Verfolgung der Kriegsverbrechen.

    Es bleiben viele Fragen offen und bedauerlich ist, dass die hier vorgestellten neuen Forschungsergebnisse, die Faschismusanalysen der 70er Jahre - stellvertretend seien nur Giorgio Candeloro und Maria Macciocchi genannt - völlig ausblenden.

    Asfa-Wossen Asserate und Aram Mattioli (Hg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935 - 1941
    Reihe Italien in der Moderne Bd. 13
    Sh-Verlag, Köln 2007, 197 Seiten, 29,80 Euro