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Vererbung ohne DNA

Genetik. - Die DNA ist der Träger der Erbinformation. Doch sie bestimmt nicht allein über die Vererbung. Die Art und Weise, wie diese Erbinformationen gelesen werden, wird anscheinend auch mehr oder weniger an die folgenden Generationen weitergegeben. Diese epigenetische Vererbung war ein Thema bei der Jahrestagung der deutschen Humangenetiker in Aachen.

Von Michael Lange | 03.04.2009
    Eine Giraffe muss sich immer weiter nach oben strecken, damit sie an die saftigen Blätter der hohen Bäume gelangt. Dennoch haben ihre Giraffen-Jungen keinen verlängerten Hals. Vielmehr geht alles viel langsamer: Mit zufälliger Mutation und anschließender Auslese, also Selektion. Das bedeutet: Die Eltern können die besten Schifahrer sein, ihre Kinder müssen dennoch auf dem Idiotenhügel bei Null anfangen. Denn Umwelteinflüsse und Erfahrungen lassen sich biologisch nicht an die nächste Generation weiter geben. Manchmal aber doch. Das zeigen Forschungsergebnisse mit Ratten, die Carlos Guerrero-Bosagna von der Washington-State University in Pullman, USA, beim Jahrestreffen der deutschen Humangenetiker in Aachen vorstellte.
    "Wir haben schwangeren Versuchstieren den Wirkstoff Vinclozolin verabreicht. Und zwar in der Phase, in der gerade das Geschlecht des Embryos festgelegt wird. Wir konnten dann zeigen, dass der Embryo eine typische Hormonstörung entwickelt. Überraschenderweise zeigte sich die gleiche Störung aber auch in der nächsten Generation, der F2, der übernächsten, der F3, und sogar in der F4."

    Vinclozolin ist ein hormonähnlicher Wirkstoff aus Pflanzenschutzmitteln. In Deutschland ist er verboten. Seine Wirkung beruht nicht auf zufälligen Mutationen. Im genetischen Code der Ratten fanden die Forscher keine Veränderungen der DNA. Stattdessen entdeckten sie Veränderungen der Epigenetik, der Steuerungsmechanismen am Erbgut. Bestimmte Methylgruppen, die als Schalter an der DNA sitzen, wurden bei den Embryonen verändert. Einige Gene wurden an-, andere ausgeschaltet. Das ist nichts besonderes, denn die Epigenetik reagiert ständig auf die Umwelt. Neu ist allerdings, dass auch die folgenden Generationen betroffen sind. Guerrero-Bosagna:

    "Bei der F3 Generation haben wir etwa 34 Regionen gefunden, in denen das Methylierungsmuster verändert war. Das heißt, es wurden einige Gene anders reguliert. Einige dieser Erbanlagen spielen bei der Steuerung des Hormonhaushalts eine wichtige Rolle. Wir wissen noch nicht, was das genau zu bedeuten hat. Aber es ist klar, dass sich die Biologie der Tiere dauerhaft verändert hat – durch die veränderte Methylierung."

    Das bedeutet: Die Substanz Vinclozolin hat Einfluss auf die Nachkommenschaft der Ratten. Die Umwelt hat die Biologie der Tiere direkt beeinflusst – und zwar über Generationen hinweg. Etwas ähnliches wird auch bei Menschen vermutet, so Klaus Zerres, Humangenetiker vom Universitätsklinikum Aachen.

    "Es gibt sehr gute Informationen darüber, dass die Ernährungssituation meiner Großeltern in bestimmten Phasen für mich Bedeutung erlangt: was mein Risiko zum Beispiel für Herzkreislaufkrankheiten angeht. Wir wissen heute aus bestimmten Studien auch, dass sehr frühes Rauchen der Großeltern auf die Enkel einen Effekt haben kann. Es gibt ganz erstaunliche Phänomene, die gewissermaßen durch Generationen durchgereicht werden können."

    Viele Umweltfaktoren haben Einfluss auf die Methylierungsmuster im Erbgut. Nicht nur Umweltschadstoffe oder Medikamente hinterlassen hier ihre Spuren. Auch Ernährungsweise und Bewegungsverhalten wirken sich auf die Epigenetik aus. Sogar liebevolles mütterliches Verhalten oder traumatische Erlebnisse wirken auf die Epigenetik. Das konnte in Tierversuchen gezeigt werden. Wenn sich die nun vorgestellten Ergebnisse bestätigen, gilt das auch für Menschen – und nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für spätere Generationen.