Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Verfassung vom Volk

Die türkische Verfassung soll reformiert werden - schon allein, weil es die Chancen auf einen EU-Beitritt erhöhen würde. Das Wort "Grundrechte" ist in der jetzigen nicht zu finden - und allein deshalb wünschen sich viele Bürger ein gänzlich neues Grundgesetz.

Von Gunnar Köhne, Istanbul | 27.12.2011
    "Ich möchte eine Verfassung, in der es keine Rolle spielt, ob ich Türke, Kurde, Alevit, religiös oder ungläubig bin."

    Landauf, landab finden in diesen Wochen in der Türkei ungewöhnliche Versammlungen statt. In Kinosälen, Schul-Aulas und in Gemeindezentren wird diskutiert: Wie soll die neue Verfassung des Landes aussehen? Auf dem Podium aber weit und breit kein Politiker oder Experte, sondern bloß ein Tisch und ein Mikrofon. Jeder Zuhörer kann nach vorne kommen und seine Meinung sagen. In der ostanatolischen Stadt Bitlis tritt eine junge Frau mit Kopftuch ans Mikrofon:

    "Ohne starke Beteiligung von Frauen kann eine bessere Verfassung nicht gelingen!"

    Mit dieser Bürgerbewegung sollen die laufenden Parlamentsberatungen für ein neues Grundgesetz unterstützt werden. "Plattform für eine neue Verfassung" nennt sich die Bewegung. Die Initiatoren – darunter Akademiker, Werbefachleute, Anwälte und Journalisten - haben bereits 31 solcher öffentlichen Hearings durchgeführt. Die Meinungen der Bürger werden gesammelt, geordnet und dann an das Parlament weitergeleitet. Die Mitinitiatorin und Menschenrechtlerin Ruken Calikusu ist begeistert:

    "Ich habe über dieses Thema oft mit Verfassungsjuristen und Politikern diskutiert – doch diese einfachen Bürger, viele sehr arm und nur mit geringer Bildung - gerade die konnten mit ihren einfachen Worten die Anforderungen an eine neue Verfassung viel besser formulieren als alle diese Akademiker! Oft in nur ein, zwei Sätzen! Das hat mich sehr gerührt."

    Regierungschef Tayyip Erdogan hatte nach seinem Wahlsieg im Juni dieses Jahres eine neue, demokratischere Verfassung versprochen. Bereits im vergangenen Herbst hatte er per Referendum erste Verfassungsänderungen durchgesetzt, die weitgehendsten das Militär betreffend. Unter bestimmten Voraussetzungen kann Offizieren nun vor zivilen Gerichten der Prozess gemacht werden, was bisher undenkbar war.

    Doch die Bürger wollen mehr – das zeigen die Anhörungen der Verfassungsinitiative. Mal wird die bevorzugte Förderung von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft vorgeschlagen. Mal eine Senkung der Zehnprozenthürde im Wahlgesetz und die Aufhebung des politischen Betätigungsverbots für Beamte. Vertreter von Minderheiten wie den Kurden verlangen zudem, den Begriff "türkische Nation" durch die neutrale Wendung "Bürger der türkischen Republik" zu ersetzen. Eine Bürgerin des Ferienortes Bodrum schlägt sogar einen föderativen Staat vor:

    "Ich schlage sieben autonome Regionen vor, die über ihre Einnahmen und die Art der Verwaltung selbst entscheiden dürfen."

    Einige Gläubige haben in den Versammlungen eine Aufhebung des Kopftuchverbots im öffentlichen Dienst gefordert. Doch radikale Forderungen wie eine Einführung der Scharia blieben aus. Vernunft und Maß hätten die Diskussionen geprägt, berichtet Ruken Calikusu. Der Druck von unten sei inzwischen auch bei den Verantwortlichen angekommen:

    "Wir sind vollkommen parteiunabhängig. Aber wir stehen in Kontakt mit den Parteien. Nicht alle stehen unseren Ideen offen gegenüber, die Rechtsnationalen wollen gar nicht mit uns reden. Aber die Regierungspartei AKP, die ja die Mehrheit im Parlament besitzt, hat unsere Herangehensweise akzeptiert."

    Im Frühjahr will die Verfassungskommission des Parlaments einen ersten Entwurf für eine neue Verfassung vorlegen. Bis dahin sollen die öffentlichen Anhörungen weitergehen. Und die Initiatoren schließen nicht aus, Volkes Stimme zukünftig auch bei anderen brisanten politischen Themen, auf diese Weise Gehör zu verschaffen. Denn es gehe letzten Endes nicht nur um eine neue Verfassung, sondern um ein völlig neues Verhältnis zwischen Bürgern und Staat in der Türkei.

    Wir wollen, sagt ein Angestellter in der Stadt Erzurum, Gerechtigkeit und Gleichheit in Theorie und Praxis. Wir wollen eine Verfassung, die von uns - und nicht von denen da oben geschrieben wird.