Samstag, 04. Mai 2024

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Olympia 1992
Das "Vereinte Team" und der sportliche Zerfall der Sowjetunion

Nur ein halbes Jahr nach dem Auflösen der Sowjetunion gehen viele ehemalige Sportlerinnen und Sportler der Sowjetunion bei den Olympischen Spielen 1992 als "Vereintes Team" an den Start. Es wurde ein zähes Ringen um Olympia-Startplätze und Unabhängigkeit, aber in einigen Sportarten auch eine Erfolgsgeschichte.

Von Tatjana Schweizer | 03.10.2022
Vereintes Team nach dem sportlichen Zerfall der Sowjetunion bei den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona.
Drei Sportler aus drei Ländern der ehemaligen Sowjetunion auf dem olympischen Siegerpodest im Kunstturnen. Drei Flaggen werden hochgezogen: Die belarussische, die ukrainische und die aserbaidschanische. Doch der Sieg gehört nur einem Team, dem sogenannten Vereinten Team. Hier in Barcelona 1992, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, traten sowjetische Sportler zum letzten Mal gemeinsam auf. Ein halbes Jahr davor debütierte dieses Vereinte Team bei den Winterspielen in Albertville, nur sechs Wochen nachdem die Sowjetunion – und damit ihre Staatsorgane - aufhörten zu existieren. Neue Staatsstrukturen wie Olympische Komitees bildeten sich erst.

Das "Vereinte Team" als einzige Option für die Olympia-Teilnahme

"Das Vereinte Team war notwendig für die Sportler", sagt der russische Sportjournalist Alexandr Schmurnov: "Andernfalls, wenn sie beispielsweise Ukraine oder Kirgistan hätten vertreten wollen, hätten sie die Spiele verpasst. Es war in dieser kurzen Zeit nicht möglich, Dokumente für die Aufnahme einer Nationalmannschaft rechtzeitig vorzubereiten." Das Vereinte Team trat in Albertville neutral auf. Statt der roten sowjetischen wurde die weiße olympische Flagge gezeigt. Statt Hammer und Sichel – fünf bunte Ringe. In Barcelona wurde es etwas farbiger: Bei Siegerehrungen der Sportler im Einzelwettbewerb spielte die Hymne ihrer Heimatländer und es wurde ihre Nationalflagge verwendet.
Darius Kasparaitis: "Noch im Dezember 1991 bei der Weltmeisterschaft der Junioren in Deutschland spielten wir in Trikots, auf denen UdSSR stand – und schon nach Silvester trugen wir neutrale Shirts", erinnert sich Darius Kasparaitis, der damals als Eishockeyspieler Teil des Vereinten Teams war und mit 19 Jahren in Albertville Olympiasieger wurde. Kasparaitis war nicht der einzige im Vereinten Team, für den Olympische Spiele der erste große Wettbewerb waren. Ende der 1980er - Anfang der 1990er Jahre erlebte das einstige Imperium nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Turbulenzen. Das Geld wurde knapp, die Finanzierung gekürzt, talentierte Sportler reisten auf der Suche nach einem besseren Leben ins Ausland. "Unsere Mannschaft war sehr jung, ich bin unerwartet dort gelandet", sagt Kasparaitis: "Das Durchschnittsalter lag wahrscheinlich bei 23 Jahren. Die Mannschaft bestand nicht aus Berühmtheiten, zu dem Zeitpunkt waren sie alle schon weg".

Große Herausforderungen bei Vorbereitung auf Olympia 1992

Auch die Vorbereitung auf die Sommerspiele war schwer für das Vereinte Team. Der Trainer der Box-Mannschaft Konstantin Koptsev musste sogar in die eigene Tasche greifen, um seine Sportler auf die Spiele vorzubereiten. Darüber hinaus herrschte innerhalb des Teams Konkurrenz zwischen den neu gebildeten Staaten, sagt Koptsev: "Nachdem die Unabhängigkeit der Staaten erklärt und das Vereinte Team gebildet wurde, versuchte jeder Vertreter der einzelnen Länder seine Sportler in das eine Team reinzukriegen. In meinem Fall kam es sogar zu Drohungen."
Drei postsowjetische Länder wollten allerdings nicht um die Plätze im Vereinten Team ringen. Lettland, Litauen und Estland traten 1992 als unabhängige Nationen an. In den 1920 er bis 30er-Jahren waren diese Länder schon mal Teil des IOC gewesen. Doch mit dem Stalin-Hitler-Pakt 1939 verloren sie Ihre Unabhängigkeit an die Sowjetunion. "Estland, Lettland und Litauen hatten über 40 Jahre auf das Ende der sowjetischen Okkupation gewartet. Es war offensichtlich, dass sie die Chance ergreifen werden, sobald sie sich ergibt," sagt der Journalist Alexandr Schmurnov.

Sport im Baltikum als Zeichen für Unabhängigkeit und Souveränität

Ende der 80er wurden Forderungen nach Unabhängigkeit im Baltikum immer lauter, Proteste – immer größer. Auch im Sport strebte man nach Souveränität. Schon Ende 1988 und Anfang 1999 hatten Lettland, Estand und Litauen ihre Olympischen Komitees wieder ins Leben gerufen. Doch anerkannt hat sie das IOC erst zwei Jahre später, als klar wurde, dass die Sowjetunion kurz vor dem Fall stand. Der frühe Kampf um die Souveränität habe sich für baltische Sportler gelohnt, sagt Alexandr Schmurnov, denn: "nicht umsonst waren sie auf die Spiele in Albertville vorbereitet, während die meisten Staaten noch abwarteten. Trotz dem Zusammenbruch der Sowjetunion wussten wir nicht wirklich, was weiter noch passiert".
Allerdings durften die Sportler aus Lettland, Litauen und Estland entscheiden, ob sie in ihren Nationalmannschaften oder in dem Vereinten Team auftreten. So spielten in der vereinten Basketballmannschaft zwei Letten. Und der Litauer Darius Kasparaitis war Verteidiger im Eishockey-Team: "Ich habe mich für das Vereinte Team entschieden, weil in Russland immer das beste Eishockey gespielt wurde. Aber mein Gefühl war, dass ich trotzdem auch Litauen repräsentieren werde, denn alle wissen, dass ich dort herkomme. Ich habe danach noch bei drei weiteren Olympischen Spielen für Russland gespielt, die Litauer waren damit allerdings nicht besonders zufrieden"
Die Mannschaft des Vereinten Teams gewann in Albertville 1992 Gold durch ein 3:1 im Finale gegen Kanada – trotz des sehr jungen Teams und des politischen und wirtschaftlichen Chaos. Im Medaillenspiegel belegten die einst sowjetischen Spieler den zweiten Platz in Albertville und den ersten in Barcelona. Das Ergebnis wäre nicht so gut ausgefallen, wenn die Nationen einzeln an den Start gegangen wären, findet Konstantin Koptsev: "Alle haben ja so lange in einem Team trainiert, nach einer bestimmten Methodik, jeder kannte die Besonderheiten. Deswegen war es gut, dass wir noch zusammen auftraten".