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Vereinigte Staaten von Amerika
Blick zurück: Wendepunkt 1927

Die Weltmacht USA bröckelt: Das außenpolitische Engagement lässt nach, die wirtschaftlichen Probleme machen Washington zu schaffen - ebenso wie innenpolitische Querelen etwa um das Gesundheitsprogramm. Da wundert es nicht, dass die Amerikaner derzeit ein Buch gern lesen, das sich mit dem einstigen Aufstieg der USA zur Weltmacht befasst. "One Summer - America 1927" heißt es.

Von Tom Goeller |
    "This is Laurel Thomas in New York. He made it. Charles A. Lindbergh, Lucky Lindy as they call him, landed at Le Bourget airport, Paris, at 5:24 this afternoon, thus becoming the first person to fly New York to Paris non-stop."
    So klang am Abend des 21. Mai 1927 die Hauptnachricht in den Vereinigten Staaten. Sachlich, aber mit unverhohlenem Stolz in der Stimme verkündet der Reporter Laurel Thomas im Rundfunk von Küste zu Küste, dass Charles Lindbergh als erster Mensch den Atlantik im Direktflug überquert hat. 150.000 Franzosen haben Lindbergh erwartet, als er 33 Stunden nach seinem Start in New York auf dem Pariser Flughafen Le Bourget landet. Die ganze westliche Welt, Amerikaner und Europäer, feiern diese Leistung eines Einzelnen frenetisch.
    Für Bill Bryson stellt 1927 einen Wendepunkt dar, damals seien die USA binnen Monaten zur Weltmacht aufgestiegen. Um dies nachzuzeichnen, hat er sein Buch in fünf Kapiteln nach den Monaten Mai bis September 1927 und damit auch nach Ereignissen geordnet. Der Mai ist vordergründig dem "Kid" gewidmet, dem 25-jährigen Charles Lindbergh. Zur gleichen Zeit wie dessen Atlantikflug beschäftigt die amerikanische Nation jedoch auch ein Verbrechen. Es geht um die Hausfrau Ruth Snyder und ihren Liebhaber Judd Gray. Gemeinsam haben sie Snyders Ehemann getötet. Bryson widmet vor allem der Berichterstattung über diesen Mordfall viel Raum, denn sie erkläre einen wesentlichen Teil des Zeitgeists der 20er-Jahre:
    "Die 20er-Jahre waren eine Blütezeit des Lesens, wahrscheinlich der Höhepunkt der Lesefreudigkeit in Amerika. Readers Digest wurde 1922 gegründet, das Time-Magazin folgte 1923. Und die Boulevardblätter verkauften je Titel Auflagen von bis zu 600.000 pro Tag. So kam es, dass die Berichterstattung über den Snyder-Gray-Fall 1927 mehr Platz einnahm als jede andere Nachricht."
    Bryson führt den Leser anhand von zahlreichen amüsant zu lesenden Kuriosa durch den Sommer: Man erfährt von der ersten primitiven Fernsehsendung und von den Flappers, das sind junge Damen, die den Charleston in hundert Meter Höhe auf der Balustrade eines Wolkenkratzers tanzen. Herausragend ist das vierte Kapitel über den August 1927, in dem es um die Hinrichtung der beiden Italo-Amerikaner Sacco und Vanzetti geht. Sie waren aktiv in der politisch linken Arbeiterbewegung der USA.
    Wegen der angeblichen Beteiligung an einem Raubmord wurden sie trotz nicht eindeutiger Faktenlage zum Tode verurteilt. Ihre Hinrichtung am 23. August 1927 führte weltweit zu Massenprotesten. Die ganze Sympathie, die Lindbergh im Mai für die USA gewonnen hatte, verspielte die amerikanische Justiz im August. Indem Bryson auf mehr als 500 Seiten wechselweise mit Amüsements und mit historischen Fakten durch fünf Monate des Jahres 1927 führt, bringt er den Leser auf die Spur zu seiner Ausgangsthese.
    Bill Bryson ist davon überzeugt: Das Jahr 1927 stellt in der Summe an Einmaligkeiten einen Wendepunkt dar, der bisher als solcher nicht erkannt worden sei. Zum einen in der transatlantischen Wahrnehmung, habe doch gerade die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti offengelegt, dass es in der Alten und der Neuen Welt grundlegend verschiedene Auffassungen von Gesetz und Moral gegeben habe.
    Zum anderen sei damals der Grundstein für eine technische und wirtschaftliche Vormachtstellung der USA gelegt worden. Nach Lindberghs Erfolg seien 100 Millionen Dollar in die amerikanische Flugzeugindustrie investiert worden, sodass William Boeing seine Werkstatt in Seattle innerhalb weniger Jahre zur größten Flugzeugbaufirma der Welt ausbauen konnte, während in Europa der Jubel verhallte und nichts geschah. Es sei vor allem die Flugzeugindustrie gewesen, so Bryson, und die daraus resultierenden weiteren Entwicklungen, die Amerika seit 1927 gegenüber der übrigen Welt technisch so weit nach vorne gebracht hätten, dass der Vorsprung bis heute anhält. Die Historiker, Politikwissenschaftler und klassischen Medien der USA nehmen von dieser Ansicht indes keine Notiz; die "Washington Post" verriss das Buch gar mit den Worten "es bietet Null-Erkenntnis".
    Lediglich bei der in San Francisco erscheinenden Internetplattform Goodreads, die großen Einfluss auf den amerikanischen Buchmarkt hat, wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Bryson zu erklären verstehe, warum "in diesem Jahr Amerika die Weltbühne betrat". Begonnen hatte es mit Charles Lindbergh.