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Verfalls-Visite

Sommer 2003. Kulturkrisengebiet München. - Hier soll es ja ganz schlimm sein. Auch wenn man das kaum glauben mag. Aber genau das ist ja das Schlimme. München stehe in dem idiotischen Ruf, so etwas wie die exquisite Schlaraffenlandabteilung in einem sonst ärmlicher ausgestatteten Deutschland zu sein, klagte vor genau einem Jahr die Süddeutsche Zeitung, kurz nachdem Oberbürgermeister Christian Ude den Bankrott der Stadt erklärt hatte. Aber vielleicht - so mutmaßte die Süddeutsche weiter - vielleicht würde eben drum nun endlich bundesweit ein Umdenken einsetzen. Denn wenn selbst die angeblichst schickste Stadt Deutschlands zur Ruine verfalle, dann könne man doch schlechterdings nicht mehr an der Finanzkrise der Kommunen vorbeisehen. Aber: wenn der Verfall Münchens nun gar nicht sichtbar ist?

Von Walter Filz |
    Wenn der Besucher der Stadt, kaum dass er im Pschorr-City-Parkhaus aus dem Auto steigt, mit dem omnipräsenten Glamour einer selbstbewussten Kulturmetropole konfrontiert wird? Jedenfalls haben die Garagenbetreiber gleich neben dem Aufzug ein kleines Poster an die Wand gepinnt: Wir parken auch hier - darunter die Fotos prominenter Kulturrepräsentanten wie Uschi Glas, Ottfried Fischer, Sky Dumont. Mit dem Aufzug hinunter, Ausgang Kaufinger Straße, wo früh um zehn und mitten in der Woche schon fleißig geshopt wird. Von Depression keine Spur.

    Heitere Horden von Touristen ziehen durch die Einkaufsmeile zum Marienplatz, um dort andächtig dem Rathausglockenspiel zu lauschen.

    Und dem Reigen-Tanz der Schäffler zuzusehen, die an die letzte wirkliche Krise der Stadt erinnern: die Pest von 1517.

    Applaus - für das offenbar von keiner Etatkürzung betroffene automatische Figurentheater der Rathaus-Fassade. Aber wie sieht es hinter der Fassade aus? Rechts ums Eck, Burgstraße vier: Hier ist er, der Eingang zur "Geisterbahn" - wie das Kulturreferat intern genannt wird, seit es von Lydia Hartl geleitet wird: der angeblich Ungreifbaren, der angeblich Unmöglichen, der jedenfalls Ungeliebten. Auch an diesem Tag merkt die Münchner Lokalpresse mokant an, dass Frau Professor Dr. Dr. Hartl zu dieser und jener Angelegenheit wieder keine Stellungnahme abgeben wollte, wieder nicht erreichbar war, wieder kein Konzept vorgelegt habe. Das Referat steht unter Druck. Und am Eingang steht ein Schild: Vorsicht. Tür öffnet automatisch nach außen. - Nach innen einladend offen stehend dagegen die Tür nebenan, die zu Ludwig Becks Buch- und Weinladen "Dichtung und Wahrheit". Rechts an der Tür eine Tafel mit der aktuellen Weinempfehlung: heute Orvieto. Links an der Tür eine Tafel mit der aktuellen Gedichtempfehlung: heute Tabori. "Der Himmel ist unvermeidlich blau."

    Und die Kultur unterm blauen Münchner Himmel unverfinstert strahlend. Auf der Maximilianstrasse vereint sich der Sanierungsbaulärm an der Oper mit der Arien-Außenbeschallung von Rudolf Mooshammers Modeladen zu einer metropolitanen Klanginstallation kulturaler Restauration.

    Vor der Residenz referieren kulturhistorisch interessierte Gymnasiasten das Leben Ludwigs I.

    O-Ton Schüler: ... äh Sohn Maximilian I. - und ist König geworden im Alter von 39 Jahren ...

    Während kunstinteressierte Schüler in der Pinakothek der Moderne zeitgenössische Installationen erkunden.

    Sicher, den ein oder anderen ästhetischen Missklang gibt es auch. Zum Beispiel an der Museumsfassade die etwas überdimensioniert geratenen Ausstellungsplakate, gegen die Pinakothek-Architekt Stephan Braunfels gerade gerichtlich vorzugehen droht. Aber München kann halt nicht gut kleiner. Schon gar nicht in der Kulturwerbung. Noch immer heißen die dort kommunizierten Image-Leitbegriffe: Glanz und Lust. Noch immer sind die Werbe-Broschüren entsprechend hochglänzend und lustverheißend. Noch immer sieht München nicht nach Verfall aus. Auch nicht in den Augen der Münchner. Der maroden Musical-Bühne des "Deutschen Theaters" - von der Stadt zum unbezahlbaren Generalsanierungsfall erklärt und daher von der Schließung bedroht - haben zehntausende Besucher per Unterschrift bescheinigt, dass sie die Mängel nicht so schlimm fänden. Und auch die Theaterleitung erklärte nach gründlicher Inspektion, das Haus sei in keinem schlechteren Zustand als das Rathaus. Wo die Puppen ja auch ohne Funktionsstörung tanzen.

    Jeden Tag. Und auch an diesem. Dessen geringe kulturelle Verluste die Abendzeitung mit exakt 720 Gramm angibt. 720 Gramm Stuckmörtel, die sich von der Heilig-Geist-Kirche gelöst haben und auf eine Markise am Viktualienmarkt gefallen sind. Das erzbischöfliche Baureferat bestreitet energisch jede Symptomatik oder gar Symbolik des Fassadenschadens und erklärt: Es handele sich nur um einen Einzel-Fall.

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