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Vererbt oder erworben?

Genetik. - Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war ein großer Durchbruch für die Molekularbiologie, aber es folgte auch eine gewisse Ernüchterung. Denn immer noch nicht ließ sich das Leben verstehen. Kein Wunder, dass sich Wissenschaftler wieder verstärkt für das Mechanismen abseits der DNA interessieren. Diese Feld nennt sich Epigenetik, über die Genetik hinaus. In Berlin war es Thema einer Konferenz.

von Volkart Wildermuth |
    Veranstaltet wird die Tagung vom Berliner Zentrum für Literaturforschung. Bücher und Biologie - für die Direktorin des ZfL, Professor Sigrid Weigel, ist das kein Widerspruch.

    "Epigenetik, das ist so etwas zugespitzt formuliert, der Punkt, wo sich Kultur und Natur treffen."

    In einem großen Forschungsprojekt wird dieses Grenzgebiet gerade kartiert. Es geht ganz generell darum, was die eine Generation an die nächste weitergibt. Und das sind eben nicht nur Geld und Gene sondern auch Erfahrungen. Weigel:

    "Die früher benutze Formulierung der Vererbung erworbener Eigenschaften ist ein bisschen missverständlich, weil man zu dem Erworbenen so etwas wie Lesen lernen, Klavierspielen und ähnliches rechnet, darum geht es nicht, aber es geht darum zu fragen, inwieweit Verhaltensweisen, Essgewohnheiten, Lebensumstände und so weiter der vorausgegangenen Generationen sich auswirken in den Nachkommen, im Organismus der Nachkommen insofern ist es eine Frage der Kultur."

    Was da konkret weitergegeben wollte Professor Marcus Pembrey von der Universität Bristol herausfinden. Er hat in großen Bevölkerungsgruppen in Schweden und England über Jahre verfolgt und entdeckt, dass die Sünden der Väter auf ihre Kinder zurückschlagen können. Pembrey:

    "”Wenn der Vater vor der Pubertät mit dem Rauchen begann, vor seinem 11. Geburtstag, dann waren seine Söhne fetter als Söhne von Vätern, die spät oder gar nicht mit dem Rauchen begannen. Wir haben uns auch die Generation der Großeltern angesehen. Wenn die Väter der Väter in ihrer Kindheit wenig zu essen hatten, dann beeinflusste das das Risiko ihrer Enkel für Diabetes und Herzkrankheiten und deren Lebenserwartung. Irgendwie wird die Information über die Umwelt über die Spermien übertragen und beeinflusst das Leben der Nachkommen.""

    Zwar wird die eigentliche genetische Information, die DNA nicht verändert. In einer Hungersnot werden aber andere Teile des Erbguts aktiviert, und wenn der Schalter für dieses Notprogramm erst einmal umgelegt ist, lässt es sich nur schwer wieder abschalten. Marcus Pembrey stellt sich vor, dass sozusagen Lesezeichen an der DNA befestigt werden, die an die Kinder weitergegeben werden. Wo diese Lesezeichen im Fall des Hungerprogramm liegen könnten, ist noch unklar. Professor Art Petronis von der Universität Toronto ist da schon weiter. Er untersucht Genvarianten, die das Risiko für psychische Krankheiten erhöhen, allerdings nur wenn sie von einem bestimmten Elternteil ererbt werden. Petronis:

    "”Wir haben beobachtet, dass eine Variante des Chromosoms 18 zur manischen Depression beiträgt, aber nur wenn sie vom Vater kommt. Während das Chromosom 22 der Mutter für die Schizophrenie wichtig ist. Das heißt, es gibt epigenetische Effekte, die je nach dem Elternteil verschieden sind und die Schizophrenie und Depression beeinflussen.""

    Auch in diesem Fall gilt, die eigentliche genetische Information ist gleich. Nur legen Männer und Frauen ihre Lesezeichen an verschiedenen Stelle ab und bestimmen so, ob eine Genvariante zum Tragen kommt oder nicht. Diese Lesezeichen bestehen in kleinen chemischen Gruppen, die direkt mit der DNA verknüpft sind. Es gibt aber noch andere Formen der epigenetischen Vererbung. In Hefezellen können Eiweiße, die mit dem Erreger des Rinderwahnsinns verwandt sind, den Stoffwechsel über Generationen hinweg umsteuern. Und Mütter geben ihren Babys nicht nur Gene sondern in der Muttermilch auch Antikörper mit, die die Entwicklung des Immunsystems beeinflussen. Selbst der erste Kuss an ein Neugeborenes übermittelt nicht nur Liebe sondern auch Informationen. Die Bakterien aus dem Mund der Eltern besiedeln den des Babys und beeinflussen so spätere Krankheitsrisiken. Es gibt so viele Varianten der biologischen Vererbung neben der DNA, dass die Wissenschaftssoziologin Evelyn Fox Keller vom Massachusetts Institute of Technology es für an der Zeit hält, die Gene nicht mehr in den Vordergrund zu stellen:

    "”Gene, was auch immer sie sein mögen, sind eingebettet in ein sehr komplexes system. Sie sind nur eines der Elemente die für die Entwicklung und die Vererbung verantwortlich sind.""

    So weit wollten die Naturwissenschaftler in Berlin nicht gehen. Sie sind fasziniert von den neu entdeckten Formen der Vererbung, aber sie betonen auch, dass die meisten von ihnen das klassische genetische Programm nur ein wenig modifizieren.